Samstag, 20. August 2016

Das letzte Konzert des Rio Reiser: Ein König dankt ab

Rio Reiser im Jahr 1990 in der Schorre in Halle. Damals waren die Hallen noch ausverkauft.

Er weiß es an diesem Tag im Mai 1996 noch nicht, aber der Mann, der sich Rio Reiser nennt, wird heute sein letztes richtiges Konzert spielen. Einmal noch all die Lieder, wobei er seine größten Hits weglässt. Einmal noch alles geben, auch wenn die Halle längst nicht mehr ausverkauft ist. Ein paar Tage später wird er ein Konzert nicht mehr zu Ende spielen können. Alle anderen sagt er ab. Drei Monate später wird Reiser tot sein. Aber das Konzert war gut, und zwar so gut:


Erstmal zieht er immer die Schuhe aus. Kann kommen, was will – Rio Reiser setzt sich, schlüpft aus den Slippern und zerrt die blauen Frotteesocken von den Füßen. Ein Ritual. Ralf Möbius, wie Rio eigentlich heißt, tritt barfuß auf, egal, ob Mitte der 70er im Hinterhof eines besetzten Hauses, Mitte der 80er in der ausverkauften Seelenbinderhalle in Berlin oder Mitte der 90er in der kaum halb gefüllten Schorre in Halle. Danach geht er zum Mikro und singt: "Alles was ich sagen kann / ist schon längst gesagt".

Sechs lange Jahre hat Rio nicht mehr auf der Bühne gestanden. "Irgendwie keine Lust" habe er gehabt, und außerdem jede Menge anderes zu tun. Rio Reiser, der als Sänger der Anarcho-Polit-Combo Ton Steine Scherben ein Kapitel deutscher Rockgeschichte schrieb, komponierte die Musik zu einem Theaterstück, er spielte die Hauptrolle in einem "Tatort", machte ein Musical, verfaßte ein Buch und produzierte daheim auf seinem Bauernhof im verträumten Fresenhagen Platten von Freunden wie Lutz Kerschowski, der ihn jetzt als Gitarrist begleitet. Die Welt draußen hat ihn darüber ein bißchen vergessen, den einstigen "König von Deutschland". Vorbei die Zeiten, als ihn tausende Fans für Hits wie "Blinder Passagier" feierten, als ihn die versammelte deutsche Rockprominenz zum besten Texter kürte und Alt-68er, Popfans und Punks ihn gleichermaßen liebten. Heute ziehen die Jungen zu Green Day oder den Boyzone, die Mittleren treffen sich bei den Toten Hosen und die 68er pilgern zu Pur.

Reiser allerdings stört das nicht im mindesten. Die geschwollenen Augenlider fest zugekniffen, die Hände um die Gitarre geklammert, steht er da und singt. Für sein Comeback hat sich der 46jährige immerhin etwas ganz besonderes ausgedacht. Im Vorprogramm bietet er Deutschlands einzigen Minnesänger Nikolai von Treskow auf, im Abspann läßt er die Berliner Klamauk-Kapelle Knorkator lärmen.

Nichts paßt zusammen, und das ist beabsichtigt. Rio Reiser, immer für Überraschungen gut, tut weiterhin alles, Erwartungen nicht zu befriedigen. Jahrelang riefen sie in Konzerten nach alten Scherben-Stücken wie "Macht kaputt was Euch kaputt macht", aber Rio war das bald "zu blöd". Heute schreien sie nach seinen eigenen Hits -und er spielt sie nicht. Kein "König von Deutschland", kein "Alles Lüge", kein "Geld". Einer wie Reiser macht es sich selber schwer, bleibt so weitgehend unfaßbar für die Pop-Industrie und also integer immerdar.

Reiser hat gekokst und gespritzt, er qualmt wie ein Schlot und stürzt Alkoholika hinunter, als gäbe es kein Morgen mehr. Aber allen Verlockungen, den Pop-Clown zu machen und einmal im Leben richtig Geld zu verdienen, hat er widerstanden. "Ich will ich sein / anders will ich nicht sein", singt er, und das großartige "Laß" uns ein Wunder sein", bei dem seine nach den Griffen tastenden Finger den Kampf mit den Saiten aufgeben. Reisers neue Lieder, letztes Jahr erschienen auf einer Platte namens "Himmel & Hölle", sind zarter, zornloser, zurückgenommener denn je.

Der Mann, der einst jugendliches Revoluzzertum und Unangepaßtheit personifizierte, ist jenseits der 40 zum stillen Beobachter der Zeitläufte geworden. Rio rockt nicht mehr, er singt, als balanciere er barfuß über Glasscherben, und wenn er schon mal aufschaut zur staunenden Menge, dann zielt sein Blick weit über die Köpfe ins Dunkel, wo er "Licht, Liebe und Hoffnung" (Rio) sieht. "Wann, wenn nicht jetzt?, wo, wenn nicht hier, wie, wenn ohne Liebe, wer, wenn nicht wir?", fragt er tapfer, obwohl er die Antworten kennt. Und als einzige Zugabe gibt es das Liebeslied "Junimond": "Es ist vorbei, bye, Junimond, es ist vorbei".


Mittwoch, 17. August 2016

Olaf Schubert: Der Spaßvogel in der Ostbaracke

Sein Kapital ist das Gesicht, aus dem er so fassungslos und entsetzt, so gleichgültig und ernsthaft zugleich gucken kann. Olaf Schubert, hoher Scheitel, Fusselhaar und über dem schmächtigen Brustkorb den unerlässlichen Pullunder, staunt dann in die Runde, die meist gerade brüllend lacht. Lacht über etwas, das Schubert gerade gesagt hat. Aber kann das sein? Dass Menschen sich vor Vergnügen ausschütten wollen, nur weil er einen durch ein Delta an Nebensätzen mäandernden Monstersatz nach viermal durchatmen und dreimal neu ansetzen zu einem glücklichen Ende gebracht hat?

Es hat eine ganze Weile gebraucht, bis Olaf Schubert, der eigentlich Michael Haubold heißt, es geglaubt hat. Bis dahin tourte der gebürtige Plauener, der heute neben Cindy aus Marzahn, dem Eisleber Duo Elsterglanz und dem Dresdner Uwe Steimle zu Ostdeutschlands Comedy-Elite gehört, mit seiner Band DekaDance durch die Lande. Schon diese Kapelle war nicht gänzlich ernst gemeint. Zum Programm gehörten Ausschweifungen über die Grenzen des guten Geschmacks hinaus, die Musiker trugen wundersame Verkleidungen und es wurde viel Unsinn erzählt. „Women back in the Kitchen“ sangen sie damals oder auch „Döbeln in the Sky“ und eine Bläsertruppe stieß dazu ins Horn, dass die Wände wackelten.

Bilder von damals zeigen Olaf Schubert in komischen Kittelschürzen, Lederjacken und Lindenberg-Hosen. Ein linkischer Kerl, dem der Schalk im Nacken sitzt. Es dauert denn auch ein halbes Jahrzehnt, bis das humorige Talent des selbst ernannten „Mittlers zwischen Kunst und Sozialabbau“ auch außerhalb der kleinen Säle entdeckt wird, in denen DekaDance auftreten. Hatte der Künstler seine ersten Jahre noch als ruhelos Reisender zwischen kleinen Klubs verbracht, in denen er seine abstrusen Protestgedichte und Aktionshörspiele mit hohem Einsatz, aber gegen ein geringes Salär vortrug, öffneten sich mit Beginn des neuen Jahrtausends die großen Tempel des deutschen Humors bis weit hinüber in den humortechnisch immer noch abgeschirmten Westen.

Schubert, der seine Hörspiele traditionell im halleschen Überschall-Tonstudio von „Zorn“-Autor Stephan Ludwig einspielt, gastiert seitdem im „Quatsch Comedy Club“ und bei „Night Wash“, er heimst Kleinkunstpreise und anno 2008 schließlich sogar den Deutschen Comedypreis als „Bester Newcomer“ ein. Dazwischen bespielt der Sachse Open-Air-Arenen wie die Pferderennbahn in Halle.

Ungeachtet des Umstandes, dass der Wahldresdner eine hochartifizielle Art von Humor pflegt, die von Anspielungen, unerwarteten Wendungen und gezielten Schlägen unter die Gürtellinie lebt, werden seine Bühnenprogramme nun zur besten Sendezeit im Fernsehen gezeigt. Zuletzt erst übernahm die ARD die vom MDR produzierte Fernsehshow „Olaf verbessert die Welt“, weil die überaus erfolgreich bei jungen Zuschauern ist.


Ebenso unverdrossen wie prinzipiell unverstanden steht Schubert nun dort auf der großen Bühne, im Scheinwerferlicht, immer noch begleitet von Bert Stephan, seinem alten DekaDance-Kollegen, und immer noch im Rauten-Pullunder, den, so will es die Legende, seine Oma ihm einst gestrickt hat. Olaf Schubert ist ein Star, ein Comedian, er spielt in der Liga von Dieter Nuhr, Mario Barth und Atze Schröder. Aber auf seine Art: Schubert sucht nach dem Tabu, um es grob zu verletzen, er ist politisch unkorrekt, beleidigend und unterwürfig zugleich und er verballhornt Begriffe und Bedeutungen, bis sie ganz neu erkennbar werden. Sich selbst nennt er deshalb stolz den „Rufer in der Wüste, Gegner der Finsternis und Vergewaltiger des Bösen“.

Der Spaßvogel in der Ostbaracke singt mit Gießkannenstimme und verhaspelt sich. Dann sattelt er den nächsten halben Satz und reitet ins Klischee, während die stets leicht verstellte Stimme in einem selbsterdachten weich dahinfließenden Bildungssächsisch Floskeln so lange aufbläst, bis sie begleitet von einem erstaunten „Oh!“ vor aller Augen platzen. Eine Kunstfigur, die noch mehr mit dem Mann dahinter verschmolzen ist als im Fall von Gilbert Rödiger und Sven Wittek, die nur alsDuo Elsterglanz wahrgenommen werden, und Ilka Bessin, die ihre erfolgreiche Kunstfigur „Cindy aus Marzahn“ erst vor wenigen Wochen aus Überdruss am Verwechseltwerden beerdigt hat.

Schubert, der kürzlich erst einen Feuerwehrschlauchfetischisten im neuen Film der Elsterglanz-Kollegen gespielt hat, wird für Schubert gehalten, die Erfindung. Nicht für Haubold, den Lenker, Denker und Texter hinter den Grammatik-Gebirgen und bizarren Zeitformverzerrungen, der öffentlich nie aus dem Schatten des „Wunders im Pullunder“ (Schubert über Schubert) tritt.


Nur so kann das Kunstkonzept Olaf Schubert funktionieren: Wenn die Person auf der Bühne das zu sein scheint, was sie zu sein vorgibt - ein an Selbstüberschätzung leidender Besserwisser, von nichts eine Ahnung, aber zu allem aussagebereit. Schubert schwätzt vom „erweiterten Infinitiv mit Kapuze“, von einer „Durchsetzung der deutschen Sprache mit Anglizismen, vor allem mit englischen“ und er erzählt von bizarren Begebenheiten aus seinem Alltagsleben als freischaffender „Betroffenheitslyriker“ (Schubert). Mit dem Lachen über ihn, der so verzweifelt versucht, so zu tun, als habe er alles im Griff, lachen die Leute immer auch über sich selbst.


www.olaf-schubert.de
www.objekt5.de

Samstag, 13. August 2016

Manuel Schmid: Ein Stern, der seinen Namen trägt



Der neue Stern-Meißen-Sänger legt mit „Seelenparadies“ sein zweites Solo-Album vor. Es versammelt Klavierballaden, Demmlertexte und viel Gefühl.

Er kam nach dem großen Streit und er kam aus dem Nichts. Manuel Schmid meldete sich vor vier Jahren, als Stern-Chef Martin Schreier gerade auf der Suche nach einem neuen Sänger war. Schmid stammt aus Altenburg, er sang in kleinerem Rahmen und er sang immer auch Lieder von Stern Meißen. Schmid war damals Ende 20. Die Band, bei der er einsteigen wollte, war doppelt so alt.

Aber es klappte. Mit seiner warmen, bis in sehr hohe Lagen reichenden Stimme hat der gelernte Keyboarder und studierte Audio-Ingenieur sich inzwischen längst einen Platz in den Herzen der Stern-Fans erobert. Schmid singt Klassiker wie „Kampf um den Südpol“ und „Was bleibt“ auf eigene, aber unterdessen akzeptierte Art. Und eben die pflegt er auch auf „Seelenparadies“, seinem gerade erschienenen zweiten Solo-Album, das mit „Also was soll aus mir werden“ auch eine modernisierte und als Duett inszenierte Version eines Stern-Klassikers enthält.

Der Rest sind Schmid-Kompositionen, die der Freund von Melancholie und Romantik mit Unterstützung von Puhdys-Basser Peter Rasym, Ex-Stern-Keyboarder Marek Arnold und Dirk Zöllner eingespielt hat. Schmid pflegt dabei eine zarte Gangart, die immer harmonisch bleibt und nicht vor Klischees zurückschreckt.

In „Hüte deinen Traum“ sind die Augen groß und die Seelen fest verbunden, „Worte sind wie Bilder“ wird von A-Capella-Gesang begleitet, und das Stück „Seelenlieder“ ist als Hommage an den verstorbenen ehemaligen Stern-Sänger Reinhard Fißler ausgewiesen, der sich am Anfang noch einmal selbst per Telefon zu Wort meldet. Zusammen mit Dirk Zöllner singt Manuel Schmid dann Teil zwei der Ode. Und den Schlusspunkt setzt, wie als Handschlag mit der Vergangenheit, ein neuvertonter Text von Kurt Demmler.

Mittwoch, 10. August 2016

Heimatgeschichte: Das Flugzeug-KZ am Rande der Stadt


Zugewachsen, von einem Zaun umgeben, mit Warnschildern versehen. Ein Hundeübungsplatz ist hier, ansonsten nur Ruinen, überwachsen, überwuchert. Eine Szenerie wie in der "Zone" aus  Tarkowskis "Stalker". Dabei handelt es sich bei dem Platz in der Frohen Zukunft, der bis heute von Wachtürmen überragt wird, um historisch belasteten Boden: Hier saßen einst die Siebel-Flugzeugwerke. Deren Hauptgebäude war das gegenüberliegende Haus, in dem heute das Landesverwaltungsamt residiert.

In den Siebel-Werken mussten in den Jahren des 2. Weltkriegs Zwangsarbeiter für die deutsche Rüstungsproduktion schuften. Der Journalist Nico Wingert hat vor Jahren beschrieben, wie 550 Häftlinge täglich aus dem KZ "Birkhahn-Mötzlich", einer Außenstelle des KZ Buchenwald, einem nahegelegenen Kriegsgefangenenlager an der Osramstraße, einem Zwangsarbeiterlager in der heutigen Kleingartenanlage Freundschaft und dem Fremdarbeitslager in der Frohe Zukunft zu den Produktionsstätten marschieren mussten, die heute verborgen und vergessen hinter einer dichten Hecke direkt an der Ausfallstraße liegen.

Hier rüstete das Dritte Reich Görings Luftflotte aus. Die Häftlinge, so hat Wingert herausgefunden, waren vor allem mit der Fertigung von Tragflächen und der Montage von Sturzkampfflugzeugen und Bombern der Baureihen Ju 88 und Ju 188 beschäftigt. SS-Einheiten bewachten das Gelände, von dem heute selbst ältere Hallenser nicht mehr zu sagen wissen, was es einst war. Ein Siebel-Flieger hingegen hat es bis ins Stadtmuseum geschafft.

Nach dem verlorenen Krieg wurde der Betrieb enteignet, aus dem Außenlager am Goldberg wurde eine Gartenanlage und aus dem Produktionsgelände ein GST- und Polizei-Schießplatz. Nach dessen Schließung verwilderte das Gelände immer mehr und immer malerischer, der Hundeverein nutzt nur einen Teil der Fläche, auf dem Rest überwuchern wilde Ranken die Reste der einstigen Bebauung.

Spuren der unseligen Vergangenheit sind nur noch wenige zu finden. Verrosteter Stacheldraht hängt hier und da an bröckligen Betonpfeilern, Stahltore rosten vor sich hin, bewacht von Schildern, die abenteuerlustigen Kindern den Zutritt verbieten sollen. "Bis heute", schrieb Nico Wingert vor fast zehn Jahren im "Stern", "gibt es kein Hinweisschild und auch keine Gedenktafel: Das Vergessen des ehemaligen Außenlagers des KZ Buchenwald scheint total zu sein."

Ist es immer noch.