Montag, 3. Oktober 2016

Deutsche Einheit: Vergangenheit im Fleischerhemd


Einmal haben wir über die kleinen Atomkraftwerke gesprochen. Diese unendlich hässlichen Dinger, die in jeder Kneipe auf jedem Tisch standen, damals, als wir noch Kinder waren. Links Salz, rechts Pfeffer. Und in der Mitte unter einer bunten Plastekuppel etwas grün-grau Vertrocknetes, das einmal Senf gewesen war.

Komischerweise erinnerten wir uns alle an das drollige Löffelchen, das unter der Haube im hartgetrockneten Mostrich stak. "Das war der Spatel", sagte einer, und wir wussten noch, dass stets mindestens eine Zigarettenkippe genau da steckte, wo beim echten Atommeiler die Brennstäbe sind.

Wir haben daraufhin fast so laut gebrüllt vor Lachen wie dieses andere Mal, als wir uns über die Turnschuhe unserer Kindheit unterhalten haben, die "Botas" hießen und "Germina", in einem Laden verkauft wurden, der sich "Schnees" nannte, und die mit den Turnschuhen von heute soviel Ähnlichkeit hatten wie unsere farbechten Boxer-Hosen mit richtigen Jeans.

Zugegeben, es war Sonntagabend, wir saßen beim Bier und lachten vielleicht nicht nur, weil es komisch war, über Sachen zu reden, die längst vergessen gehört hätten. Aber gelacht haben wir. Gelacht über Einkaufsnetze von unglaublicher Dehnbarkeit. Über blau-weiß gestreifte Baumwollblusen, die aus Buna stammten, aus unerfindlichen Gründen jedoch "Fleischerhemden" genannt wurden. Gelacht auch über Handbewegungen wie die, mit der wir Bierflaschen aus dem Kasten nahmen, sie herumdrehten und schräg gegen das Licht hielten, um nach dem Anteil an Schwebteilchen die Wahrscheinlichkeit dauernder Gesundheitsschäden nach dem Genuss abzuschätzen. Oder den routinierten Griff, der den Plastik-Milchbeutel an einem Zipfel aus der Kiste hob und gemessen abtropfen ließ, um zu sehen, wie viele Lecks er wohl heute wieder habe.

Genauso gelacht haben wir früher, als wir uns in einer anderen Kaschemme treffen mussten, weil es die Kellnerschaft dort nicht so genau nahm mit dem Jugendschutz. Der Spaß damals war: Die Kneipe lag direkt gegenüber dem Hauptquartier der Staatssicherheit, und nicht nur der Brotfahrer, der für die MfS-Küche unterwegs war, trank am Nebentisch sein Feierabendbier, während wir uns amüsierten, wie seltsam das Land war, in das es uns verschlagen hatte.

So ist das gewesen in der Neubausiedlung, in der wir groß geworden sind. Es war grau und es war grässlich und wir hatten jede Menge Spaß. Es gab das Jahr, in dem alle AC/DC hörten. Dann kam der recht bizarre NVA-Jacken-Boom. Und schließlich begann die Zeit, in der jeder Gitarre spielen lernte und im Sommer nach Ungarn fuhr, um in Indien gepresste Platten von Queen und Levis-Jeans zu kaufen.

Eine Jugend in Deutschland, auch wenn die Gegend für den Moment anders hieß.  Einmal haben wir in einem seltsamen Anflug von Humor "Proletarier aller Länder, reinigt Euch!" riesengroß an eine Wand gesprüht, ein andermal den Durchgang an der Schule, in dem wir in der Pause unsere kratzigen "Karo" rauchten, mit flattrigen Fettstiftzeichnungen des Sängers Sting verziert. Es war eine Jugend in einem Land, das man Leuten, die nicht dort gelebt haben, nicht erklären kann.

Wir sind nie erwischt worden. Wir sind die glückliche Generation. Wir haben auch nicht wirklich in der DDR gelebt wie unsere Eltern. Wir hielten uns dort auf, ja, schon, natürlich. Allerdings waren wir in Gedanken bei der Hessenhitparade mit Werner Reinke, Udo Lindenberg war unser Held, Freddie Mercury eine Lichtgestalt und alle unsere Träume handelten von Mädchen und Musik, nicht von Mangelwirtschaft.

Daheim waren wir nicht in den Wohnblöcken, sondern auf den Bänken dahinter. Wir hätten immer noch weggehen können, wenn es eines Tages wirklich zu blöd geworden wäre.

Nicht einmal das mussten wir. Der Fettstift-Sting war noch nicht ganz verblasst, da war die DDR verschwunden. Einer ist dann nach Frankreich gezogen, eine nach England, eine nach Argentinien, ein anderer nach Bangkok. Ein paar wohnen heute im Westen, ein paar in Berlin und einer will in die Türkei auswandern.

Je größer die Welt wird, desto kleiner ist das Stückchen, das wir Zuhause nennen können. Durch Halle-Neustadt fahren wir mittlerweile selten, außer einem von damals wohnt dort auch keiner mehr. Ein paar von den anderen sieht man manchmal in der Kneipe oder bei Partys.

Die übrigen kommen hin und wieder zu Besuch in der Vergangenheit.

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