Posts mit dem Label erfroren halle schicksal werden angezeigt. Alle Posts anzeigen
Posts mit dem Label erfroren halle schicksal werden angezeigt. Alle Posts anzeigen

Sonntag, 5. Mai 2019

Wolfgang Neuss: Ein Hauch von Hasch

Der Körper des Kabarettesten Wolfgang Neuss glich  am Ende dem eines alten Indianerhäuptling.


Den großen Unterschied zu erkennen, war für ihn eine Kleinigkeit. "Wer nicht haargenau wie die CDU denkt", lästerte Wolfgang Neuss, "der wird sofort aus der SPD ausgeschlossen." Nicht jeder kann da lachen, und darüber freute sich der gebürtige Breslauer besonders. Neuss, als Jugendlicher aus einer Schlachterlehre nach Berlin geflohen, um Clown zu werden, ist der anarchistische Possenreißer der jungen Bundesrepublik.

Häme und Spott schüttet der Autodidakt mit der Vorliebe für verquere Wortspiele über der jungen Demokratie aus. "Der Faschismus ist eine Spielart der freien Marktwirtschaft", ätzt er inmitten der Wirtschaftswunderjahre, "auf deutschem Boden darf nie wieder ein Joint ausgehen", wird er sich später für eine Legalisierung von Marihuana aussprechen.

Ein Mann wie ein einziges Missverständnis. Dem Einsatz an der Ostfront habe er sich entzogen, indem er sich einen Finger abgeschossen habe, erzählte Wolfgang Neuss jahrelang. Der Finger war wirklich weg. Verloren hatte er ihn, wie er später bestätigte, durch eine verschleppte Entzündung.

Im Zweifel aber wählte der begnadete Improvisator, der nach dem Krieg im geistesverwandten Wolfgang Müller einen kongenialen Begleiter gefunden hatte, lieber die gute Geschichte als die wahre. Richtig zugespitzt ist schon fast ein Witz! In seiner großen Zeit Mitte der 50er dreht Neuss zehn Filme im Jahr, darunter Knüller wie "Die Drei von der Tankstelle" und "Wir Wunderkinder". Nebenher zieht er als Kabarettist über die Bühnen und landet Schlagerhits wie "Schlag nach bei Shakespeare".

Scherze aber sind eigentlich gar nicht seine Sache. Der "Mann mit der Pauke" sieht sich als politischen Künstler mit einem linksschlagenden Herzen. Erst streitet er für die SPD, dann wendet er sich der außerparlamentarischen Opposition zu. Auch die ist ihm bald langweilig. Neuss gefällt sich nun in der Rolle des kategorischen Nonkonformisten: Das Haar wird immer länger und dünner, ausfallende Zähne werden nicht mehr ersetzt, statt Alkohol zu konsumieren, greift er zur Haschischpfeife.

Der allmähliche Verfall ist öffentlich. Wegen Drogenbesitzes wandert Neuss ins Gefängnis, die SPD schließt ihn aus, das Fernsehen lässt ihm den Ton abdrehen und nennt es eine "technische Störung". Boulevardblätter, seit Jahrzehnten im Krieg mit dem "Vaterlandsverräter", erfreuen ihre Leser mit der Mitteilung, der Provokateur müsse inzwischen von Sozialhilfe leben.

Zu dieser Zeit gleicht der einst lebenspralle Kabarettisten-Körper schon dem Leib eines uralten Indianerhäuptlings. Graue Strähnen hängen dem Wortakrobaten wie müder Federschmuck ins Gesicht, der zahnlose Mund ist eingefallen. Neuss, schon erkrankt, vertreibt sich die Zeit, indem er der alternativen Tageszeitung taz schräge Kolummnen bastelt, die zuweilen nicht einmal mehr seine Fans verstehen. Am 5. Mai 1989 stirbt Wolfgang Neuss, wenige Tage, nachdem ein Filmteam die Dreharbeiten zu einer Dokumentation über sein Leben abgeschlossen hat. Im Film erzählt er noch, dass er nicht tot sein werde, nach seinem Tod. Denn man lebe schließlich weiter in "allen Leuten, bei denen dein Herz etwas schneller geht."

Freitag, 21. September 2018

Dean Reed: Genosse Cowboy und der rätselhafte Tod


Als Dean Reed vor 32 Jahren starb, war er fast vergessen. Sein Tod hat seitdem für Spekulationen gesorgt - obwohl der Sänger, der heute 80 Jahre alt werden würde,  freiwillig aus dem Leben geschieden war. Er hatte die Ranch in Texas gegen ein Seegrundstück nahe Berlin getauscht, den Erfolg in den amerikanischen Billboard-Charts gegen Auftritte in der FDJ-Sendung "rund", den Jubel des Madison-Square-Garden gegen den Applaus der Menschen im Arbeiterklubhaus Bitterfeld.

Dean Reed, dessen Leiche ein aufmerksamer Wasserschutzpolizist am 17. Juni 1986 am Schilfgürtel in der Nähe des Badestrandes südlich des Zeltplatzes Nummer 2 am Zeuthener See entdeckte, ließ Zeit seines Lebens keinen Zweifel daran, auf welcher Seite er stehen wollte. Der Sohn eines Mathelehrers, aufgewachsen auf einer Hühnerfarm in Weath Ridge unweit von Denver/Colorado, sah sich als Sänger des besseren, des moralisch sauberen Amerika. Reed war an der Seite der "fortschrittlichen Menschen" unterwegs, die Welt zu einem besseren Ort zu machen. Sein seltsames Schicksal nahm 1971 seinen Anfang, als der attraktive US-Schauspieler Ehrengast beim Dokumentarfilmfest in Leipzig war - und sich dort für die junge Wiebke erwärmt. Es muss Liebe auf den ersten Blick gewesen sein, denn schon ein Jahr später heiratet das Paar.

Für den aus Colorado stammenden Sänger, Schauspieler, Friedenskämpfer, Rebell und Frauenschwarm  ändert sich damit das ganze Leben. Dean Reed lebt ab 1972 "als singender Cowboy der DDR" im Arbeiter- und Bauernstaat. Hier wird er viele Jahre später auch sterben - und sein mutmaßlicher Freitod im Jahr 1986 wird noch viel länger geheimnisvolle Gerüchte nähren, die Staatssicherheit habe den Star ermordet.

Dabei war Dean Cyril Reed, mit zehn Jahren auf Wunsch des Vaters an einer Kadettenakademie eingeschrieben, überhaupt nur zufällig Popstar geworden. Als er nach dem Abschluss an der Highschool quer durch die USA fuhr, vermittelte ihm ein Tramper, den er mitgenommen hatte, den Kontakt zum 

Er hatte die Ranch in Texas gegen ein Seegrundstück nahe Berlin getauscht, den Erfolg in den amerikanischen Billboard-Charts gegen Auftritte in der FDJ-Sendung "rund", den Jubel des Madison-Square-Garden gegen den Applaus der Menschen im Arbeiterklubhaus Bitterfeld. Bei den Weltfestspielen in der DDR fühlt er sich geliebt wie daheim in den USA, als alles begann. 

Reed, dessen Leiche ein aufmerksamer Wasserschutzpolizist am 17. Juni 1986 am Schilfgürtel in der Nähe des Badestrandes südlich des Zeltplatzes Nummer 2 am Zeuthener See entdeckt, ließ Zeit seines Lebens keinen Zweifel daran, auf welcher Seite er stehen wollte. Der Sohn eines Mathelehrers, aufgewachsen auf einer Hühnerfarm in Weath Ridge unweit von Denver im US-Bundestaat Colorado, sah sich als Sänger des besseren, des moralisch sauberen Amerika. Reed war an der Seite der "fortschrittlichen Menschen" unterwegs, die Welt zu einem besseren Ort zu machen. Er war kein Kommunist, aber als Sozialist hätte man ihn in den USA durchaus einordnen können.

Vor allem in Südamerika lieben die Menschen den "Magnificent Gringo", der jedem offen entgegentritt, nicht belehrt, sondern sich lieber belehren lässt. Reed hört zu, er zeigt sich als empathischer Mensch, der an Ungerechtigkeiten leidet, für die sein Heimatland aus seiner Sicht die Verantwortung trägt. Vor aller Augen wird aus dem naiven Country-Sänger ein politisch denkender Künstler, der seinen eigenen Kopf hat. In Peru schreibt Dean Reed seiner Regierung einen Brief, in dem er gegen amerikanische Kernwaffentest protestiert, er freundet sich mit linken Gewerkschaftern an und fährt als Delegierter zum Weltfriedenskongress nach Helsinki.

Der Sänger des anderen Amerika

Danach ist das Leben des jungen Stars
 nicht mehr dasselbe. Er besucht die Sowjetunion und darf dort sogar auf Tournee gehen. Während die Fans in den USA ihn vergessen haben, liegen sie ihm zwischen Moskau und Perm zu Füßen. Reed ist im Osten Ersatz für Beatles und Stones. Schließlich verschlägt es ihn in die DDR, wo er einen Film über Chile vorstellt und sich Hals über Kopf in Wiebke verliebt. 

Es ist der letzte Wendepunkt im Leben des Genossen Cowboy, der in den 13 Jahren bis zu seinem rätselhaften Freitod für die einen zum roten Elvis und für die anderen zum roten Tuch wird. Den DDR-Mächtigen gilt der Seitenwechsler als Glücksfall. Der Amerikaner ist für die DDR ein Propagandacoup. Er 
wird direkt von der Abteilung Agitation des SED-Zentralkomitees betreut und lebt in der DDR ein Leben, das mit der DDR nicht viel zu tun hat. Reed gehört zu den oberen Zehntausend im Arbeiter- und Bauernstaat. Er genießt zahlreiche Privilegien, er kann reisen, er hat Zugang zu raren Waren, an denen es sonst überall mangelt in der Mangelwirtschaft des Sozialismus, der sich selbst als gerechte, klassenlose Gesellschaft lobt.

Der Paradiesvogel im grauen DDR-Kulturbetrieb dreht Filme und spielt Platten ein, besucht Kubas Revolutionsführer Fidel Castro und Palästinenserchef Jassir Arafat. Er dreht das große Rad im kleinen Staat und avanciert nach Ansicht des "People's Magazine" zum "größten Star der Popmusik von Berliner Mauer bis Sibirien". Der Sunny-Boy sonnt sich in seinem Ruf und prominente Revolutionäre suchen seine Nähe. Er bekundet, dass er "im Chile der Unidad Popular eine zweite Heimat gefunden" habe. "Und dieses wunderschöne Land mit seinen wunderbaren Menschen ist mir auch heute noch Heimat. Denn die Zeit der faschistischen Herrschaft über Chile wird vor der Geschichte nur eine Episode bleiben. Aber jedes Gespräch, das ich dort hatte, jeder Händedruck, den ich getauscht habe, jedes Lächeln, das mir zuteil geworden ist - all das ist mir unvergesslich geblieben", schwärmt er.  

Seitenwechsler als Symbol


Bald ist der Seitenwechsler mit dem chilenischen Präsidenten Salvador Allende und mit Palästinenserführer Jassir Arafat befreundet, er protestierte gegen die US-Regierung, gegen Diktaturen und den Vietnamkrieg, verbindet das aber mit Exotik des Countrymusim singenden Amerikaners im DDR-Fernsehen und Star in Defa-Filmen, in denen er etwa im Indianerfilm "Blustbrüder" einen desillusionierten US-Soldaten spielt, der sich nach einem Massaker der US-Kavallerie an einem unschuldigen indigenen Stamm die Barthaare einzeln herausreißt, um wie sein Freund, ein Stammeshäuptling, Indianer zu werden.

Der junge Amerikaner, erstmals aufgefallen, als es ihm gelingt, ein 110-Meilen-Rennen gegen ein Maultier zu gewinnen, weshalb er Probeaufnahmen machen darf, die ihm auf einen Schlag einen lukrativen Sieben-Jahres-Vertrag einbringen, ist wieder ein Star, aber kein kleiner mehr wie daheim, sondern ein großer.

Das wollte  er von Anfang an und anfangs ließ es sc auch gut an. Mit Songs wie "Summer Romance" entert er die US-Hitparaden, bald hagelt es Filmangebote und Touranfragen aus dem Ausland. Dean Reed, von Fans umschwärmt und von den Frauen vergöttert, schwebt durch die frühen Jahre seiner Karriere: Das Leben ist ein Traum, die Welt viel größer, als es von Wheat Ridge aus den Anschein hatte.

Am Ende großer Tage


Doch dann neigen die großen Tage sich dem Ende zu. Zwar findet Dean Reed nach der Trennung von seiner ersten DDR-Frau in der Schauspielerin Renate Blume schnell eine neue große Liebe. Mit der Sommerkino-Klamotte "Sing, Cowboy, Sing" gelingt ihm sogar ein echter Kassenknaller. Der Exotenbonus aber, den der Kommunist mit US-Pass in den 70ern noch genoss, hat sich verbraucht. In den 80ern ist Reed für viele DDR-Bürger nur ein staatsnaher Stetson-Träger, der keine Ahnung vom wirklichen Leben in seiner Wahlheimat hat. Sein Protest gegen die US-Regierung, gegen Diktaturen und den Vietnamkrieg, das Foto mit der Gitarre in der einen und einer Kalaschnikow in der anderen Hand, sie gelten den normalen DDR-Bürgern als Zeichen nicht für Rebellentum, sondern für Opportunismus.

Privat ist Dean Reed auch nicht immer fein. Er hat Geliebte neben seinen Ehefrauen, beim ihnen genießt er die Reste seines Ruhmes.  So lange es ihm selbst gefällt. Als eine von ihnen ihm lästig wird, wirft er aus dem Haus. Die Frau versteht  die Welt nicht mehr, wie sie im Film "Der rote Elvis" erzählt : "Ich dachte, ich spinne - der große Kämpfer für Frieden und Gerechtigkeit in aller Welt schmeißt eine Frau einfach so aus dem Haus."

Er versteht es doch


Der Amerikaner versteht das alles nicht. Und er versteht es doch.  Denn er merkt zunehmend, dass auch in der DDR einiges im Argen liegt. So faucht er 1982 Volkspolizisten laut Protokoll der Beamten an, als sie ihn wegen einer Geschwindigkeitsübertretung anhalten: "Die Staatslimousinen, die mich gerade mit 160 km/h überholt haben, schreibt ihr nicht auf. Das ist ja wie ein faschistischer Staat hier. Ich habe das langsam wie die meisten der 17 Millionen in diesem Land bis hierher satt!"

Fast klingt er da wieder wie der junge Mann, der, am 1. September 1970 vor dem Konsulat der USA in der chilenischen Hauptstadt Santiago die amerikanishe Flagge wäscht. Eine Symbolhandlung, die Reed so begründet: "Die Flagge der USA ist befleckt mit dem Blut von Tausenden vietnamesischer Frauen und Kinder, die bei lebendigem Leibe von dem Napalm verbrannt worden sind, das von amerikanischen Aggressionsflugzeugen aus dem einzigen Grund abgeworfen worden ist, weil das vietnamesische Volk in Frieden und Freiheit, in Unabhängigkeit und mit dem Recht auf Selbstbestimmung zu leben wünscht." Auch sei die Flagge der USA "befleckt mit dem Blut der Schwarzen Bürger der Vereinigten Staaten, die von einer Polizei des Völkermords aus dem einzigen Grund in ihren Betten ermordet worden sind, weil sie in Würde und mit den vollen Bürgerrechten eines Bürgers der Vereinigten Staaten zu leben wünschen."

Der Flaggenwäscher


Die Flagge der USA, gewaschen vor den "Völkern der Welt", das gefällt Dean Reed , der "Blut und Qual von Millionen Menschen in vielen Ländern Südamerikas, Afrikas und Asiens, die gezwungen sind, in Elend und Ungerechtigkeit zu leben, weil die Regierung der Vereinigten Staaten die Diktaturen unterstützt" als seine eigene Verantwortung wahrnimmt. 

Die Liebe der Menschen in der DDR ist flüchtig, Und als sie fort ist, gewinnt er sie nicht zurück. Reeds Platten liegen wie Blei in den Läden. Neue Filmprojekte werden ihm zwar noch angeboten, aber nicht mehr verwirklicht. Dem Mann, der seiner Umwelt ganz amerikanisch stets beweisen wollte, dass er der Beste ist, tut das weh. Dean Reed beginnt zu trinken. Parallel streckt er seine Fühler zu alten Freunden nach Amerika aus, um vorzufühlen, wie es denn wäre, wenn er zurückkäme.

Anfang Juni 1986 erleidet er einen Herzanfall. Kurze Zeit darauf droht er nach einem Streit mit seiner Frau, sich umbringen zu wollen. An einem Tag im Juni 1986 verschwindet er plötzlich. Seine Witwe erinnert sich: Es ist ein Donnerstag, dieser 11. Juni, als Reed sich abends ins Auto setzt, angeblich um nach Babelsberg zu fahren. "Er packte seine Tasche und sagte, er gehe zu den Menschen, die ihn lieben. Dabei gab er jedoch kein konkretes Reiseziel an", berichtigte seine Frau später.  

Nie irgendwo angekommen


Wohin auch immer, nirgendwo ist Dean Reed je angekommen. Am Ufer des Zeuthener Sees bei Berlin wird Dean Reed wenige Tage später tot gefunden, in seinem Lada findet die Polizei erst vier Tage darauf einen 15-seitigen Abschiedsbrief: "Mein Tod hat nichts mit Politik zu tun", schreibt Reed darin, "aber ich kann keinen Weg finden aus meinen Problemen." Dennoch verschwindet das 15-seitige Schrfeiben bis zum Ende der DDR in den Stasi-Akten. 

Aber der Tod war ein Politikum allerersten Ranges. Honecker persönlich, den Reed im Brief ausdrücklich grüßt, gab die Parole vom Unglücksfall aus. Im Westen tauchte die Vermutung auf, die Stasi könnte den Künstler beseitigt haben, weil er plante, in die USA zurückzukehren. Bis heute halten sich Mutmaßungen, der Abschiedsbrief könne von der Stasi selbst verfasst worden sein. 

Reeds Urne wurde erst 1991 in die USA überführt.

Samstag, 30. Juni 2018

Defa-Filmlegenden: Trompeterlied im Schweinsgalopp

Es beginnt, wie solche Filme immer beginnen. Nur ein bisschen schneller. Der Trompeter hat wohl Jagdwurst gefressen, würde der Hallenser sagen, denn am Anfang des Defa-Filmes „Das Lied vom Trompeter“ eilt das bekannte Trompeterlied im Schweinsgalopp vorüber.

Das ist dennoch der echte, der völlig unverfälschte Konrad-Petzold-Klassiker aus dem Jahr 1964: Im Garten hinter dem Volkspark steht Günther Simon als Ernst „Teddy“ Thälmann, und schickt seinem Freund Fritz Weineck mit bebender Stimme ein paar rührende Worte hinterher. Dann reißen sich alle die Mützen vom Kopf. Fred Delmare als Kleckchen. Jürgen Frohriep. Und Rolf Römer.

Die Trompete weint aus dem Off herein. Der größte hallesche Lokalmythos der Neuzeit, er war jahrzehntelang vergessen, obwohl nicht nur die Trompetergeschichte selbst, sondern auch ihre Übersetzung in Propaganda-Kunst ein ganz und gar hallesches Thema war. Otto Gotsche, Sohn eines Eisleber Bergmannes, Widerstandskämpfer, Künstler und später SED-Funktionär, schrieb die ebenso rührende wie klassenkampftaugliche Tragödie des jungen Fritz Weineck auf, der die Musik liebt, aber im Kugelhagel einer arbeiterfeindlichen Soldateska stirbt, weil er seine Klasse nicht verrät. Vor dem Mauerbau geschrieben, wurde das Buch drei Jahre später zum Drehbuch.

 Die Defa-Gruppe „Konkret“ drehte an den Originalschauplätzen, so dass die 81 Minuten zu einer Zeitreise in ein Halle werden, dessen Hinterhöfe, Straßen und Plätze, Backsteinmauern und Ladeninschriften die 20er Jahre auch in den 60ern noch gut nachzustellen wussten. Horst Jonischkan spielt den Fritz Weineck als Träumer, der durch Glaucha läuft oder am Saaleufer sitzt und Mundharmonika spielt. „Ich möchte so gern Musik machen“, sagt er und schaut verloren über den Fluss.Es wird anders kommen, denn die Zeiten sind so.

 In satten Schwarz-weiß-Tönen mit Hilfe des Totalvision-verfahrens sparsam auf 35-Millimeter-Film, dennoch aber im Kino-Breitbildforma gedreht, benutzt der spätere Indianerfilm-Spezialist Petzold die Biografie des Bürstenbinders, der im Roten Frontkämpferbund seine Klassenwurzeln entdeckt, als Leinwand, auf der ein Zeitpanorama nach SED-Lehre abläuft: Reiche tragen Pelze, horten Würste und sprechen mit keifender stimme. Arme teilen gern, reden nachdenklich und tragen ihr Schicksal mit kämpferischem Mut. „Die Brigade Halle schlägt Dich kurz und klein, Du Arbeiterschwein“, singt die Konterrevolution im Keller, während Fritz Weineck sich schon entschlossen hat. „Ich lenk´ sie auf mich, ihr nehmt die Gewehre“, sagt er.

 Diesmal kriegen sie ihn noch nicht, doch der Kampf geht weiter und am Ende ist Fritz tot. Die Szenen im Volkspark, der viel kleiner scheint als in Wirklichkeit, sind beeindruckend dicht komponiert, doch die Dramaturgie folgt keiner Logik, sondern den Erfordernissen des politischen Kampfes: Der Saalschutz der Arbeiter formiert sich vor Teddy, dem Führer und KPD-Präsidentschaftskandidat. Ein heute nur noch als „Leutnant Pietzger“ bekannter Schutzpolizist schießt dennoch, während Fritz warnend seine Trompete bläst. Frauen schreien. Die Kamera wackelt. Ein Geländer bricht. Panik. Tod. Fritz springt Helga Göring bei, die seine Mutter spielt. Von hinten naht ein Schupomann und schießt ihm in den Rücken.

Eine Legende ist geboren, die auf DVD weitergeht.  Der Agitprop-Film von einst ist der Kultfilm von heute.


Filme aus Halle: „Fritz Weineck“ Horst Jonischkan spielt auch in der Konrad-Wolf-Verfilmung „Der geteilte Himmel“ mit, die auf Basis des gleichnamigen Buches von Christa Wolf entstand, das die Autorin während ihrer Jahre in Halle geschrieben hatte. Deshalb wurde auch in Halle gedreht, unter anderen im Waggonbau Ammendorf. Wolf hatte zuvor schon „Professor Mamlock" in Halle gedreht, vor allem eine Villa zwischen Kirchtor und Neuwerk spielt in dem Film eine große Rolle.

Drehort für den 2005 vom New Yorker Museum of Modern Art in New York gefeierten Film „Das zweite Gleis“ war dagegen der Güterbahnhof in Halle, "Rabenvater" mit Uwe Kickisch entstand im Jahr 1986 dann hauptsächlich in Halle-Neustadt. Die unweit von Halle gelegenen Muschelkalkhänge von Köllme wiederum dienten beim Indianerfilm "Die Söhne der großen Bärin" als Kulisse, während "Das Fahrrad“ Heidemarie Schneider in der Rolle einer alleinerziehenden Mutter Anfang der 80er Jahre zeigt, die in Halles Altstadt mit DDR-typischen Problemen fertigwerden muss.


Samstag, 16. Juni 2018

Alter Schlachthof Halle: Aufgerissene Eingeweide



Ganz zuletzt floß nur noch Kunstblut, einen Abend lang. Die Kapelle Gwar war zu Gast im Alten Schlachthof von Halle, einem aus Backsteinen gemauerten Stück Geschichte der einstigen Industriemetropole an der Saale. Seitdem verrottet und zerfällt das mäandernde Gelände direkt an den Gleisanlagen der Bundesbahn in aller Ruhe.

Nur gelegentlich kommen Grafittimaler und Verfassungsfeinde, um sich im Hinterhof zu sonnen und verbotene Parolen an die Fliesenwände zu krakeln. Autodiebe haben hier, wo früher Tiere zu Tausenden den Weg allen Fleisches gingen, um die unersättliche Stadt zu füttern, ihre überzählige Beute abgestellt. Zuhälter parken nicht mehr benötigte Wonnewagen. Aus dem Mauerwerk aber dringt kein Blut aus, nirgends, es ist totenstill, keine verlorene Kuhseele und kein Geist eines gemeuchelten Schweins spukt durch den Hallen.

"Vendetta" hat jemand mit augenfälliger Rechtschreibschwäche auf einen Wohnanhänger geschmiert, nebenan lagern arbeitsscheue Zeitungszusteller seit Jahren günstig die Blätter, die sie eigentlich austragen sollen. Vor drei Jahren brannte der Schlachthof zum ersten Mal, seitdem haben die feuer nie wieder richtig aufgehört, obwohl der Besitzer einmal wechselte und dann gleich noch einmal und frühere Pläne vom Aufbau einer neuen Art von Nachbarschaft angesichts dessen, was die neuen Investoren hier schaffen wollen, sehr bescheiden wirken.

Allein, es tut sich nichts. Das Areal am Güterbahnhof mit weitläufigen Markthallen, Wasserturm und Verwaltungsgebäude steht leer und verfällt, Handel, Künstleratelier, Wohnungen, bisher ist alles Schall und Rauch und bröcklige Wände. Das Projekt, wenn es wird, soll groß werden, riesig, die Krönung eines neuen Boomviertels, als das das Rathaus die nebenstehende Siedlung schon vor langer Zeit ausgerufen hat.

Freitag, 19. Januar 2018

Janis Joplin wird 75: Gottes Reibeisen

Am Tag vor ihrem Tod sang sie noch schnell das Lied ein, das das auch fast ein halbes Jahrhundert später jeder sofort im Ohr hat, der ihren Namen hört. „Oh Lord, won't you buy me a Mercedes Benz?“m, raspelte Janis Joplin ganz ohne instrumentale Begleitung, „my friends all drive Porsches, I must make amends“. Ein musikalischer Moment für die Unendlichkeit, keine zwei Minuten lang. 24 Stunden später war Janis Lyn Joplin, als Tochter eines Ölarbeiters im texanischen Port Arthur geboren, tot und das Popgeschäft um eines seiner größten Talente ärmer.

Debüt in der Entziehungsklinik


Janis Joplin war erst ganze vier Jahre dabei, wirklich professionell zu singen. Als Teenager hatte sie lieber gezeichnet, war von ihrer Mutter Dorothy, die einst selbst hatte Sängerin werden wollen, aber immer wieder motiviert worden, weiterzumachen. Mit 15 stand Janis zum ersten Mal auf der Bühne, fast ein wenig zynisch scheint mit Blick auf ihre spätere Laufbahn die Wahl des Auftrittsortes - einer Anstalt zur Reintegration von Alkohol- und Drogensüchtigen. Das Mädchen mit dem zupackenden Wesen, das den gängigen Schönheitsidealen der ätherischen Fee so gar nicht entsprechen wollte, ging nach dem Highschool-Abschluss nach Kalifornien, in die Stadt der Blumenkinder.

Hier in San Francisco schlug sie sich an der Seite Jorma Kaukonen, dem späteren Gitarrist von Jefferson Airplane, al Kneipensängerin durch, ohne großen Erfolg zu haben. Janis Joplin flüchtete nach Louisiana, wo sie kellnerte, und daheim in Texas nahm sie Anlauf, doch noch einen Collegeabschluss zu erwerben.

Gerade im rechten Moment aber meldete sich Chet Helms, ein früher Strippenzieher im Hippie-Universum. Dessen Band Big Brother and the Holding Company suchte eine Sängerin - der Beginn von Joplins Weltkarriere.

In den folgenden 36 Monaten veröffentlichte Janis Joplin drei Alben mit drei Bands, sie trat beim Monterey-Festival und in Woodstock auf, machte eine Europa-Tournee und flüchtete mittenfrin für eine Zeit nach Nepal. Ein Leben auf der Überholspur, gegossen in Songs wie „Piece of My Heart“ oder „Ball and Chain“, die Janis Joplin mit ihrer unverwechselbaren Stimme auf eine Weise interpretierte, dass das Struppige, Unkommerzielle ihres rüden Bluesrock ihrem Erfolg nicht im Wege stand, sondern ihn erst begründete.

Tragödie mit Drogen


Für die Künstlerin, gerade erst Mitte der 20, eine Tragödie. Ungeschützt einer Öffentlichkeit ausgesetzt, berauscht sich Janis Joplin an allem, was greifbar ist. Sie nimmt Heroin, raucht Marihuana und trinkt exzessiv. Auf der Bühne geht ihr zuweilen jede Kontrolle verloren - so wird sie wegen obszöner Sprache auf der Bühne zu einer Geldstrafe verurteilt und in einem anderen Prozess , angestrengt wegen der Beleidigung eines Polizisten, rettet sie nur das weite amerikanische Verständnis von Redefreiheit vor einer Verurteilung.

Nach dem gescheiterten Ausflug nach Nepal soll Südamerika helfen, Schluss zu machen mit den Drogen. Doch vorher muss noch das neue Album eingespielt werden, wieder mit einer neuen Band, die nun nicht mehr „Kozmic Blue“, sondern „Full Tilt Boogie“ hieß. Einen Monat lang dauerten die Aufnahmen im Sunset Sound Studios in Los Angeles, Janis Joplin wohnte derweil im nur fünf Minuten entfernten Landmark-Motel.

Am Tag, nachdem sie „Mercedes Benz“ eingesungen hatte, erschien Joplin nicht im Studio. Nach offiziellen Angaben starb Janis Joplin am 4. Oktober 1970 an einer Überdosis Heroin. Als ihr Manager John Cooke sie holen wollte, fand er Joplin tot in ihrem Zimmer. Beim Titel „Buried Alive in the Blues“ auf dem posthum veröffentlichten Album „Pearl“ fehlt der Gesang. Janis Joplin hätte das Stück erst am 5. Oktober 1970 einsingen sollen.

Samstag, 15. Juli 2017

Der Wutbürger



Ich schnaufe beim Joggen, obwohl es bergab geht. Das Holperpflaster, die Straße am Kindergarten. Alles frei, der vordere Fuß setzt auf, der hintere kommt. Und von links schießt ein silberfarbener Golf heran, ungebremst. Hinterm Lenkrad die Karikatur eines Autofahrers aus dem Witzheftchen: Jägerhütchen in beige, beige Outdoorjacke, weiße Socken in Sandalen, braune Hose.

Zentimeter vor meinem linken Knie stoppt die Stoßstange. Und schon kommt Jägerhütchen aus seiner Kabine geschossen. Er ist etwa Mitte 60, nicht dick, aber im Zustand fortschreitenden körperlichen Verfalls. "Ehhh, spinnst du", brüllt er noch im Öffnen der Fahrertür. "Du wohl eher", entgegne ich etwas kurzatmig. Ich bin stehengeblieben, zwei Meter von Jägerhut entfernt, etwa Fahrbahnmitte. Ich laufe hier seit 15 Jahren. Und wenn mein Fuß auf der Fahrbahn ist, dann dürfen alle Linksabbieger warten.

Das sage ich Jägerhütchen, der es anders sieht. "Reingesprungen" sei ich ihm, was nicht sein kann, weil er mit dem Heck noch immer auf der Straße steht, von der er kommt. Dort stauen sich inzwischen drei Autos, was den Jägerhut nicht stört. "Mal klarmachen" werde er mir die Verkehrsregeln, keucht er, nachdem ich ihm höflich bedeutet habe, was er mich kann. Der Golf des Mannes trägt ein Kennzeichen aus einer Gegend, wo sie Fleisch noch mit den Zähnen essen und auf den Straßen die PS-Zahl entscheiden lassen, wer Vorfahrt hat. Das hier ist Stadt, sage ich dem Jägerhut, da funktioniert das anders.

Glaubt er nicht. Der Jägerhut verschwindet für einen Moment wieder im Führerstand. Und dann taucht das ganze Männchen als Karikatur eines Wutbürgers wieder auf: In der Hand trägt der Safarimann jetzt einen fünfzig Zentimeter langen Knüppel, beste Buche, etwa vier Zentimeter stark. "Dir zeig´ ich´s gleich", ruft er, während er sich zu seiner vollen Körpergröße von 1,65 aufrichtet.

Ein Fehler. "Du machst einen großen Fehler", warne ich in Erinnerung an Abwehrreflexe aus der Schulzeit. Abschrecken durch Gelassenheit. Die Sonnenbrille hilft. Jägerhut wird langsamer, der Knüppel sinkt ein wenig. "Ruf lieber vorher noch jemanden an, damit dein Auto nicht die Kreuzung blockiert, wenn sie dich ins Krankenhaus fahren", höre ich mich sagen. Er ist jetzt nicht mehr sehr entschlossen, wirklich ernst zu machen. "Wenn du den Knüppel nicht in zwei Minuten im Hintern stecken haben willst, machst du dich besser vom Acker", schiebe ich hinterher, um einen Ton drohender Sachlichkeit bemüht.

Aber die Kränkung, Unrecht zu haben, vor einem Publikum, das inzwischen nicht mehr nur die Leute in der drei Autos hinter ihm, sondern auch ein halbes Dutzend Spaziergänger auf der anderen Straßenseite zählt, wiegt wohl schwerer. Er ist noch immer nach vorn unterwegs.

Volles Risiko. "Na, komm schon", rufe ich. An dem Punkt, so war das wenigstens früher, drehen die meisten ab.

Aber Jägerhütchen ist anders. In ihm pocht die Wut des Landbewohners auf die fremden Sitten der Stadt. Er mag sich benachteiligt führen, von der Regierung betrogen, von den Parteien, von der Rentenversicherung. Er ist nicht mehr bereit, das hinzunehmen, deshalb hat er ja den Knüppel griffbereit dabei. Und jetzt ist der Augenblick, wo er sich entschließt, zurückzuschlagen. Gegen mich. Obwohl ich ja weder die Regierung bin noch eine Partei noch die Rentenversicherung. Der Knüppel geht wieder nach oben und der Sandalenfuß kommt auf mich zu. Ende aller Gespräche.

Ich reiße mir die Regenjacke von der Hüfte, wo sie vorsichtshalber hängt. Gerade noch rechtzeitig. Als der erste Schlag kommt, fange ich ihn fast schon beiläufig mit der Jacke ab. Beide Handgelenke drehen sich ein wie hundertmal im Training geübt. Eine Schlaufe, die sich zuzieht und ihm den Buchenknüppel aus der Hand reißt. Jägerhut verzieht das Gesicht, als ihm meine freie Rechte eine Sekunde später kurz angesetzt auf die fleischige Nase kracht. Er taumelt jetzt und ehe er sich erholen kann, setze ich mit dem rechten Fuß nach. Sicher ist sicher. Von unten auf die Zwölf, Treffer. Jägerhut knickt ein wenig ein und bückt sich dabei direkt in meine Linke, die als Haken von unten kommt.

Wieder auf die Nase. Der Jägerhut purzelt vom Kopf, auf dem Outdoorwestenimitat von Karstadt glänzen Blutstropfen. "Ich habe dich gewarnt", knurre ich, ehe ich ihm die Rechte noch mal prophylaktisch aufs Ohr dresche. Meine Augen suchen nach dem Knüppel. Ahh, da ist er. Jägerhütchen ohne Jägerhut stöhnt leise, ich greife mir das Holz und knalle es ihm im Hochkommen von links gegen das Knie. Irgendetwas knackt und bricht, der Linksabbieger fällt nach rechts um und rührt sich nicht mehr.

Hinter seinem Golf hupt jetzt einer. Mehrere Passanten telefonieren, vermutlich mit der Polizei. Sollen sie doch, denke ich, er hatte ja den Knüppel. Er hat angefangen. Und was hat er davon geahbt.Ich bin jetzt in Euphorie, Adrenalin überall. Die vier Schritte zum Auto gehe ich ohne einen Gedanken daran, was ich dort will. Aber siehe: Auf dem Beifahrersitz Zigaretten, ein Feuerzeug, in der Fahrertürablage ein hübsch gefaltetes Putztuch.

Zack, habe ich den Tank geöffnet. Wupps, den Lappen in den Stutzen gewürgt. Und zisch angezündet. Ich lasse das Feuerzeug fallen, drehe ab und trabe ruhig davon. Der fährt nie wieder quer, denke ich zufrieden, während schwarze Wolken hinter mir aufsteigen

Aber natürlich nicht wirklich, denn in der Realität endete die Geschichte an der Stelle, wo ich "Na, komm schon" rufe.

Jägerhütchen wollte dann doch lieber nicht.

Kluge Wahl, so im Nachhinein betrachtet.

Freitag, 4. Dezember 2015

Oper an der Straßenecke

Frank Chaim Mylius ist bekanntlich der Paul Potts von Halle. Nach Jahren, die der in Budapest ausgebildete Kantor Kneipengäste mit seinem Gesang beglückte, überrascht er nun hin und wieder auch Passanten nach Mitternacht mit ausgesuchten Opernmelodien. Auswärtige staunen da, "was bei Euch hier so los ist", wundern sie sich. Erfahrene Nachtschwärmer dagegen singen kurzentschlossen mit - Mylius selbst übergibt die Bluetoothbox dann einen zufällig in der Nähe stehenden Zuhörer und erläutert mit rudernden Armen, wie die richtige Atemtechnik für "Nights in white satin" funktioniert.


Freitag, 3. Februar 2012

"Er hat gewußt, daß es so enden muß"

Der Totenschein ist ausgestellt auf den 25. Dezember 1992, 6.50 Uhr morgens. Und der Mann mit freiem Oberkörper, nach vorn gerutscht auf einer Bank, unter der neben seiner Jacke eine einzelne zerdrückte Bierbüchse liegt, ist schon eine ganze Weile tot. Ein ganz gewöhnlicher Feiertag bricht an. Die Sonne wird erst um 8.17 Uhr aufgehen; da liegt Volker Lampe (Name geändert), ein hagerer, tätowierter Kerl mit mittellangem, strähnigem Haar, schon seit mindestens drei Stunden tot. Todesursache: "Unterkühlung nach übermäßigem Alkoholgenuß."

"Er hat ja nie hören wollen", sagt die Mutter von ihrem Sohn. Auch diesmal nicht. "Bei zunehmendem Hochdruckeinfluß gelangt Sachsen-Anhalt in den Zustrom von Festlandsluft aus Osten", hat der Wetterbericht am Abend zuvor vernehmlich gewarnt, "die Temperaturen gehen auf Werte zwischen minus drei und minus acht Grad zurück." Kein Wetter, einen Rausch draußen auszuschlafen.

Für die Mutter, eine kleine, weißhaarige Dame, der das Leben auch mit 70 noch blitzende Funken aus den Augen sprühen läßt, ist Volker allerdings lange vorher gestorben. "1975", erzählt sie, "ist er von einem Tag auf den anderen ausgezogen." Der Sohn, das schwarze Schaf der Familie, ging ohne Gruß und ohne eine Adresse zu hinterlassen. Spurensuche. Dumm sei er nicht gewesen, ganz im Gegenteil.

Volker Lampe, geboren im Krisenjahr 1953 als Sohn des Montagearbeiters Werner und dessen Frau Heide, gilt in der Thalamtschule als "durchaus intelligent." Aber auch als faul. "Wenn er da war", erinnern sich seine Klassenlehrer, "dann war er gut." Aber allzu oft war er nicht da. "Aber was haben wir uns deshalb um den Jungen bemüht", schüttelt Frau Heide den Kopf, "es hat alles nichts genützt." Volker machte Ärger, wo immer er konnte. Schwänzte die Schule, trieb sich herum, ging später nicht zur Arbeit, trank, und geriet in Konflikt mit den strengen Asozialen-Paragraphen der DDR-Gesetze. "Er ist abgerutscht", gesteht seine Mutter mit feuchten Augen, "und wir haben es nicht geschafft, ihn vom Abgrund wegzuziehen."

"Aber Lampe wollte sich ja auch nicht helfen lassen", versichert Ilona, eine Freundin Volkers, "der war glücklich in seinem Elend." Es sei doch sein Leben, habe er auf Vorwürfe geantwortet, und mit "meinem Leben kann ich schließlich machen, was ich will." Ilona, die das erzählt, ist eine nette, rundliche junge Frau, die eine hübsche sechsjährige Tochter hat. Bei ihr und ihrem Mann Thomas hat Volker bis August letzten Jahres gewohnt. Immerhin vier Jahre lang - länger hat der gelernte Hilfsmaurer es nirgendwo ausgehalten.


Das sei wie eine "Krankheit" gewesen, beschreibt die Mutter mit fahrigen Handbewegungen. "Die ist immer wieder über ihn gekommen, man konnte da gar nichts machen." Zwanghaft entzog sich Volker allem, was ihm zu nahe kam. Fürsorge, Wärme, Vertrauen - all das machte ihm Angst. "Als er noch ein kleiner Junge war", denkt die Mutter zurück, "da hat er gern gestreichelt und geschmust - aber später nicht mehr." Unstet wurde Volker Lampe; unfähig, Bindungen einzugehen, flüchtete er in den Alkohol. "Drei Flaschen Schnaps täglich", gibt Ilona Schäfer als seine normale Tagesdosis an: "Wenn er die nicht hatte, konnte es schon sein, daß er blau anlief und stocksteif umfiel."

Trotz wiederholter ärztlicher Warnungen, daß "ohne eine Kur bald Schluß mit ihm sein wird" (Thomas Schäfer), soff Volker Lampe unbeeindruckt weiter. Eine Aufforderung, sich zwecks Untersuchung in der Psychatrie vorzustellen, beachtete er nicht, "weil er Angst hatte, daß sie ihn gleich dabehalten." Röntgenbilder, mit deren Hilfe die Spätfolgen eines Unfalls behandelt werden sollten, zerriß er ebenso wie seinen Personalausweis. Einen neuen beantragte er erst gar nicht mehr. Volker Lampe bezog weder Arbeitslosengeld hoch Sozialhilfe, er erhielt kein Wohngeld und war nicht sozialversichert. Unwillig, sich in geltende gesellschaftliche Normen einzupassen, wurde er am Ende sogar unfähig dazu, sich ins soziale Netz fallen zu lassen.

Dabei: Vier-, fünfmal nach seinem hastigen Auszug zu Hause schien Volker Lampe "auf die rechte Bahn" zu finden. Da war Marlies, die er Ende der Siebziger kennenlernte. "Ein ganz nettes Mädel", lobt die Mutter. Mit Marlies blieb Volker ein halbes Jahr zusammen - bis er wieder über Nacht verschwand. Plötzlich, "wie von einer großen inneren Unruhe getrieben", seufzt die Mutter, die behauptet, nicht geweint zu haben, als die Polizei am ersten Weihnachtsfeiertag mit der Nachricht vom Tod des Sohnes vor der Tür stand.

Die "große innere Unruhe" treibt Volker derweil weiter und weiter. Er lernt Jenny kennen, "verliebt sich in sie" (Heide Lampe) und türmt erneut, als er Verantwortung übernehmen soll. Lampe übernachtet bei wechselnden Saufkumpanen, flüchtet in die Alkohol-Sucht. Irgendwann muß ihn die Erkenntnis überfallen haben, daß er inzwischen 35 Jahre alt ist, aber immer noch nichts erreicht hat. "Der hatte keine Selbstachtung mehr, nur noch Selbstverachtung", analysiert Thomas Schäfer. Die Sucht drückt den Mann, der mit leuchtenden Augen Roy Orbison hören konnte und selber "ganz passabel Gitarre spielte", in die Kriminalität.

Die bringt ihn in den Knast. Fünfmal sitzt er ein: Mal wegen Einbruchs, mal wegen Körperverletzung. Zum letzten Mal verbringt Volker nach einem am 8. März 1990 begangenen dilettantischen Einbruchsversuch ein halbes Jahr in Untersuchungshaft. "Aber Knast", vermutet Ilona, "war ja für Volker keine Strafe - dort hatte er ja die richtig harten Leute erst kennengelernt."

Diese "Kumpels", die sich im "Grünen Winkel" neben dem halleschen Boulevard und an diversen Kiosken zu treffen pflegen, sind es nach Meinung von Ilonas Mann Thomas gewesen, "die den Volker immer wieder in die Gosse gezogen haben." "Er hatte Wochen, da lief es gut", meint Thomas, "aber dann hat er wieder einen von denen getroffen und sofort ging das Theater von vorn los."


Kaum verwunderlich, daß Schäfers aufatmen, als Volker im August letzten Jahres geht. "Der ist mit einem Mal aufgestanden", erzählt Thomas, "und hat nicht mal seine Jacke mitgenommen." Sie haben ihn nicht gesucht.


Die letzten Monate im Leben des Volker L. lassen sich nur sehr grob rekonstruieren. Die letzte Brücke ins normale Leben ist abgebrochen - bekleidet mit einem Hemd, einer Hose und einem Paar ausgetretener Schuhe vegetiert der 40jährige, der immer öfter an krankhaften Schweißausbrüchen, Sprachstörungen und Schwächeanfällen gelitten haben muß, im und am Hauptbahnhof. Er, der längst in ein geschlossenes Sanatorium gehört hätte, schläft anfangs noch bei Kumpels aus dem Milieu, doch als deren Wohnung in der Merseburger Straße ausbrennt und einer der beiden Wohnungsbesitzer inhaftiert wird, bezieht Lampe die letzte Adresse seiner Reise ins Nichts.

Das Bahnhofsklo. Er lebt jetzt von kleinen Einbrüchen. Bei einem Ladendiebstahl wird er Mitte Oktober erwischt, anschließend aber gleich wieder laufengelassen. Eine Bekannte von Ilona Schäfer sieht den Mann, der mehr und mehr einem in Lumpen gehüllten menschlichen Wrack gleicht, im November noch einmal zitternd im Fußgängertunnel zwischen Riebeckplatz und Bahnhof stehen und betteln. Im Dezember gerät er anscheinend in eine schwere Prügelei, bei der er sich ein schweres Schädeltrauma zuzieht. Die Polizei findet später Krankenhaus-Entlassungspapiere bei der Leiche, datiert auf den 24.12. 1992.

Den ersten Abend nach seiner Entlassung, den letzten seines verpfuschten Lebens, verbringt Lampe wahrscheinlich auf dem Bahnhof. Aber gesehen will ihn dort niemand haben. Die Männer, die Tag für Tag wie festgeschweißt am Bahnhofskiosk stehen, geben vor, einen Volker Lampe nie gekannt zu haben. Auf einem Foto erkennen sie ihn nicht.

Ilona und Thomas Schäfer verwischen die Schuldgefühle, die Volker nebst zweier Koffer mit schmutziger Wäsche in der Mansardenwohnung am Steintor hinterließ. "Der hat immer gewußt, daß es mal so enden wird - und nun hat er halt seinen Willen", kommentiert die 27jährige Ilona trocken, "das war wahrscheinlich das Beste, was dem noch passieren konnte."

Heide Lampe hat inzwischen die Beerdigungsformalitäten erledigt. Volker wird ohne Grabstein beerdigt. Über Tote nichts Schlechtes, sagt sie, eine Trauerrede wird es nicht geben. "Was", schluckt die alte Dame, "hätte ein Trauerredner denn sagen sollen?"