In der Achtelfinal-Runde der WM ist der Kampf der Fifa gegen Fan-Fahnen zu einem Kampf gegen die Fans insgesamt geworden
Halle/MZ. Als sie die Hymnen spielten im Estadio Beira-Rio, war die Fußballwelt noch halbwegs in Ordnung. Die Fans der deutschen Mannschaft freuten sich auf ein spannendes Spiel, an die Zäune im Stadion an den Ausläufern des Rio Guiba hatten sie wie immer zahlreiche Fahnen gehängt – ein Gruß in die Heimat, eine Botschaft an die Mannschaft von Trainer Jogi Löw: Wir sind hier, wir stehen hinter Euch, wir drücken Euch die Daumen. Unter den Fahnenträgern, die sich selbst die „Fahnenmafia“ nennen, sind mit Steffen Melzer und Tobias Möhring auch zwei ehemalige Hallenser, die seit Ende der 90er Jahre kaum ein Spiel der deutschen Nationalelf verpasst haben. Die Fans zuhause konnten die große Reise der beiden Allesfahrer stets verfolgen, denn die Fahne mit dem Aufdruck „Halle/S.“ war in jedem Spiel irgendwo zu sehen.
Dann begannen die Hymnen, die Kameras der zentralen Fifa-Regie fuhren die Reihen der Spieler ab. Und im Hintergrund, dort, wo niemand außerhalb des Stadions hinsehen konnte, begannen Trupps von Ordnern, die Fanfahnen abzuhängen. Beim Kurznachrichtenportal Twitter empörten sich die ersten Zuschauer unter dem Hashtag #GERALG. Tobi S. twitterte „im Hintergrund hängen die Ordner während den Hymnen die Zaunfahnen ab“, der Hertha-Fans BroetchenBond @BBond030 ätzte: „Unfassbar, wie die Ordner angeschissen kommen, um die Zaunfahnen abzuhängen - pro Fankultur - #FIFA shame on you“. In einer speziell der Halle/S.-Fahne gewidmeten Facebook-Gruppe facebook.com/groups/Hallefahne/ notiert Jens Vogt „Fahnen werden schon wieder entfernt“ und Marcel Scharnow kommentiert: „Einfach nur peinlich die Fifa“.
Bereits bei den letzten Spielen der deutschen Mannschaft hatte es harte Auseinandersetzungen um die vor allem bei Deutschen, Argentiniern, Engländern und Spaniern beliebte Tradition der Zaunfahnen gegeben. Ordner und Militärangehörige gingen gegen den seit Jahrzehnten geduldeten Brauch vor. Fahnen mussten abgehängt werden, später im Spiel waren sie nur gelegentlich zu sehen, wenn die Fahnenträger sie per Hand ins Bild hielten.
Fans vermuteten damals schon, dass die Organisatoren der Fifa Angst davor haben, dass die Plakate der sogenannten „Fahnenmafia“ die Sicht auf die Werbebanden der zahlenden Sponsoren beeinträchtigen oder doch zumindest von ihnen ablenken. Der Fußball-Weltverband aber dementierte, nachdem auch der Deutsche Fußballbund das Vorgehen gegen seine Anhänger offiziell kritisiert hatte: DFB-Generalsekretär Helmut Sandrock beschwerte sich mit einem Schreiben bei der Fifa. „Tausende deutscher Fans nehmen große Strapazen auf sich, um unsere Mannschaft bei diesem Turnier zu unterstützen. Wir wünschen uns, dass sie im Rahmen der geltenden Regeln möglichst viele Freiheiten bekommen, um ihre friedlichen und stimmungsvollen Aktionen in den Stadien zeigen zu können.“
Danach ruderte die Fifa zurück, wenigstens verbal. Das Vorgehen habe auf einem "Fehler der lokalen Organisatoren" beruht, schuld sei eine "Fehlinterpretation" der Ordner gewesen, die geglaubt hätten, dass die Transparente die zulässige Größe überschritten hätten. Dies sei aber nicht der Fall gewesen. Die Fifa versicherte, dass die Fahnen aus Halle, Großblie, Spenge und zahlreichen anderen deutschen Orten in den nächsten Spielen wieder hängen dürften.
Die Bilder, Tweets und Facebook-Statuseinträge aus dem Estadio Beira-Rio aber straften die offiziellen Erklärungen Lügen. Zuschauer zu Hause bekamen die Abhängaktion meist nicht mit, wunderten sich aber wie der Twitternutzer Amateurefan @NaptoFCB über „traurige und trostlose“ Tribünen sind. „Die @fifacom_de hat scheinbar sämtliche Zaunfahnen verboten“, folgerte der Fan.
Während die deutsche Mannschaft unten auf dem Rasen um das sportliche Überleben im Wettbewerb kämpfte, starb oben auf den Rängen eine „Insignie lebendiger Fankultur“, wie es das Fußballmagazin „11Freunde“ nennt. Die traditionellen Fan-Banner würden unter Protest der Anhänger zunehmend aus den Stadien verbannt, analysiert das Fachblatt in einem Nachruf, die „eine beeindruckende Farbenpracht und Vielfalt auf den Rängen“ weicht damit der Tristesse der amtlichen blauen Banden, die flankiert werden von den Werbebotschaften einer Handvoll Großsponsoren.
Ein bezeichnender Akt, denn mit dem Turnier in Brasilien erreicht der Kampf des Fußball-Weltverbandes gegen die wahren Anhänger des Sport eine neue Dimension. Als übersetze die Führungsgruppe um Fifa-Präsident Sepp Blatter das eigene Motto „All in one Rhythm“ mit „alles im Gleichschritt“, sorgte die Organisation dafür, dass die authentische Fußball-Atmosphäre früherer Weltmeisterschaften der eines Reinstraumes ohne störende Nebengeräusche. Kaum ein Spiel wird noch von echten Fangesängen begleitet, die La Ola-Welle hat die authentischen Fanchöre ersetzt, es gibt keine Fan-Choreografien mehr und statt Leidenschaft regiert die Regie einer hochtechnisierten Inszenierung, bei der störende Flitzer für die Fernsehzuschauer in aller Welt von einer zentralen Regie bei Bedarf einfach ausradiert werden, als habe es sie nie gegeben.
Der Riesenkonzern Fifa handelt mit dem Weltturnier wie mit einem Produkt, er beutet sein Monopol auf die beliebteste Sportart der Welt aus, ohne dabei von Kartellbehörden oder Wettbewerbshütern behelligt zu werden. Gewinnmaximierung ist das Ziel, dafür verzichtet Weltverbandschef Blatter sogar auf das, was Fußball größer gemacht hat als alle anderen Sportarten: Das anarchische Moment, der unkontrollierbare Effekt, wenn die Stimmung vom Platz auf die Ränge überschwappt oder die leidenschaftliche Anfeuerung der wahren Fans eines schon geschlagene Mannschaft dazu treibt, ein Spiel zu drehen.
In Brasilien muten die Ränge manchmal an wie eine tote Zone. Außer einem Geraune und ein wenig Getrommel, wenn afrikanische Mannschaften auf dem Platz stehen, kommt nicht viel Stimmung auf. Kein Wunder, sitzen doch auf den Tribünen nicht die Menschen, die das Spiel am meisten lieben, sondern die, denen der Kartenkauf am wenigstens wehtut.
Eine Umfrage des brasilianischen Instituts Datafolha hat gezeigt, dass die Stadionbesucher bei der WM überdurchschnittlich reich und überdurchschnittlich weiß sind, die Bevölkerungsgruppe mit einem Monatseinkommen zwischen 500 und 2000 Dollar stellt zwar fast 50 Prozent der Gesamtbevölkerung, ist aber nur mit neun Prozent unter den Stadionbesuchern vertreten. Es sind Menschen, das wird bei jeder Nahaufnahme des Publikums deutlich, die im Stadion vor allem unterhalten werden wollen: Ihre Vorstellung von Fußball-Fantum ist es, sich wie ein Clown bunt anzumalen, groteske Brillen zu tragen und das aktuelle Mannschaftstrikot anzuziehen. Sie jubeln am lautesten, sobald sie ihr eigenes Bild auf der großen Stadionleinwand entdecken – selbst wenn ihre eigene Mannschaft zurückliegt.
Die Fifa hat schon vor ihrem harschen Vorgehen gegen die Zaunfahnen alles getan, dem Fußball seine ursprüngliche Unkalkulierbarkeit zu nehmen. Mit hohen Eintrittspreise - Brasilianer zahlten für das Achtelfinalspiel gegen Chile bis zu 200 Dollar pro Ticket – und strengen Benimm-Regeln, mit Verboten und Auflagen. Die gehen bis zur absurden Forderung, dass die beteiligten Fußballspielern ihre eigenen Kopfhörer einer beliebten In-Marke nicht benutzen dürfen, weil ein großer Elektronikhersteller, der ein Konkurrenzprodukt herstellt, Werbepartner des Turniers ist. Öffentlich weißt die Fifa Kritik zurück. So seien in Brasilien günstigste Eintrittskarten für nur 25 Dollar werden an Studenten, Senioren und Wohlfahrtsempfänger verkauft worden, hieß es stolz. Pro Partie waren es etwa 3000, in Stadien, die das Zehn- oder gar Zwanzigfache fassen.
Die Zaunfahnen sind so nur das jüngste Opfer einer seit Jahren andauernden Eventisierung des Fußballspiels. Die Fifa zielt auf noch mehr Hochglanz, noch mehr Oberfläche, die sich für noch mehr Vermarktung eignet. Auf der Strecke bleibt dabei die Seele des Spiels – was den Fans inzwischen auch nicht mehr entgeht: „Zaunfahnen würden dem Deutschen Spiel jetzt gut tun“, twitterte @ISDT kurz vor Ende des deutschen Spiel gegen Algerien. Zwei einsame hingen da wieder, ganz oben im obersten Oberrang.
Dort, wo sie niemand sehen konnte.
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