Samstag, 23. Januar 2021

Gerd Weber: Der verratene Verräter



Der Dresdner Fußballer Gerd Weber galt als die große Mittelfeld-Hoffnung des DDR-Fußballs, bis er kurz vor einem Flug nach Südamerika für immer aus der Öffentlichkeit verschwand. Die DDR-Staatsführungen vertuschten die genauen Umstände des Falles. Einer der talentiertesten Fußballer verlor die Chance auf eine Weltkarriere.

Diesmal ist die Stasi völlig ahnungslos. Erst Anfang September 1989 verfasst Oberst Tzscheutschler vom Dresdner MfS einen "Sofortbericht": Gerd Weber, ein Jahrzehnt zuvor die große Mittelfeld-Hoffnung des DDR-Fußballs, ist gemeinsam mit seiner Frau Steffi und der sechsjährigen Tochter Franziska während einer Urlaubsreise nach Ungarn über die Grenze nach Österreich geflohen. Ein allerletztes Mal wird der frühere Nationalspieler, der Star von Dynamo Dresden und spätere Staatsfeind Thema im MfS. Ein paar karge Seiten Akte. Eine Notiz, dass er weg ist.

Ende einer Flucht


Es ist das Ende einer langen Flucht, die eigentlich bereits acht Jahre zuvor begonnen hat. Weber, das größte Talent des DDR-Fußballs seit Bernd Bransch, Dixie Dörner und Hansi Kreische, sehnt sich eigentlich nach einer internationalen Karriere. Der 24-Jährige plant seine Flucht - während einer Südamerikareise der DDR-Nationalelf will er sich absetzen. 


Doch Weber wird verraten, ein Stasi-Kommando nimmt ihn vier Stunden vor dem Abflug fest. Es folgen Verhöre, Verurteilung, Verbannung. Der begnadete Kicker darf nicht mehr Fußball spielen. Er stellt einen Ausreiseantrag, doch der wird abgelehnt. Weber bleibt nur die Flucht. Noch nach Bekanntwerden seines Abgangs erweitert das MfS seinen "Ratte" genannten Aktenvorgang zu Weber um eine Anzeige wegen Republikflucht. Die sogenannte Operative Personenkontrolle wird erst am 28. Oktober 1989 eingestellt. Auch da, nur wenige Tage vor dem Ende der Mauer und der deutschen Teilung, heißt es noch: "Die eingeleiteten Kontrollmaßnahmen werden aufrechterhalten." 

Die Geschichte des Dynamo-Kickers Gerd Weber ist die einer zerstörten Karriere, betrieben von einem Staat, der vernichtete, was ihm verdächtig erschien. Aber es ist aber auch die Geschichte eines Verräters, der selbst verraten wird, nachdem er jahrelang einem Ministerium zu Diensten war, dass ihn für seine Zwecke missbrauchte.

Eine Entscheidung


Dreieinhalb Stunden hatten Leutnant Andreas Claus und Major Helmut Dinter vor der Tür gewartet, an jenem vorletzten Tag des Jahres 1980. Claus klingelte mehrmals. Dinter blieb gedeckt im Wartburg. "Aber der IM", berichteten die MfS-Offiziere in die Dresdner Stasi-Zentrale, "öffnete uns nicht." Kein Wunder, denn der IM, der sich selbst fünf Jahre zuvor den Namen "Wiehland" ausgesucht hatte, hockte zur selben Zeit in einem Hotelzimmer in Oberhof. Er war in die stille Idylle geflüchtet, um eine Entscheidung zu treffen - und er hatte sie getroffen. 

Am Silvesterabend war Gerd Weber, von seinen Fans als genialster DDR-Fußballer seiner Zeit gerühmt, in Gedanken bereits über alle Berge: Vier Wochen nur trennten den 24-jährigen Mittelfeldspieler des Traditionsvereines Dynamo Dresden von der Flucht in den Westen. Zu der es dann aber nie kam. Statt ein Flugzeug nach Argentinien zu besteigen, musste Weber am 23. Januar 1981 in einen Stasi-Barkas klettern. Und statt wie erhofft in der Bundesliga zu spielen, putzte er nach der Beendigung seines falles durch die DDR-Behörden Kurbelwellen und Getriebe. 

Aus für den Profi


Professionell Fußball gespielt hat Weber nie wieder. Dokumente, die später bei der Gauck-Behörde aufgetaucht sind, erzählen die Geschichte des Gerd Weber aber auch als die Geschichte eines Mannes, der im Zwiespalt zwischen kleinen Erfolgen und großen Träumen die Träume wählte - und so vom Täter zum Opfer wurde. 

Ins Visier der Staatssicherheit war Weber schon früh geraten. 1971 kommt der talentierte Junge an die Dresdner Kinder- und Jugendsportschule, dort spielt er sich in allen Altersklassen unter die Besten. Das fällt auf, auch der Stasi, die den Jungen auf Reisen nach Kuba und Italien im Auge behält. Weber ist 19 Jahre alt, als das MfS sicher ist: Hier läuft ein künftiger Weltklassespieler. 

Ein "Perspektivkader", wie es im IM-Vorlaufbericht heißt. Einer also, der gute Dienste nicht nur auf dem Feld leisten wird, zum Ruhm der DDR-Sportnation. Sondern auch bei der Sicherung künftiger Auslandsreisen des Nationalteams, aus dem immer wieder einzelne Spieler den Weg in den Westen gefunden haben. Das MfS irrt nicht. Weber ist bald nicht mehr wegzudenken aus der Elf der Dynamos, schnell gelingt ihm auch der Sprung in die Nationalelf. 

Berichte aus dem Innenleben


Vier Jahre berichtet Weber als "Wiehland" aus dem Innenleben beider Teams, er liefert Interna und bringt Zettel mit Aufstellungen mit in den konspirativen Treff "Puck". Gerd Weber spielt doppelt: Auf dem Platz rückt der "Fan moderner Tanzmusik" (MfS-Akte) schnell zu einer der bestimmenden Figuren auf. Und nach dem Spiel ist er der Stasi ein unersetzlicher Informant. Denn die Angst geht um in der Sport-DDR. 

Mit den halleschen Fußballern Pahl und Nachtweih, dem Berliner Eigendorf und dem Leipziger Berger haben eben vier Fußball-Stars das Land verlassen. "Es darf keine Wiederholung geben", fordert Stasi-Chef Mielke. Weber ist so längst selbst Gegenstand von Sicherungsmaßnahmen. Schon im Mai 1979 bringt sich ein MfS-Kommando in den Besitz seiner Schlüssel. Gedeckt von Posten, die als Handwerker verkleidet sind, durchwühlt die Einheit die Weber-Wohnung auf der Suche nach "Beweisen für Kontaktaufnahme zu Verrätern". Die Stasi findet nichts. Weber bemerkt nichts. 

Erst als Dynamo im Oktober 1980 zum Uefa-Cup-Spiel im holländischen Enschede im Hotel "Memphis" eincheckt, gelingt es zwei in den Westen geflüchteten Dynamo-Fans, Weber und seine Kollegen Matthias Müller und Peter Kotte zu kontaktieren. 200 000 Mark und ein Vertrag beim 1. FC Köln lautet das zugeflüsterte Angebot. "Draußen steht ein Benz, steigt ein!" 

Wie im Agentenfilm


Gerd Weber fühlt sich wie in einen Agentenfilm versetzt. Mit Kotte und Müller kommt er überein, dass jeder für sich entscheiden soll. Er selbst, der seine Fähigkeiten in Dresden nicht genügend geschätzt sieht, fühlt sich zu sehr geschmeichelt vom Vergleich mit Größen wie Overath und Netzer, als dass er hätte ablehnen können - Weber kehrt zurück in die DDR, um bei nächster Gelegenheit zu fliehen.

Doch ausgerechnet über einen Stasi-IM, den sie aus alten Zeiten in der Dresdner Fankurve kennen, nehmen die Kölner Dynamo-Fans wieder Kontakt zu ihm auf. Ein Steilpaß für die Stasi: Der Hotel-Koch Michael Juraske alias IM Klaus Ihle, locker befreundet mit Weber, soll mit dem Fußballer einen Treff-Termin ausmachen. 

Er tut das - und informiert das MfS. Von diesem Moment an ist Gerd Weber verloren. Während er noch verhandelt, um auch seine Freundin außer Landes schmuggeln zu lassen, ist sein eigene Flucht gescheitert, ehe sie begonnen hat. So weiß das MfS vor der Argentinien-Reise genau, dass Weber nicht zurückkehren will. "Mannschaft fliegt, drei heraus", bestimmt Erich Mielke, und wie befohlen fängt ein Festnahme-Trupp die Fußballer auf dem Flughafen Schönefeld ab. 

Ausschluss aus dem Sportverband


Mehrere Tage wird Gerd Weber verhört. Noch ehe Anfang Februar eine vom MfS formulierte Pressemeldung die Fans über seinen Ausschluss aus dem Sportverband wegen "Verstoß gegen die Statuten des DTSB" informiert, ist der Sportler zu zwei Jahren und drei Monaten wegen "landesverräterischer Agententätigkeit" verurteilt. Während Dynamo Dresden ohne seine drei Stars nach unten durchgereicht wird in der DDR-Oberligatabelle, beginnt ein Vernichtungsfeldzug gegen den Sportler. 

Er wird aus der SED ausgeschlossen, verliert die Stellung als "Sportinstrukteur", seinen VP-Dienstgrad und alle Rentenansprüche. Nach der Haftentlassung wartet eine Stelle als Schlosser auf den Hoffnungsträger des DDR-Fußballs, der jetzt als "OPK Schlosser" von sieben IM überwacht wird. Es gibt keine Gnade für den "Verräter". Kotte und Müller hat man zwar für die obersten Ligen gesperrt, und als Torjäger Kotte seinen neuen Verein Meißen sofort in die 2. Liga schießt, muss er die Mannschaft verlassen. 

Doch Rädelsführer Weber, Träger des Vaterländischen Verdienstordens, darf überhaupt nicht mehr Fußball spielen. Angst um Gesundheit "Eine Belastung, die mich fast umbringt", diktiert der Kicker der Stasi, die sich weiter mit ihm trifft, um ihn unter Kontrolle zu behalten. Man habe ihn nicht abtrainieren lassen, ihm drohten dadurch gesundheitliche Schäden, befürchtet er. Fürsorglich rät die Stasi, Weber solle doch Tennisspielen gehen. 

Nur noch im Park


Doch das ist kein Ersatz. Gerd Weber, der begnadete Mittelfeldregisseur, beginnt, Freizeitfußball in Dresdner Parks zu spielen. "Ich mache mich da gegen Bierbäuche und Holzhacker zum Äppel", scherzt er - bis das MfS ihm auch den Freizeitkick im Park untersagt. Der Kontakt zu den ehemaligen Mitspielern ist da längst abgerissen, auch Kotte und Müller hat Weber nicht wieder gesehen. Er wolle ja "nur noch in Ruhe gelassen werden", bittet er seinen Führungsoffizier. 

Aber einmal gefährlich, immer Gefahr: Als die Uefa in Dresden tagt, schafft ihn die Stasi vorher aus der Stadt, um "Störungen zu vermeiden". So zwingt die Staatsmacht ihren Zuträger in die Opposition. Zuerst sagt Weber bei den Treffen wenig, dann nichts mehr. Schließlich warten die Offiziere vergebens auf ihn. Zur Wahl 1986 fällt Weber als "Nichtwähler" auf, 1987 stellt er mit seiner Frau Steffi und Tochter Franziska einen Ausreiseantrag. Nun erst bietet die Stasi dem verbitterten Mann im Zentrum des OPK-Vorgangs "Ratte" eine Rückkehr in den Sport an. Weber lehnt ab. 

Über Ungarn weg


Zu spät, sagt er, "das hättet ihr euch früher überlegen müssen". Zwei Jahre vergehen noch, ehe Gerd Weber am 31. August 1989 mit seiner Familie in Ungarn durch einen zerschnittenen Grenzzaun in den Westen kriecht. Der Fußballer ist 33 Jahre alt. Zu alt für die Bundesliga, von der er geträumt hat. Der begnadete DDR-Fußballer im Visier der Staatssicherheit: Heute arbeitet Gerd Weber als Schadensexperte für eine Versicherung in Freiburg. "Von den alten Geschichten will er nichts mehr hören", sagt sein früherer Mannschaftskamerad und langjähriger Freund Dieter Riedel später: "Gerd hat zu böse bezahlt für alles."

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