Donnerstag, 13. August 2015

Kleiner Grenzverkehr: Auf ein Bier zum Klas­sen­feind

Es wurde immerzu gerufen. Gerufen und gewunken. "Manche haben provoziert, aber die meisten Leute waren doch ganz freundlich zu uns", sagt Gerd Voigt. Nette Menschen, da hinter dem Dreifach-Zaun aus Stacheldraht, an dem der Westen begann. "Da konnten die uns im Politunterricht noch so viel Quatsch erzählen, wir haben das nicht geglaubt." Gerd Voigt, seinerzeit Unteroffizier bei den Grenztruppen der DDR, war "nicht gerade ein Vorzeige-Soldat", wie er selbst sagt. Statt die Posten zu kontrollieren, legt der 21-Jährige sich schon mal im Wald aufs Ohr.

Und passiert ist sowieso nie etwas. Einen Steinwurf weit weg von der am besten bewachten Grenze der Welt können Voigt und seine Freunde Joachim Gaum, Peter Dahte und Peter Kertzscher auch am Himmelfahrtstag 1965 keine Bedrohung ausmachen. Drüben, hinter dem Todesstreifen, stehen ein paar Jungs und brüllen: "Kommt doch mal rüber, wir haben ein Bier für euch!" Auch das nichts Besonderes. Aber diesmal beratschlagt das Quartett aus Leipzig ernsthaft: "Sollen wir oder nicht?"

Zwischen dem hessischen Wanfried und dem thüringischen Diedorf zerschneidet der Grenzzaun die ehemalige Verbindungsstraße. Am tiefsten Punkt einer Senke spannt sich der Draht über einen Abwassergraben. "Minen konnten da nicht sein", erinnert sich Gerd Voigt, "denn die hätte der Regen rausgespült." Die vier jungen Männer kommen überein, dass das Risiko so groß nicht sein kann. Kurz entschlossen schieben sich Voigt und Gaum unter dem dreifachen Zaun hindurch, gedeckt von einem kleinen Wald.

"Die erste Enttäuschung über den Westen", so Voigt, wartet direkt hinter dem Todesstreifen: "Die hatten kein Bier." Allerdings ist der Klassenfeind mit Motorrädern ausgestattet und bereit, nach Wanfried zu fahren, um ein paar Flaschen zu kaufen. "Also haben wir gesagt, wir kommen nachher wieder rüber und holen uns die Pullen ab."

Eines der wunderlichsten Kapitel der deutsch-deutschen Grenzgeschichte nimmt so seinen Anfang. Das Bier wird geliefert und abgeholt. Ost-Grenzer und West-Rocker schwatzen noch ein bisschen. "Dann sind wir wieder zurück, haben uns im Wald verkrümelt und die Flaschen leer gemacht."

Am Tag danach fallen Zugführer und stellvertretender Zugführer krankheitsbedingt aus. "Plötzlich musste ich die Wachen einteilen", grinst Gerd Voigt. Er nutzt seine Chance und schickt die Teilnehmer des kleinen Grenzverkehrs gemeinsam auf Patrouille. Die wiederum nutzen ihre Chance und wagen anfangs hin und wieder, später regelmäßig Ausflüge ins Feindesland. Dort können bald Zigaretten bestellt und Romanhefte geordert werden. Der West-Zollbeamte Rolf Beckmann ist immer für einen Schwatz gut, und die Frage, ob man nicht lieber im Westen bleiben wolle, wird nach kurzer Zeit auch nicht mehr gestellt.

"Das war ja für uns nie der Punkt", erinnert sich Gerd Voigt, "wir haben immer gesagt, wenn einer abhauen will, dann im Ausgang, da bekommen die anderen wenigstens keine Probleme." An diese Übereinkunft halten sich alle Eingeweihten - obwohl es immer mehr werden, die sich den Ausflügen anschließen. Nach sechs Monaten ist ein kompletter Grenzzug im Bilde, abgesehen von zwei Soldaten, die als unsichere Kantonisten gelten.

Kurz vor ihrer Entlassung werden die Grenzgänger vorsichtiger. "Wir haben einfach Schluss gemacht." Das Schweigekartell hält. Die Grenzgänger werden entlassen. Es ist Oktober 1965. Nur einen Tag später trommelt die Stasi bei Voigts an die Tür. "Klärung eines Sachverhaltes", heißt es. Nun folgen tagelange Verhöre, Haussuchungen und Gegenüberstellungen, schließlich das Geständnis, denn "die wussten alles". Es gab einen Kronzeugen: Ein DDR-Grenzer war kurz zuvor in den Westen geflüchtet, hatte es sich aber nach einer Woche anders überlegt. "Der hat uns verpfiffen, um Straffreiheit zu kriegen."

Es kommen die schlimmsten Wochen. Sechs Monate sitzen die vier aus der Kompanie Katharinenberg in Einzelhaft. Drei Tage dauert der Schauprozess wegen "Verbindungsaufnahme zu verbrecherischen Organisationen" und Militärspionage. Für ein paar Zigaretten hätten die Angeklagten ihr Vaterland verraten, heißt es, und als Beweis legt der Militärstaatsanwalt ein Bieretikett der Marke "Binding" vor, auf dem alle Beteiligten unterschrieben haben.

Das Ende ist ausgemacht: Zwischen zweieinhalb und dreieinhalb Jahren Zuchthaus lautet das Urteil gegen die vier Hauptbeschuldigten. Das Wäldchen, in dessen Schutz "das Grenzregime permanent verletzt" worden war, ist längst gerodet, als die Delinquenten ihre Zellen im Stasi-Knast Pankow beziehen.

Diese Sache hat die vier Männer fürs Leben zusammengeschweißt. Gemeinsam saßen sie ihre Jahre ab, gemeinsam schafften sie den Neuanfang. Gemeinsam kämpften sie nach dem Mauerfall um eine Aufhebung ihrer Verurteilung. Und gemeinsam mussten sie sich nach sieben Jahren Hoffen auf vollständige Rehabilitation belehren lassen, dass ihre Verurteilung nach DDR-Recht gerechtfertigt war. "Gemeinsam sind wir folglich noch immer vorbestraft", sagt Gerd Voigt bissig.

Einmal im Jahr fahren die vier Militärspione nach Diedorf, besuchen ihre alte Stammkneipe und treffen Rolf Beckmann von der "verbrecherischen Organisation" Zoll. Sie trinken ein Bier Marke Binding und pflanzen dann einen Baum. Genau dort, wo nach ihrer Verhaftung das kleine Wäldchen gerodet worden war.


Dienstag, 11. August 2015

Sky White Tiger: Mantras in Tennissocken



Louis Schwadron nennt sich Sky White Tiger und trägt auf der Bühne immer weiß, abgesehen von schwarzen Tennissocken, wie er bei der Songwriternacht am halleschen Peißnitzhaus zeigte. Auch sonst ist der Multiinstrumentalist, der früher mit den Chor-Rockern von The Polyphonic Spree unterwegs war, ein lupenreiner Sonderling, der aus Einflüssen von Genesis bis Radiohead eine verstiegene Musik macht, der die ganze Welt als Last auf den Schultern zu liegen scheint.

"Cars fly, Televisions are Telephone Screens and Remote Controls Rule the School", klagt er ach über die neuen Zeiten, denen das aktuelle Album "Child of Fire" gewidmet ist. Ein Großwerk wie "Tommy" von The Who, nur mehr Marillion als Hardrock und mehr Abhandlung über Leviationstheorie als Flipperkönig-Bio. Musik, die eigentlich nach großen Hallen, großen Bühnen und millionenteurer Lichtshow schreit. Sky White Tiger schaffen es, sie auch im kleinen Rahmen groß klingen zu lassen.

Doch Schwadron kann auch noch anders, wie er in "It flows" zeigt, einem halbakustischen Stück, das an die Red Hot Chili Peppers erinnert. Das Motiv aus deren Hits "Under the Bridge" wird hier nicht nur musikalisch, sondern auch inhaltlich belehnt. "Found myself alone / can’t recall why I call this home / surely there’s a shadow on the rise", heißt es, ehe der Song am Ende zum Mantra wird: "When you find your road it goes, it grows".


Mittwoch, 5. August 2015

Halle-Neustadt: Das Ende einer Zukunft


Ein halbes Jahrhundert nach dem Einzug der ersten Einwohner im August 1965 ist die einzige Original-DDR-Stadt Halle-Neustadt nahezu verschwunden. Dafür sind ihre Kinder heute überall.

Anderswo hieß es raus. Hier hieß es runter. „Kommst Du runter“, rief es am Nachmittag durch die Wechselsprechanlagen von Halle-Neustadt, das die, die hier lebten, nur kurz „Neustadt“ nannten. Runter war hinterm Haus, das in Wirklichkeit ein Block gewesen ist. Runter war eine Bank an einer Sandkiste, war ein Klettergerüst aus Eisen oder Holz, waren die Wäschestangen, aus denen ohne jeden Umbau ein Fußballplatz werden konnte. Kein Runter, kein Fern gab es, wenn es in der Schule nicht lief.


Halle-Neustadt sollte eine Stadt der Zukunft sein, ein Heim für den neuen Menschen, so hatten es ihre Erbauer geplant. Neustadt hatte immerhin schon eine neue Sprache: „Maggi“ war die Magistrale, „Koofi“ war die Kaufhalle, „Kiga“ der Kindergarten. Aber die Geburtsurkunden der Kinder von Halle-Neustadt waren allesamt von Anfang an falsch. Gut, die Namen stimmten, die Geburtszeiten sicher auch. Nur als Geburtsort steht da immer Halle, manchmal auch Zeitz und Merseburg und sicher noch andere Städte. Nie aber Halle-Neustadt, nicht einmal in den zwei Jahrzehnten, in denen die Söhne und Töchter der Bewohner der sozialistischen Chemiearbeiterstadt zur Welt kamen. Sie alle wuchsen auf als Kinder einer Stadt, die vielleicht als einzige weltweit keine Kinder hat, weil sie in ihren besten Tagen zwar beinahe hunderttausend Einwohner besaß, aber nie ein eigenes Krankenhaus.

Kindheit hatten sie dennoch, die rund 30000 Kinder von Halle-Neustadt, die zwischen 1965 und 1990 im größten Wohnexperiment Deutschlands groß wurden. Kindheit sogar, die sich zwar in der Form, aber nicht im Inhalt von der in anderen Städten unterschied. Alles war größer hier, die Häuser waren höher und der Himmel weiter. Doch gleichzeitig war jeder Wohnkomplex ein Örtchen für sich, aus dem niemand hinausmusste, wenn er nicht wollte.

Es war ja alles da. Der Kiga und die Schule, die Koofi, die Komplexannahmestelle, der „Sero“ genannte Altstoffhandel, Jugendklubs mit Namen wie „Gimmi“ oder „901“ und sogar ein paar Kneipen, die „Mucki“ hießen oder „Dreckiger Löffel“. Hier drinnen wurden die Jüngeren scheel angeschaut von den erfahrenen Schichttrinkern, die nicht aussahen wie der neue Mensch, sondern als säßen sie schon seit Urzeiten hier.

Die Stadt wuchs, und sie wuchs mit ihren Eingeborenen. Waren anfangs noch alle Wege schlammig, wandelte sich Neustadt schon zu einer fahrradgerechten Stadt ehe es diesen Begriff gab. Wegen der Schichtarbeiter gab es Spätverkaufsstellen, kurz „Späti“ genannt. Wegen der volkswirtschaftlichen Bedeutung der Literatur für die Aufrechterhaltung der Leistungskraft hatte der einzige Buchladen der Stadt ein besseres Angebot als alle Buchläden im alten Halle. Westfernsehen kam in der Stadt der Zukunft aus der Wand. Alle Keller besaßen dicke Stahltüren, um im Ernstfall Schutzräume spielen zu können. Auch alle Schulgebäude hatten Tiefgeschosse, die bei einem drohenden Nato-Angriff auf die hier unten platzierten Werkräume mit bereitstehenden Betonelementen hätten verbarrikadiert werden sollen. So war der Kalte Krieg immer anwesend in der Stadt, deren Wappen eine künstlerisch ambitionierte Achtklässlerin in ihrem Kinderzimmer im 3. WK entworfen und mit fröhlich flatternden Friedenstauben vollgepackt hatte.

Es war grau im Winter und unendlich grün im Sommer und es war grässlich wenig los. Wer hier großwerden durfte, hatte jede Menge Spaß. Anfangs waren die Baustellen die besten Abenteuerspielplätze der Welt. BBS wie „Big-Baustellen-Spaß“ hieß das bei den Kindern. „BUS“ dagegen war der „Big-Underground-Spaß“, der daraus bestand, einfach irgendwo in die unüberschaubaren unterirdischen Kanalsysteme einzusteigen und zu hoffen, dass man bestimmt auch irgendwo wieder rauskommt.

Die Stadt war ein Spielzeug, aber sie war auch ein Schlachtfeld. Die Wohnkomplexe, die „Weehkahs“ hießen, wurden von selbsternannten Banden beherrscht, die sich nicht grün waren. Halbwüchsige lauerten einander auf, es gab Lehmschlachten und rituelle Überfälle. Manchmal tat es weh, aber nie kam die Polizei.

Besser war es schon, im eigenen Weehkahs zu bleiben. Und schon gar nicht gingen Halle-Neustädter nach Halle. Die Brücke an der Eishalle war die natürliche Grenze zwischen moderner Großplattenbauweise und Zerfall, zwischen frischem Betongeruch und dem Moderduft der feuchten Mietskasernen, zwischen Zukunft und Vergangenheit. Einzig das Kino, das Goethe-Lichtspiele hieß, der Sportladen „Schnee“ und die Eisdiele am Hansering waren Gründe, sich mit der stadtgewordenen Vergangenheit jenseits der Saale abzugeben.Später wurden Berge aus Aushub, die beim sozialistischen Warten auf Großvorhaben, die nie entstanden, langsam überwuchert worden waren, zu Fahrradcross-Strecken. Und auf den Bänken an den Sandkisten, die sich da schon zur Hälfte mit Hundekot und Kippen gefüllt hatten, trafen sich die Plastebaggerfahrer und Gummiindianerspieler von früher, um Schnapsflaschen zu köpfen. Freunde halfen: Der Alkohol stammte in der Regel aus der nahegelegenen Verkaufsstelle der sowjetischen Armee, wo füllige Frauen in Kittelschürzen „Pfeffi“ und „Kali“ bereitwillig auch an Menschen verkauften, die sichtlich noch in keinen U14-Film gekommen wären.

Eine Freiluftjugend. Daheim waren die Kinder des Beton nicht in den Wohnblöcken, sondern auf den Bänken dahinter, in den Durchgängen zwischen den Block und in den Fahrstuhletagen, die als Jugendklubs dienten, Montags war Disco im Treff, freitags Party im U-Boot und es hätte immer so weitergehen können. Selbst Mitte der 80er Jahre war Halle-Neustadt noch eine junge Stadt. Fast alle hier hätten immer noch weggehen können, wenn es eines Tages zu blöd geworden wäre mit der Stadt oder der DDR.

Eine Jugend in Deutschland, auch wenn die Gegend damals noch DDR hieß und die herrschenden Vorstellungen vom Paradies heute Kopfschütteln auslösen. In Neustadt lebten die Sieger der Geschichte, Familien mit Telefonanschlüssen, Glückliche, die von den Errungenschaften einer Zeit profitierten, an deren Ende das Ende aller Ausbeutung stehen würde.

Dieses Ende kam so wenig wie aus Neustadt noch eine wirkliche Stadt wurde. Ausgerechnet in ihrem größten Bauprojekt ging die DDR am schnellsten und gründlichsten zugrunde: Noch vor dem Beitritt des Arbeiter- und Bauernstaates zur Bundesrepublik votierten die Halle-Neustädter für einen Beitritt zur Stadt Halle.

Der Selbstauslöschung folgten die Abrissbagger, den Abrissbaggern die Flucht der Generation, die hier aufgewachsen war. Während die Eltern blieben, in 70 Quadratmetern WBS 70 mit nun leerem Kinderzimmer, gingen ihre Kinder fort. Neustadt hatte schließlich nicht nur kein Krankenhaus, es kannte auch kein Wohneigentum. Der neue Mensch besitzt hier nichts außer Wurzeln. Er kehrt heute allenfalls gelegentlich zurück, um auf Wiesen zu schauen, auf denen einst seine Schule stand.