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Sonntag, 19. Mai 2024

Fall der letzten Maske: Abschied vom Ausnahmezustand

Die OP-Maske, die auf der Peißnitzinsel in einem Baum hing, hat sich vor wenigen Tagen verabschiedet.


Es ist vier Jahre her, dass die Welt sich von einem Tag auf den anderen veränderte. von einem Tag auf den anderen veränderte. Überall herrschte Maskenpflicht, Menschen verschwanden unter Schutzausrüstungen, ein kollektiver Gesichtsverlust trat ein. Damals, als die ersten Vorschrift zur sogenannten Gesichtsbedeckung den Blick der Deutschen auf sich selbst für immer veränderten, sollten alle diese Masken tragen. Aber anfangs gab es keine zu kaufen.

Umso auffälliger war eine Maske, die ein Unbekannter an einen kleinen Baum in einem Park gehängt hatte. So niedrig, dass jeder sie sehen konnte. So hoch, dass niemand in der Lage war, sie herunterzuholen.

Vier Jahre hing sie im Baum, die Maske.
Die blassblaue Maske überstand den ersten Sommer der Pandemie und den ersten Winter überstand sie auch. Unbeschadet hing sie an einem Zweig, vom Wind gebeutelt und vom Sturm zerzaust, nassgeregnet und anschließend wieder von der Sonne getrocknet. Es kam der Frühling und der  nächste Sommer und sie war immer noch da, es kam der erste Ausnahmezustand namens "Lockdown" null und der zweite, die erste Impfkampagne und die mit den Boostern. Und sie baumelte weiter unerbittlich in ihrem Baum, als wollte sie alle verlachen, die vor lauter Angst und Unsicherheit und vor Hiobsbotschaften und Beruhigungsversuchen nicht mehr wussten, was sie nun glauben sollten und überhaupt noch konnten.

Die Maske war stabil, auch wenn sich alles rundherum änderte. Die Impfungen, die vor Ansteckungen schützten, taten das dann doch nicht, aber die Maske war noch da. Die neue Welle, die noch schlimmer werden würde, wie der Gesundheitsminister nicht müde wurde zu betonen, kam nicht. Doch die Maske war noch da. Corona wurde vom Sonderfall zum Alltag, wie die Maske, die ganz nah an einem beliebten Spazierweg hing. Und hing. Und hing. 


Vom Tag an, an dem der damalige deutsche Gesundheitsminister behauptete, dass „Mundschutz nicht notwendig ist, weil das Virus gar nicht über den Atem übertragbar ist“, bis zum Tag, an dem selbst im Freien Maske getragen werden musste, betrachtete sie die Veränderungen von höherer Position aus. Eine einfache OP-Maske, die auf dem Höhepunkt der Krise zwei Euro kostete - 100 Mal mehr als in gewöhnlichen Zeiten. Sie das alles durchgehalten. 

Der zweite Corona-Winter kam, der zweite Frühling, Sommer, Herbst und noch ein Winter. Als bleibe sie ewig jung, baumelte sie da oben, ein angeblich wirksames Viren-Abwehrmittel, das zum Denkmal einer verrückten Zeit wurde. Die Maske, im März 2020 auf den Baum geraten, hing dort noch im März vier Jahre später, etwas zerzaust, ein wenig fusselig, aber störrisch, als wollte sie ihren Platz nie mehr räumen.

Dann aber ist es doch passiert. Eines Tages war sie verschwunden, von einem kleinen Frühjahrssturm herabgeweht. Das Band war gerissen, der Mundschutz auf den Boden gefallen. Nach genau vier Jahren und zwei Monate, also 1520 Tagen, bestehend aus 217 Wochen, ist die Geschichte der letzten Maske vorbei.

Da liegt sie nun im Dreck.


Sonntag, 7. April 2024

Peter Sodann: Peter der Große


Er war Arbeiter, Theaterchef und Fernsehkommissar - noch mit 80 begann Peter Sodann in Sachsen mit dem Bau einer Bibliothek - und noch einem neuen Theater.


Morgens ist er immer mit dem Hund gegangen, jeden Morgen. Der Hund war ein Dackel, die Strecke immer ähnlich, die Aufgabe stets die gleiche. Peter Sodann, seit heute 80 Jahre alt, zog los, eine gute Tat zu vollbringen. "Ich mache meine Runde", sagte er, "und wo ich Müll liegen sehe, sammle ich ihn auf."

Sodann wusste natürlich, dass er belächelt wird. Die Gymnasiasten, die ihm entgegenkamen, schüttelten die Köpfe über den älteren Herren, der ihnen den Dreck nachräumte. Peter Sodann ist es egal gewesen. Er tue das ja nicht für die anderen, auch wenn er beharrlich hoffe, sein Beispiel werde irgendwann irgendetwas bewirken. Er tue das für sich, sagt er. "Ich fühle mich danach einfach besser."

Einsatz für sich selbst


Um anderes ist es nie gegangen in der langen, bunten Laufbahn von Halles größtem Prominenten. Sodann, im sächsischen Meißen geboren und früh mit dem DDR-Staat aneinandergeraten, hat schon bald nach Studium, Haft und Parteiausschluss begonnen, die eigene Nase als Kompass zu verwenden.


 Mit dem neuen theater in Halle, das er zusammen mit seinen Schauspielern aus einem alten Kino zimmerte, schuf sich der damals 45-Jährige ein richtiges Leben im falschen Sozialismus. Eine Insel, die Sodann auch so nannte: "Kulturinsel". Hier war er Herz und Seele, Motor und Steuermann, ein Impresario, der die Rollen als Pastor, Manager und Betreuer parallel spielen durfte.

Die gewitterhimmelblauen Augen werden heute noch eine Spur dunkler, wenn Sodann über seinen Abschied aus dem Haus spricht, das am Ende wie sein größerer Körper war. Rausgekantet hat er sich gefühlt, auf Grund gelaufen im Flachwasser der Kulturprovinz, in der ihm Stadtobere übel nahmen, dass er es war, der bei gemeinsamen Rundgängen durch die Straßen alle naselang gegrüßt wurde. "So klein ist manchmal das Denken", lächelte Peter Sodann, ehe er dem nächsten Passanten zunickte.

Ein Sachse in Halle


Er ist hier an der Saale, das sagt er freimütig, heimisch geworden. Aber kein Hallenser. Sodann, dem gelernten Werkzeugmacher aus Weinböhla, der an der Werkbank immer auf einem Fußbänkchen stand, eignet noch immer das sächsisch-verbindliche, die weiche, wortreiche Art des Mannes, dem Fremde im Zug einfach so ihr Leben erzählen und der seine eigenen Geschichten auch selbst gern hört. Vom Hundertsten ins Tausendste plaudert er sich da, sprudelt Gedichte und Lieder, große Namen, Loest, Weigel, Blüm, Geissler. Dazu Texte aus alten Rollen und philosophische Gedanken über die Welt und den Menschen, die Gesellschaft und die Geschichte.


Kein einfacher Mann war er, dieser Sodann. Schlägt Haken. Weicht aus. Provoziert. Verwirrt Feind, Freund und zuweilen sogar sich selbst. So hatte er einmal seine Bundestagskandidatur für die PDS angekündigt. Sie dann aber zurückgezogen, weil der MDR drohte, ihm seine geliebte Rolle als Tatort-Kommissar fortzunehmen, bei der er es geschafft hatte, den Fernsehfahnder nach seinem eigenen Ebenbild zu formen. Später trat er bei der Wahl zum Bundespräsidenten an. Erschreckte die Partei, die ihn nominiert hatte, aber gleich mit der Ansage, dass er den Chef der Deutschen Bank ja doch am liebsten verhaften würde.

Im Schlagzeilenorkan


Peter Sodann schmunzelte dann. Diese "Dinger", wie er sie nannte, die passierten ihm nicht so einfach, die baldowerte er vorher aus. Dann sagte er, dass es in Deutschland keine Demokratie gibt. Oder eben, dass er Herrn Ackermann verhaften möchte. Kann sein, dass ein Schlagzeilenorkan ihm für ein paar Minuten die Luft nimmt. Kann sein, dass man Freunde verliert. Sodann zuckt die Achseln. "Aber von denen hat man am Ende sowieso nur ein paar."


Es ist wie mit dem Papier aufheben und mit dem Müll sammeln. Das ist sein Peter-Prinzip: Er muss das nicht tun, aber er tut es gern. Er weiß, er fühlt sich besser danach. "Wohltun, wo man kann", sagt Sodann, "Freiheit über alles lieben und Wahrheit auch sogar vorm Throne nicht verleugnen." Den Spruch hat er zu Haus an der Wand hängen, noch nicht mal so ganz lange. "Aber das war auch schon vorher genau das, was ich leben wollte", sagte er.

Es ist ein Leben inmitten von Klassikersprüchen, tapeziert mit Zitaten, Gedichten, uralten Liedzeilen, das Peter Sodann führt. Schon zu DDR-Zeiten hat er an "der Dummheit der Herrschenden" gelitten, wie er sagt. Damals aber konnte er sich noch zurückziehen in das kleine, grenzenlose Theater in der eng umgrenzten Republik. Heute muss das Land die Bühne sein, auf der er für Gerechtigkeit und eine bessere Welt streitet, ohne direkt sagen zu können, wie die sein müsste. Klar, gerechter. Ohne Arm und Reich. Und ohne Dummheit am besten. Gegen die habe sein Theater ja immer angespielt.

Der "betende Kommunist"


Mit Zitaten kittet Sodann zusammen, was nicht zusammen geht: Einen betenden Kommunisten nennt er sich dann und er ist "im Nachhinein nicht böse, dass ich zu DDR-Zeiten eingesperrt war". Das habe ihm Gelegenheit verschafft, über sich und die Welt nachzudenken. Weggehen in den Westen? Nie ein Gedanke. "Ein Arzt verlässt seine Patienten nicht." Lange hat er sein Helfersyndrom an einen drogensüchtigen Jungen ausprobiert. Lars, blond, kindlich und zumindest optisch unschuldig, bekam von Sodann Essen und einen Job und Geld, das ihm stets mit der Ermahnung "aber nicht für Drogen" übergeben wurde. Lars hat seinen Beschützer immer wieder enttäuscht. Aber Peter Sodann gab nicht auf.


Es gehe ja gar nicht um das große Ganze. Es geht um den Einzelnen, rief Peter Sodann und die Blauaugen blitzten. Während seine Frau immer mal sage, er solle ein bisschen ruhiger machen, auch mal was auslassen, ziehe es ihn immer weiter. "Ich bin immer gefragt worden", beschrieb er, "willst Du in den Kindergarten, willst Du Werkzeugmacher lernen, willst Du Theaterchef werden, willst Du als Präsident kandidieren." Warum nicht, habe er jedes Mal gedacht. Was auch immer passiert, dümmer werde man nicht davon.


Das Leben ein Experiment


Das Leben ein Experiment, das immer wunderbar beginnt und öfter mal im Zwist endet. Peter Sodann weiß Bescheid. "Das erste Mal haben sie mich ja schon im Kindergarten rausgeschmissen."
Kein Grund, sich nicht immer wieder auf Dinge und Leute einzulassen. Peter bleibt bei seinem Prinzip. Hat er seinem neuen theater nach der Wende eine Bibliothek der bedrohten DDR-Bücher bauen wollen, so baut er seiner Bibliothek, die jetzt im sächsischen Staucha entsteht, nun ein Theater. 


Es sei so viel Platz da, schwärmte Peter Sodann, genug für Leseräume, Studierzimmer, eine Kneipe und vielleicht sogar für einen Golfplatz für die Armen. "Ich träume gern", sagte Peter Sodann, "träumen ist ja auch nicht gefährlich." Das Elternhaus in Meißen hatte er eingetauscht gegen ein neues Heim gleich neben der Bibliothek. 

Peter Sodann geriet mit 80 noch ins Schwärmen angesichts der Aussichten, die sich ihm boten. 

Ja, wenn alles fertig sein würde, wäre es fast wieder wie auf einer Insel.

Jetzt ist Peter Sodann mit 87 Jahren gestorben.

Zur Peter-Sodann-Bibliothek


Sonntag, 24. März 2024

Ende einer Ära: Die Geburt eines Zukunftsortes

Es ist nur selten möglich, einen Lost Place wirklich beim Entstehen beobachten zu können. Meist werden die Gebäude, aus denen sich der Mensch zurückzieht, eher unbemerkt aufgegeben. Fabriken geben auf, Labors oder Schulen, Kasernen und Kirchen schließen ihre Pforten, ohne dass es jemand bemerkt. 

Doch in Deutschland gab es nun schon zum zweiten Mal die Gelegenheit, einen großen Konzern beim Sterben zuzuschauen die letzten Tage seiner viele Jahrzehnte währenden Existenz direkt vor Ort mitzuerleben.
Nach dem langsamen Sterben der letzten und größten deutschen Kaufhauskette Kaufhof war es diesmal der Einzelhandelsriese Real, der seine Pforten mit Ansage schloss. Die gewaltigen Verkaufshallen leerten sich langsam, dann immer schneller. Die Regale gähnten ohne Waren, die Reste des Bestandes gingen aus Kisten und Boxen in den Verkauf, aber meist immer noch zu stolzen Preisen. 

Die Bilder, die am Ende einer ganzen Ära entstanden, erzählen vom leisen Tod eines Unternehmens, das über viele Jahre hinweg stets zur falschen Zeit das falsche tat, das aber mit einem untrüglichen Gefühl fütr den richtigen Moment. Für nachwachsende Generationen bleiben noch ein paar stadiongroße Hallen mehr, vielleicht dann bald für eine Cannabis-Zucht oder als bloße, aber sehr stabile Träger für die Paneele eines neuen Solarparks.


Sonntag, 14. November 2021

Reise nach Sundevit: Stolpern durch die Sturmflut


Es ist das 30. Jahr nach der Wiedervereinigung, als uns ein bizarrer Plan einfällt: Seit Jahren hatten wir vor, auf dem Kolonnenweg an der ehemaligen Grenze zwischen den beiden deutschen Staaten entlangzuwandern. Dieser sogenannte Kolonnenweg ist insgesamt 1.400 Kilometer lang, eine zweispurige Linie längs durchs Land. Dort suchen wir nach dem, was übriggeblieben ist nach drei Jahrzehnten Einheit, danach, was die Natur uns aus der Vergangenheit erzählt und was die Menschen über die Vergangenheit, die Gegenwart und die Zukunft sagen.

Die Ostsee im Sonnenschein ist immer ein schöner Anblick, noch schöner aber ist er, wenn man weiß, dass man seinen elend schweren Rucksack bald zum letzten Mal abwerfen kann. Und dann erstmal nicht mehr aufbuckeln muss.   Bis dahin sind es noch ein paar Schritte, immer am Ufer entlang, denn auch am letzten Abend wollen wir am Strand zelten. Dafür ist diese Gegend ideal, denn außer Sand und Meer und Wind und ein paar wenigen Spaziergängern und Strandbesuchern, gibt es hier ja nichts. 


Oder doch, Überraschung: Auf einmal taucht ein Kiosk auf, der auf keiner Karte eingezeichnet ist! Das ist für uns wie ein Zeichen, dass wir hier in der Nähe der "Strandnixe" bleiben sollen. Einige andere haben sich das auch gedacht und einen naheliegenden Parkplatz zum halblegalen Campingplatz für ihre Wohnmobile umfunktioniert.  

Wir essen ein Fischbrötchen, packen ein paar Bier ein und gehen zum Strand hinunter, um einen Platz für unser Zelt zu suchen. Der Sandstreifen ist hier nicht sehr breit, die Steilküste dahinter dafür aber sicher fünfzehn Meter hoch. Es gibt nur einen einzigen Weg hinunter - der Grund dafür, das ahnen wir aber noch nicht, dass unsere ganze Wandertour in der nächsten Nacht beinahe noch in einer Katastrophe endet.   Aber das passiert erst ein paar Stunden später, erstmal freuen wir uns über die schönste Zeltnische aller Zeiten, versteckt hinter ein paar alten Bäumen und sogar mit Sitzmöglichkeiten und einem alten Baumstamm, der wie ein Tisch aussieht.


Verwundert merken wir am Nachmittag, dass die Ostsee wohl doch so etwas wie Flut kennt: Der Strand, auf dem wir eine Decke ausgebreitet haben, wird immer schmaler, das Wasser rückt uns immer näher. Doch bis zum Zelt sind es noch mindestens fünf Meter und obwohl der Wind immer mehr auffrischt und die Wellen höher werden, wird der Zeltplatz sicherlich trocken bleiben, da bin ich sehr sicher. Nur gegen den Wind wollen wir etwas tun, weil der erfahrungsgemäß im Zelt immer klingt wie ein Orkan, der gleich alles wegfegen wird. Wir spannen also eine Plane als Windschutz auf. Sofort wird es still. 

 Bis es mitten in der Nacht mächtig kracht. Die Plane hat sich losgerissen - und während ich versuche, sie festzubinden, stelle ich fest, dass vom Strand fast nichts mehr übrig ist. Drei Meter unterhalb der Zeltleine steht das Meer, kurze Zeit später ist es schon auf zwei Meter herangerückt. Nach hinten können wir nicht, das ist die Steilküste. Und zur Seite geht nur noch vielleicht, denn auf den 600 Metern bis zum Aufgang ist der Strand an den meisten Stellen nicht halb so breit wie hier. 


Es ist drei Uhr früh, als wir hastig alles zusammenpacken, Stirnlampen aufschnallen und flüchten. Nur die ersten paar Meter trockenen Fußes. Dann erwischt uns die erste Welle dessen, was der Wetterbericht am nächsten Tag eine Sturmflut nennen wird.   Es ist stockdunkel, man sieht die vielen gefallenen Bäume nicht und der steinige Untergrund macht das Gehen zu einer gefährlichen Sache. Dann endlich haben wir es geschafft. 


Nass, aber glücklich kommen wir an der Treppe nach oben an, die - das bemerken wir erst jetzt - auf ein Stück Weg führt, dessen Musterung uns sehr bekannt vorkommt. Es ist das letzte Stückchen Kolonnenweg aus Betonkeksen aus dem kalten Krieg.  

Dahinter liegt eine kleine Wiese, auf die wir unser Zelt stellen. Am nächsten Morgen weckt uns die Sonne, die auch dringend gebraucht wird, um all die nassen Sachen zu trocknen. Unsere Wanderstiefel schafft sie nicht, die bleiben noch eine ganze Woche nass - wie als Erinnerung an eine unvergessliche Wandertour.

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Samstag, 5. Juni 2021

Vergessene Pfade: Wandern auf dem Mond


Es ist das 30. Jahr nach der Wiedervereinigung, als uns ein bizarrer Plan einfällt: Seit Jahren hatten wir vor, auf dem Kolonnenweg an der ehemaligen Grenze zwischen den beiden deutschen Staaten entlangzuwandern. Dieser sogenannte Kolonnenweg ist insgesamt 1.400 Kilometer lang, eine zweispurige Linie längs durchs Land.


Dort suchen wir nach dem, was übriggeblieben ist nach drei Jahrzehnten Einheit, danach, was die Natur uns aus der Vergangenheit erzählt und was die Menschen über die Vergangenheit, die Gegenwart und die Zukunft sagen.

Entlang des Kuhlrader Moores wandern wir auf vergessenen Wegen durch ehemalige Sperrgebiete. Noch eine Zone, aus der die Bewohner mit Gewalt und Drohungen vertrieben wurden, um die Grenze sicher zu machen. Wir laufen stundenlang und sehen keinen einzigen Menschen. Die 15 Kilometer nach Carlow, einem kleinen Dorf mit einer Kirche und einer winzigen Kneipe, wo wir hoffen, frisches Wasser zu bekommen, bestehen nur aus verwitterten Feldwegen und Maisfeldern. 


Die Einheimischen, die wir nicht sehen können, scheinen aber kluge Leute zu sein: Sie bremsen den gelegentlich wohl scharfen Westwind aus, indem sie Haselnusshecken entlang der Felder pflanzen, so dass wir unseren Weg wie in einem endlosen grünen Tunnel gehen.   Das ist schön, aber als wir Carlow erreichen, lösen sich alle unsere Hoffnungen in Wohlgefallen auf. Der Carlower Hof, das Gasthaus, in dem wir hofften, etwas zu essen und etwas zu trinken zu finden, ist geschlossen. Nicht wegen Corona und der Pandemie, nein. Der Wirt hat offenbar den Preis für den Niedergang der Grenzregion bezahlt. "Geschlossen seit Juli 2019" steht auf einem Schild im staubigen Fenster. 


Es ist gerade wieder ein sehr heißer Tag und unsere Wasserflaschen sind so leer wie die Straßen des Dorfes. Wir versuchen es in den halbwegs bewohnt wirkenden Häusern. Und wirklich - eine freundliche junge Frau hat Mitleid mit uns und füllt unsere Flaschen.   Aber die Probleme sind damit nicht am Ende. Wie immer hatten wir eigentlich geplant, abends außerhalb der Stadt nach einer schönen Wiese zu suchen, um unser Zelt aufzubauen. Aber hinter Carlow gibt es keinen solchen Ort. 


Wir gehen Kilometer für Kilometer, überall sind nur Pferde- oder Schafweiden hinter Zäunen, Maisfelder, die die Haselnusshecke erreichen, oder Waldstreifen mit dichtem Unterholz. Wir brauchen eigentlich nur ein paar Meter Platz, aber nicht einmal das existiert hier.   Wir sind verzweifelt, denn selbst die Wiese an einer alten Mühle, den wir auf der Karte gesehen hatten, entpuppt sich als Garten einer alten Frau, die hier ganz allein im Wald lebt. Sie schaut ängstlich über den Zaun, also stiefeln wir lieber schnell vorbei.


Erst ein paar weitere Kilometer weiter stranden wir in einem dunklen Wald, aus dem im Abendlicht eine kleine Lichtung unter einem alten Baum leuchtet. In der Nähe zerfällt eine Ruine, wie es scheint, einst ein Zollhaus, aber das ist alles. Keine anderen Häuser in Reichweite, keine Straßen, keine Nachbarn. Doch gerade als wir unsere köstliche Tomatensuppe mit frischem Carlow-Wasser kochen wollen, bellt ein Hund und Peter und seine Freundin Gabriele stehen vor unserem nicht ganz so legalen Campingplatz. 

Im ersten Moment befürchten wir, dass sie uns ihrem Dorf-Sheriff melden könnten, weil wir illegal campen. Aber die beiden sind sehr freundlich und freuen sich sogar ein wenig, zwei Wanderer zu treffen. "Hier ist nichts los", sagt Peter, "es gibt keine Kneipe und überhaupt nichts."   Wenn man hier etwas erleben wolle, müsse man mit seinem Hund rausgehen. "Aber normalerweise gibt es hier draußen auch nichts Besonderes." Wir sprechen über den Niedergang von fast allem von der Sekunde an, als alle glaubten, dass nach dem Ende der kommunistischen Ära endlich alles besser werden würde. Ist es besser? Ja, Peter schwört es. Aber gut? Nein, nein. Nicht einmal fast.


Je später am Abend, desto besser schmecken zumindest unsere privaten Wandercocktails. Dabei handelt es sich um eine hochgesunde Mischung aus Carlow-Wasser, Absolut-Wodka und Vitamintabletten mit Grapefruitgeschmack. Das ist zweifellos die beste Methode, ein geistiges Getränk dabeizuhaben, wenn das Gepäck mehr wiegt als man selbst.


Ein Viertel Literchen davon, und der warme Abend in der Einsamkeit zwischen dem kleinen Bach Maurine und dem Stover Mühlenbach ist noch mal doppelt so schön. Im Westen geht die Sonne unter, hinter dem Zelt weiden die Schafe und ein Himmel voller funkelnder Sterne hängt über uns. Prost! 
 

The first episode of our hike you can read here.This is the second one and here are thirdfour,fivesixseven, eightnine, ten11 and 12




Samstag, 17. April 2021

Zeitreise zu Fuß: Wo der Rost für immer schläft



Es ist das 30. Jahr nach der Wiedervereinigung, als uns ein bizarrer Plan einfällt: Seit Jahren hatten wir vor, auf dem Kolonnenweg an der ehemaligen Grenze zwischen den beiden deutschen Staaten entlangzuwandern. Dieser sogenannte Kolonnenweg ist insgesamt 1.400 Kilometer lang, eine zweispurige Linie längs durchs Land.


Dort suchen wir nach dem, was übriggeblieben ist nach drei Jahrzehnten Einheit, danach, was die Natur uns aus der Vergangenheit erzählt und was die Menschen über die Vergangenheit, die Gegenwart und die Zukunft sagen.


Der Eiserne Vorhang, in unserer Zeit eine unsichtbare Mauer zwischen Freunden, Familienangehörigen und Klassenkameraden, hat tiefe Spuren hinterlassen - nicht so sehr in der Landschaft, aber in den Köpfen.   Und in einer Kleingartenanlage in der kleinen Stadt Boizenburg, in die wir uns nach einmal Falschabbiegen verirrt haben. Hier gibt es viele Zäune zwischen den Gärten - und wer den Grenzweg wandert, erkennt in Sekundenschnelle, woher das Geflecht zwischen den Pfählen stammt: Es ist der gute alte Chrom-Nickel-Stahl aus Westdeutschland, der verhindert hat, dass die Ostdeutschen in den Westen stürmten.   


  Nichtrostender Stahl, beste Ware. Ja, ohne Zweifel der haltbarste Zaun, den man bekommen kann, aber sehr teuer, wie Jens uns sagt. Für einen Kilometer Zaun zahlte die DDR 120.000 Mark, der gesamte Zaun kostete sie mehr als 165 Millionen. Und nun ist es ein Gartenzaun in einer Anlage, in der die ehemaligen Boizenburger Werftarbeiter ihre viele Freizeit verbringen, weil sie alle ihre Arbeit verloren haben.   Boizenburg ist nicht mehr die Industriestadt des Kalten Krieges. Die ganze Industrie ist weg, die Werften sind geschlossen. Was seit der Auswanderung der Elbdeutschen und der Ansiedlung anderer Stämme hier ab dem 8. Jahrhundert immer und immer weiter gewachsen war, schrumpft seit Jahren. Mittlerweile liegt schwere Apathie über der Szenerie. Alte Männer und alte Frauen sind auf den Straßen unterwegs, eine heißt „Straße der Jugend“. Sie sehen zu, wie Geschäfte und Fabriken leerstehen, während eine goldene Sonne sich im Wasser der beiden Flüsse Elbe und Boize spiegelt.

     Bis in die 1970er Jahre befand sich auch Boizenburg im direkten Sperrgebiet entlang der innerdeutschen Grenze, nach 1990 war es wieder frei, jetzt hätte es richtig losgehen können. 30 Jahre später hat die Stadt trotzdem tausend Einwohner weniger als 1950. Wir verabschieden uns mit einem Stück knochentrockenem Kuchen vom Salzbäcker an der Bahnhofstraße. Wir müssen jetzt wieder auf den Kolonnenweg. Es sind ja nur noch 100 Kilometer bis zu den Stränden der Ostsee. 


  Im Norden von Zarrenthin, einer kleinen, aber schönen Touristenstadt am Schaalsees, in der wir zur Halbzeit der Tour in einem Edelhotel übernachtet haben, endet jede Zivilisation ziemlich abrupt. Die Stadt hat einige alte Kirchen, ein kleines Kloster und am See ein paar schicke Segelclubs. Abends marschieren Scharen von Touristen über den Puppenstubenmarktplatz.  


 Aber wenn nicht weit außerhalb stolpern wir wieder in ein echtes Outback. 20 Kilometer ist da niemand, kein Dorf, kein Wanderer, nichts. Mitten in Deutschland, einem der am dichtesten besiedelten Länder Europas. Der ehemalige Eiserne Vorhang ist weg, aber irgendwie ist er doch noch da. Denn die Grenze befand sich hier einst in der Mitte des schönen Sees. Der vollkommen unzugänglich ist: Wir planen ein kühles Bad - aber es ist einfach vollkommen unmöglich, irgendwo ans Ufer zu gelangen.     Kein Strand, keine Uferpromenade, nur Dschungel. Erst nach zwei Stunden finden wir endlich den einzigen winzigen Ort, an dem es zum Wasser geht. Leider passiert das, als die Wolken sich dunkel färben und ein kalter Sturmwind aufzieht. 

 

  Also gehen wir so trocken weiter, wie wir gekommen sind. Unser heutiges Ziel ist ein weiterer kleiner Ort namens Kneese, den wir nach fünf oder sechs Stunden erreichen wollen. Unterwegs kommen wir durch Dörfer wie Lassahn und Techin, die im Kalten Krieg natürlich auch ein schweres Schicksal hatten, denn direkt nach dem Weltkrieg beschlossen die Russen und Briten bei einem Treffen in einem kleinen Pub in Gadebusch auch hier, einige Teile ihrer Besatzungszonen auszutauschen. 


Seen, Wälder und schlechte Straßen machten es einfach schwer, die Dörfer in ihrer jeweiligen Zone zu erreichen. Warum also nicht tauschen? Der Kommandeur der britischen Rheinarmee, ein Generalmajor Colin Muir Barber, und der der Roten Armee, ein Generalmajor Nikolaj Lyaschenko, einigten sich bei einem Treff in der Kneipe kurzerhand auf den Austausch von Ländereien und Dörfern.  

 

  Die Menschen, die hier lebten, mussten die Rechnung bezahlen. Die mehr als 650 Jahre alte Grenze zwischen Lauenburg und Mecklenburg wurde am 13. November 1945 im Gadebuscher Restaurant "Goldener Löwe" neu gezogen. Es gab keine Diskussion. Die Leute wurden kurz darüber informiert, dass die Neuaufteilung "endgültig und irreversibel" wäre. Familien, die nicht bereit waren, auf der kommunistischen Seite der Grenze zu leben, hatten 48 Stunden Zeit, um ihre Häuser zu verlassen.Und so wurde gepackt und geladen, Getreide gedroschen und Vieh geschlachtet, Tag und Nacht. Alles musste dann über den Schaalsee transportiert werden, denn die Straßen rund um den See waren russisch besetzt. 

 

  Mit einer Fähre, einem Amphibienauto der Briten und Fischerbooten wurden 309 Pferde und Fohlen, 1.130 Rinder, Schafe und Schweine, landwirtschaftliche Maschinen und Geräte, Getreide- und Tierfutter, Kartoffeln, Rüben und andere Lebensmittel, Möbel, Einrichtungsgegenstände und andere große Gegenstände wegtransportiert. 209 von 238 Einwohnern von Techin verließen ihre Heimat, nur 29 blieben zu Hause.   75 Jahre später wirkt das Gebiet immer noch gähnend leer. Aber immerhin, so sagt ein Schild, gibt es hier eine Feenschule!   Nach einem gewaltigen Marsch, wieder viel länger als gedacht, erreichen wir Kneese, ein Dorf mitten im Nirgendwo, wo unsere Gastgeberin Anke eine vegane Pension namens Forsthof betreibt. 500 Meter von der ehemaligen Todeszone und einer Gedenktafel für den Flüchtling Henry Weltzin entfernt, der 1983 hier erschossen wurde, genießen wir veganes Chili und ein paar Belohnungsbier und legen nach dem Duschen den Kopf auf ein paar schöne, saubere Kissen für die Nacht. 

  Am nächsten Morgen macht Anke Frühstück, dann geht es wieder raus auf den Gegenentwurf zum berühmten "Jakobsweg". Hier trifft man wenig Menschen, es ist eher eine Reise in die Einsamkeit, auf der man leeren Orten, der Natur und vielen Bäumen und Tieren begegnet. Niemand geht diesen Weg, nur wir. Und hinter Kneese wird es noch leerer. Die Landschaft ist nun nicht mehr nur einsam. Sie scheint leer wie die dunkle Seite des Mondes.