Posts mit dem Label Natur werden angezeigt. Alle Posts anzeigen
Posts mit dem Label Natur werden angezeigt. Alle Posts anzeigen

Donnerstag, 4. März 2021

Weiter nach Norden: Wanderung durch ein geschlossenes Gebiet


Es ist das 30. Jahr nach der Wiedervereinigung, als uns ein bizarrer Plan einfällt: Seit Jahren hatten wir vor, auf dem Kolonnenweg an der ehemaligen Grenze zwischen den beiden deutschen Staaten entlangzuwandern. Dieser sogenannte Kolonnenweg ist insgesamt 1.400 Kilometer lang, eine zweispurige Linie längs durchs Land.


Dort suchen wir nach dem, was übriggeblieben ist nach drei Jahrzehnten Einheit, danach, was die Natur uns aus der Vergangenheit erzählt und was die Menschen über die Vergangenheit, die Gegenwart und die Zukunft sagen.

Auf dem weiteren Weg zu einem kleinen Nest namens Wendischthun treffe ich dann meine Vorfahren. Direkt am Ufer der Elbe gibt es einen Ort namens "Konau", knapp vorbei, aber naja. Das Nest ist winzig, kleiner noch als jedes andere auf dem Weg. Nur ein paar Gehöfte, ein paar Scheunen, zwei Hunde. Niemand ist auf der Straße. Aber zumindest ist Konau fast ein Weltkulturerbe - ein Marschlanddorf, das vor Jahren sogar mal Teil der Weltausstellung "Expo" gewesen sein soll, weil hier im Sperrgebiet an der ehemaligen Grenze Blumen, Pflanzen und Tiere überlebt haben, die sonst nirgendwo zu finden sind. 


Es gibt auch eine Ausstellung darüber, die jedoch wegen Corona geschlossen ist. Ebenso wie das Hofcafé, auf das wir große Hoffnungen gesetzt hatten, weil wir unsere leeren Flaschen mit Wasser füllen müssen. So wird der Weg wieder lang und die nächste Pause findet am Elbufer statt, das wie immer verlockend aussieht, aber meist kaum zugänglich ist. Die Weiden sind fast überall abgesperrt, es gibt nie Wege nach unten. Nur hier kommen wir endlich doch mal runter zum Wasser, auf dem wie immer kein einziges Boot, Kanu oder gar Schiff vorbeifährt. Mit Ausnahme einiger Arbeiter mit einem Bagger ist die Elbwasserstraße leer, obwohl vom vielbeschworenen Niedrigwasser nichts zu sehen ist. 


Die Elbe ist aber wirklich idyllisch. Je weiter wir nach Norden kommen, desto mehr weiße Sandstrände gibt es am Ufer zwischen den Buhnen. Sie laden zum Landen, Verweilen und Schwimmen ein. Aber es ist niemand da, der den ruhig fließenden Fluss nutzt, um sich zu entspannen und den malerischen Himmel zu bewundern, der an die Weite des Himmelszeltes in Skandinavien erinnert. Nur leere Orte, niemand da, niemand um uns herum. Deutschlands längster Wanderweg ist einer ganz ohne Wanderer. 

Auf einmal spricht uns aber einer der Radfahrer an, Heinz von Zella-Mehlis, der nicht nur Kilometer sammelt, sondern auch Geschichten auf dem Weg. Er selbst ist auf dem Weg nach Schwerin, hat aber gerade ein bisschen die Richtung verloren. "Mal sehen, wohin es mich führt", sagt er. Heinz hat Zeit, Zeit genug, um sein Rad in einem Tempo neben uns herzuschieben, das er wahrscheinlich für sehr gemächlich hält. Aber Heinz trägt auch keinen Sack Zement als Rucksack, sondern nur ein Notizbuch, in das er auf dem Weg notiert, was am Ende ein Buches über seine Reise werden soll. 


"Habt ihr den Mann mit dem Kinderwagen über den Damm rennen sehen?", fragt er. Ja, das haben wir und wir nicken atemlos. Er sagte: "Da ist kein Kind drin, sondern das Gepäck." Ja wirklich? Atemloses Nicken. Ja! "Er rennt von Dresden nach Hamburg", beschreibt Heinz seine Begegnung mit dem Extremsportler, der an uns vorbeiflog, so dass wir dachten, er sei ein junger Vater, der sein Kind auf seiner morgendlichen Joggingrunde mitnimmt.   Wir erzählen Heinz von Elisabeth, der 70-jährigen Erfurterin, die allein von Travemünde nach Thüringen läuft und die einzige Wanderin gewesen ist, die wir bis dahin getroffen hatten. "Mist, die habe ich verpasst", beklagt sich Heinz und notiert, dass Elisabeth dank ihres kleinen Rucksacks und vieler vorgebuchter Übernachtungen in Pensionen mehr als 25 Kilometer pro Tag hinter sich bringt. Heinz scheint beeindruckt zu sein. Das fahre er etwa mit dem Rad, sagt er. 


Auf dem Deich weiden Schafe, Kühe und Pferde und als wir endlich die Räucherei in Stiepelse erreichen, hängt Kneiper Jürgen gerade das "Geschlossen"-Schild raus.   Das kannst du nicht machen!, beklage ich mich. Jürgen sieht die Rucksäcke und versteht. Natürlich, denn der große, dünne Mann im viel zu weiten Pullover hat eindeutig ein Herz für seltsame Vögel - Heinz ist ja auch schon da. Jürgen hat sein Leben als Musiker verbracht und unter anderem Bass für Udo Lindenberg und Gunter Gabriel gespielt. "Bis zu seinem Tod war Gunter immer wieder hier und trat bei mir auf", erzählt er stolz und Fotos von sich und allerhand Stars. Heinz zückt seine Kamera und staunt. "Sogar Prominente hier", lobt er - "und natürlich meine verrückten Wanderer." 


Die wenden sich nun Wendischthun zu, einem kleinen Flecken, in dem wir unser Zelt in einem Apfelgarten aufschlagen, der wie ein Paradies aussieht. Die Bäume sind grün, die Äpfel rot und Heike, die Chefin der „Alten Schule“, hat sogar kaltes Bier. Nur wenige Meter entfernt baut Kai sein kleines Zelt auf, ein Radfahrer, der aus Dresden kommt. Er ist erst seit drei Tagen unterwegs und hat schon 400 Kilometer weg. Weitere 400 braucht er noch bis Kopenhagen. Ein junger Sportler, sehr cool und trainiert. Bevor wir unser drittes Bier geöffnet haben, schläft er direkt vor uns ein.

Bericht auf Englisch



Donnerstag, 28. Januar 2021

Über die Grenze: Zurück in die DDR


Es ist das 30. Jahr nach der Wiedervereinigung, als uns ein bizarrer Plan einfällt: Seit Jahren hatten wir vor, auf dem Kolonnenweg an der ehemaligen Grenze zwischen den beiden deutschen Staaten entlangzuwandern. Dieser sogenannte Kolonnenweg ist insgesamt 1.400 Kilometer lang, eine zweispurige Linie längs durchs Land.


Dort suchen wir nach dem, was übriggeblieben ist nach drei Jahrzehnten Einheit, danach, was die Natur uns aus der Vergangenheit erzählt und was die Menschen über die Vergangenheit, die Gegenwart und die Zukunft sagen.


Vorige Folge hier

Zurück auf der Ostseite, die inzwischen im – politischen - Westen liegt, sind die Radfahrer schlagartig wieder da, aber auch die wunderbaren Ausblicke auf die Elbelandschaft. Man hat immer einen weiten Blick in die Auenlandschaft, die aussieht wie eine Gegend aus „Herr der Ringe". Uralte Bäume, kleine Strände, weite Wiesen und alte Häuser mit Strohdächern wechseln sich ab mit Strecken, auf denen der alte Kolonnenweg halb überwachsen neben dem Damm entlangläuft. 

Dass auf der anderen Seite drüben der Atommüll der alten Bundesrepublik vergraben liegt, tief in der Erde, ist nicht zu erahnen. Aber unverkennbar ist, warum er ausgerechnet dort landete, ganz an den Rändern der beiden Länder, die ja nicht ahnen konnten, dass sie sich eines Tages wiedervereinigen würden. 


Kaum jemand lebt hier, nur Menschen wie Erika, die der Liebe wegen nach dem Mauerfall hergezogen ist. Damals musste viel Land neu vermessen werden, erzählt sie, die eigentlich aus Thüringen stammt und dort einen Landvermesser kennenlernte. Die Liebe ihres Lebens, der folgt sie einfach. "Hier haben wir damals genügend Platz für unsere Vermessungsfirma gefunden", sagt sie. 

Niemand wollte in diese Ecke, wo nichts war, nur der Atommüll auf der anderen Elbseite. Als dann eines Tages so ziemlich alles vermessen war, hatte das Ingenieurbüro des Paares nicht mehr genug zu tun. Aber das alte Bauerngehöft direkt am Damm stellte sich als idealer Ort heraus, eine Pension für das neuerdings als unablässiger Strom vorbeirauschende Heer der Radfahrer zu gründen.


"Im Herbst und im Winter ist es hier sehr still", erzählt Erika und am Abend bekommt man einen guten Eindruck davon. Die Sonne versinkt hinter der Elbe und abgesehen von ein paar Männern, die eine Schafherde recht handfest in einen Hänger drücken, um sie auf eine neue Weide zu fahren, ist niemand zu sehen. Eine Idylle im Abendlicht, über der die Blätter leise rauschen, während man seinen Gedanken nachhängt und mit dem Vorgefühl hadert, am nächsten Tag wieder diesen elend schweren Rucksack schultern zu müssen.


Eigentlich hat man sich an die 20 Kilogramm ja gut gewöhnt nach einer Woche. Es drückt nicht mehr immer und überall und alle Gurte sitzen meist am richtigen Fleck. "Dass ihr das durchhaltet, ist ganz erstaunlich", sagt ein Mann, der an diesem Abend mit seiner Frau neben uns auf dem Damm sitzt und den Schafen zuschaut, die sich ein wenig dagegen wehren, in den Transporthänger gedrückt zu werden.

Das Paar ist mit dem Fahrrad unterwegs, eigentlich aber mit dem Auto. "Wir fahren von Pension zu Pension", sagt sie, "und zwischendurch entdecken wir diese ganz unbekannte Landschaft vom Sattel aus." Eine etwas leichtere Variante als unsere, die aber zum selben Ergebnis führt: "Es ist so schön hier wie im Märchen", sagt die Frau.



Sonntag, 20. Dezember 2020

Wandern in die Vergangenheit: Von wegen sieben Brücken


Es ist das 30. Jahr nach der Wiedervereinigung, als uns ein bizarrer Plan einfällt: Seit Jahren hatten wir vor, auf dem Kolonnenweg an der ehemaligen Grenze zwischen den beiden deutschen Staaten entlangzuwandern. Dieser sogenannte Kolonnenweg ist insgesamt 1.400 Kilometer lang, eine zweispurige Linie längs durchs Land.


Dort suchen wir nach dem, was übriggeblieben ist nach drei Jahrzehnten Einheit, danach, was die Natur uns aus der Vergangenheit erzählt und was die Menschen über die Vergangenheit, die Gegenwart und die Zukunft sagen.


Vorige Folge: Hier

Der Mensch ist ein seltsames Tier. Er will immer das, was er nicht hat. Und wenn er es bekommt, ist er enttäuscht, marschiert aber weiter, wie Mike Peters von der Band The Alarm singt. Nach einem schönen und sonnigen Spaziergang entlang der Dämme von Hitzacker - schwer sind nur die 20 Kilogramm, die wir jeweils zu tragen haben - stolpern wir heute also in ein Dorf namens Neu-Darchau, direkt am Elbeufer. 


Schon der Name lässt vermuten, dass hier irgendwann einmal etwas passiert ist: Darchau liegt auf der Ostseite der Elbe, "Neu" heißt das hier, weil das mehr als 40 Jahre alte und das neue Darchau voneinander getrennt wurden, als die Elbe zur Grenze zwischen Ost und west wurde. Familien konnten danach nicht mehr zusammenkommen, Brüder konnten einander nicht besuchen, Kinder konnten ihre Eltern jahrzehntelang nicht sehen. Selbst wer von den DDR-Behörden eine Einreisegenehmigung erhielt, musste lange Umwege machen, um die wenigen Meter zum anderen Ufer zu überqueren. Zwischen Darchau im Osten und Neu-Darchau im Westen gab weder eine Brücke noch eine Fähre.

Düsterer Spaß in Neu-Darchau

30 Jahre nach dem Mauerfall und dem Ende der DDR ist zumindest die Fähre da. Aber eine Brücke? Nein. Und das ist besonders merkwürdig, weil die Weltgeschichte sich ausgerechnet hier einen ziemlich düsteren Spaß erlaubt: Wenige Meter hinter Neu-Darchau, das im Landkreis Lüchow-Dannenberg liegt, beginnt der Landkreis Lüneburg, der sich bis Kriegsende bis hinüber auf die andere Elbseite erstreckte. Die Alliierten beschlossen aber der Einfachheit halber, auch hier eine Grenze in der Mitte des Flusses zu ziehen. Alle Niedersachsen, die im Osten lebten, wurden mit einem Federstrich DDR-Bürger. Wenn sie nicht so schnell wie möglich flüchteten.


Wenn man seinen Rucksack durch diese Landschaft aus alten Bäumen, weiten Wiesen und lächelnden Kühen schleppt, bekommt man nie eine Vorstellung davon, wie fürchterlich hier alles noch vor 40 Jahren gewesen sein muss. Erst nach dem Fall der Mauer und der deutschen Wiedervereinigung, erzählt Angelika, die in Neu-Darchau lebt, konnten Verwandte und Freunde wieder zusammenkommen. Und nach einer Bürgerentscheidung beschloss der Ostteil des Landkreises Lüneburg dann auch ganz schnell, sich wieder mit seinem früheren Westteil zusammenschließen zu wollen. Leider ohne direkte Verbindung: Außer zwei Fähren gibt es nichts bis nach Lüneburg. "Und deshalb führt für uns im Winter bei Eis und im Sommer bei Niedrigwasser keinen Weg hinüber".


Eine neue Brücke soll also schon lange gebaut werden, eigentlich vom ersten Tag der kleinen Wiedervereinigung an. Aber leider liegt der beste Ort dafür nicht im Landkreis Lüneburg, wie Katrin beschreibt, der in Neu-Darchau lebt und ein entschiedener Brückenbefürworter ist. Sondern in Neu-Darchau, nebenan im Landkreis Lüchow-Dannenberg.  "Ich finde es gut", sagt Katrin, "aber viele sehen das eben anders."

Je neuer, desto dagegener

Vor allem die vielen Flüchtlinge aus den Großstädten Hamburg und Hannover, die sich hier in den alten bundesdeutschen Tagen der Ruhe in der ehemaligen Grenzregion angesiedelt haben, möchten lieber am Ende einer Sackgasse weiterleben. "Dass die Bauern zur Ernte dorthin hinüber müssen, interessiert die ebenso wenig wie die Probleme der Menschen, die zu Niedersachsen gehören, dort aber im Osten völlig abgeschnitten sind", schimpft Katrin.


Deshalb hängen überall in der Stadt Plakate. Keine Brücke! Ja zur Brücke! Seit Jahren gibt es Streit, denn die Zeiten sind vorbei, in denen, wie vor 30 Jahren in Dömitz, Sehnsucht und Entschlossenheit innerhalb von nur zwei Jahren aus dem Nichts eine riesige Brücke entstehen ließen. Heute braucht es unendlich viel Zeit, unendlich viele Auseinandersetzungen, Streit und Zwietracht. Und am Ende wird doch nicht gebaut, Jahr um Jahr.

Also nehmen wir wie alle die Fähre, die hier "Tanja"  heißt, und es dauert fünf Minuten, um den Fluss zu überqueren. Auf der anderen Seite sind wir wieder im ehemaligen Osten, in einem Stück der ehemaligen DDR, das aber jetzt zu Niedersachsen gehört. 

Westen im Ostens., Brüder ohne Brücke. Was für ein verrückter Weg.

Englische Version: Here





Sonntag, 6. Dezember 2020

Iron Curtain Trail: In den goldenen Westen


Es ist das 30. Jahr nach der Wiedervereinigung, als uns ein bizarrer Plan einfällt: Seit Jahren hatten wir vor, auf dem Kolonnenweg an der ehemaligen Grenze zwischen den beiden deutschen Staaten entlangzuwandern. Dieser sogenannte Kolonnenweg ist insgesamt 1.400 Kilometer lang, eine zweispurige Linie längs durchs Land. 
Dort suchen wir nach dem, was übriggeblieben ist nach drei Jahrzehnten Einheit, danach, was die Natur uns aus der Vergangenheit erzählt und was die Menschen über die Vergangenheit, die Gegenwart und die Zukunft sagen. 




Ja, das muss der goldene Westen sein. Aber leider sieht das Gras auf der anderen Seite der Elbe das Gras nicht grüner aus als im Osten. Wir sind auf dem Weg nach Hitzacker und wir befinden uns mitten in einem Gebiet, das berühmt ist für Atommüll, jahrzehntelange Proteste gegen Atommüll und riesige Polizeiaktionen gegen diese Proteste. Ein gelbes "X" auf vielen Zäunen erinnert an diese Zeit der Angst und der Wut, aber das ist heute alles. 


Gorleben, die wenige Kilometer entfernte Atommülldeponie, ist keine große Aufregung mehr. Nirgendwo gibt es große Aufregung. Das hier ist de Lüchower Landgrabenniederung, ganz altes Grenzland. Mittendurch verlaufen von Menschen festgelegte künstliche Linien, die sich historisch immer wieder veränderten. Die Niederungen sind nass und feucht, oft orienteren sich die Grenzverläufe deshalb entlang diesen geograpfisch vorgegebenen Linien. Nur an wenigen Stellen findet sich eine gefahrlose Furt durch die sumpfige Landschaft, so dass schon im Mittelalter beim Handel über Grenzen hinweg darauf geachtet wurde, vernünftige Trennungen zu ziehen, an denen sich Wege, später aber auch Straßen- und Eisenbahngleise orientierten. 


Erst mit der Teilung Deutschlands wurde die Landgrabenniederung richtig zerschnitten. Durch Flucht und Vertreibung nach dem ll.Weltkrieg verdoppelte sich die Einwohnerzahl in den ländlichen Gebieten beiderseits der Grenze nahezu, in den ersten Nachkriegsjahren blieb aber trotz der neugezogenen Grenze auch die Verbindung zwischen Ost und West erhalten. Die sumpfigen Waldgebiete waren schwer zu kontrollleren und es blühte lange Zeit der Schmuggel in beide Richtungen. Erst später, als drüben der große Zaun gebaut wurde, änderte sich alles, wie uns Walter erzählt, der direkt am Damm auf der Westseite wohnt.


"Eines Nachts wurde ich wach, weil es ganz hell im Zimmer war", sagt er, "und wie aus dem Fenster gucke, sehe ich, dass da drüben eine riesige Baustelle ist." Mit großen scheinwerfern beleuchtete das Grenzkommando den Damm, große Baufahrzeuge errichteten Pfäle und Zaunfelder. Für die andere Seite interessant anzuschauen, für den Osten die totale Abschottung. 


Zwar gibt es in Niedersachsen Schafe und Muttertiere und Füchse, Schlangen, Kühe und Hunde, aber die 20 Kilometer zwischen Dömitz und Hitzacker sind eine lange, ruhige Strecke ohne Berge, Hügel, Wälder oder sonst etwas Aufregendes. Die Radfahrer vermeiden es, hier entlang zu fahren, weil der Radweg hinter der Staumauer verläuft, so dass man nichts sieht, außer grasenden Schafen in der endlosen Schleife, die sich der Weg entlang des Flusses schlängelt.  


Gut für uns Wanderer, denn wir können die frische Luft mit all diesen landwirtschaftlichen Gerüchen einatmen. ein bisschen Kuh, ein bisschen Biogas, ein bisschen tote Schafe. Der goldene Westen riecht wie ein Bauernhof. Und er sieht auch so aus. Nach einem Tag auf einer "langen und kurvenreichen Straße", wie die Beatles gesungen haben, erreichen wir unser Ziel, ein ganz besonderes Lager mit winzig kleinen Holzschuppen namens "Destinature Camp". In den Vororten von Hitzacker, einer Stadt mit fast 5.000 Einwohnern an der Mündung der Jeetzel in die Elbe, haben ein paar Jungunternehmer 18 komfortable kleine Häuslen auf eine Wiese gestellt. Ein paar sind gemütliche Holzhütten, ein paar mobile Einzelbetten mit Zeltdach, so dass man entweder den nächtlichen Sternenhimmel betrachten oder sich eine gemütliche Koje schaffen kann.


Alles - von den Hütten bis zur gemütlichen Bettwäsche - ist aus nachhaltigen Materialien hergestellt und ein Bio-Bistro am Dorfeingang versorgt Sie mit Speisen und Getränken von regionalen Lieferanten. Hier gibt es Kamine, Saunahütten und Whirlpools mit Holzfeuer, und das ganze Dorf bezieht Strom und warmes Wasser aus erneuerbaren Energien - wir befinden uns hier im so genannten Wendtland, einer Gegend, die für ihre Sehnsucht nach Natürlichkeit und Nachhaltigkeit bekannt ist.  All das finden Sie hier, Ruhe für die Füße, Ruhe für den müden Kopf und eine warme Dusche mit französischer Seife. 

Englische Version: Hier



Sonntag, 15. November 2020

Entlang der Elbe: Wo Deutschland einst zwei Enden hatte

Die nächste Grenze, die wir zu überqueren haben, ist die Elbe, die einzige große Wasserscheide zwischen dem Westen und dem Osten auf unserer Wanderung. In der Nähe gibt es keine Brücke, sondern seit Anfang des 17. Jahrhunderts nur noch eine Fährverbindung zwischen Schnackenburg und Lütkenwisch. 1945 stoppten die sowjetischen Truppen den Fährverkehr gewaltsam - danach gab es keinen Weg mehr auf die andere Seite, weil die innerdeutsche Grenze mitten im Fluss verlief, heute ein blauer Wasserstrom unter einer grellen Sonne zwischen grünen Ufern.
Angespornt durch die erfolgreiche Wiederzulassung benachbarter Fährverbindungen nach der Wende griff der Schnackenburger Klaus Reineke 1991 tief in die Tasche und kaufte in Holland eine alte Fähre auf. Die Elbe sollte wieder verbinden, nicht mehr trenne. Seit dem 7. September 1991 verbindet die Fähre "Ilka" also, was zusammen gehört. 

Der Elbe-Pionier


Das verrückte Idee kostete Reinecke in den ersten Monaten seine ganze Kraft. Er fuhr alle Touren selbst und erlebte dabei unzählige emotionale Momente: Menschen fielen sich gegenseitig um den Hals und wollten nicht mehr loslassen. An der Anlegestelle der Schnackenburger Fähre erinnert bis heute ein nicht zu übersehendes Zeichen an die Aufhebung der unmenschlichen Trennung eines Kontinents.
Die Ilka läuft bis heute normal, und mit etwas Glück findet man Klaus Reineke, seit 2004 im Ruhestand, in den Sommermonaten Aushilfe am Steuer. Aber nicht in diesem Sommer, denn die Ilka ist außer Betrieb. Also müssen wir zu Fuß nach Gartow laufen, einer kleinen Stadt ein paar Kilometer entfernt. Gartow hat auch eine Fähre, die unter dem Namen "Westprignitz" von Lenzen nach Pevestorf fährt. Sie ist sehr klein und braucht nur wenige Minuten zum Umsteigen. 

Kolonnenweg auf der Ostseite


Auf der anderen Seite sind wir wieder auf der Strecke: Der Kolonnenweg verläuft jetzt entlang des Elbedamms. Das erste Zeichen der Geschichte ist ein Wachturm direkt an der Grenze, der die Landschaft, den breiten Fluss und die flache Erde ringsum überblickt. Zum ersten Mal begegneten wir den Radfahrern, die zu Hunderten den Elberadweg entlang fahren. Für sie ist er eine Art Autobahn mit schönen Aussichtspunkten, einigen Kaffeehäusern und schön renovierten Häusern, die nicht mehr an die schlechten Zeiten erinnern, als hier der Eiserne Vorhang verlief und niemand zu nahe an den Fluss herankommen durfte.
Zweimal im Laufe der Jahre wurden alle Menschen, die hier lebten, brutal evakuiert und weggebracht, um die Grenze sicher zu machen. Nur sehr zuverlässige Bürger durften bleiben. Peter, ein älterer Mann, erzählt uns, dass er hier als Landwirt gearbeitet hat. "Jedes Mal, wenn ich in das Sperrgebiet gehen musste, um auf die Kühe aufzupassen, saß ein Soldat mit seiner Waffe im Auto hinter mir, um sicherzustellen, dass ich nicht abhaue." 

40 Jahre unerreichbar


Das historische Stadtzentrum von Lenzen liegt nur 1,5 km nordöstlich entfernt. Es war fast 40 Jahre lang unerreichbar. Mit seiner ersten Erwähnung im Jahre 929 ist Lenzen der Ort mit der ältesten dokumentierten Geschichte in der gesamten Prignitz. Hinter Bäumen versteckt, lässt sich die Silhouette der Burg Lenzen erahnen. Vor tausend Jahren bauten die Slawen hier eine hölzerne Wehrburg. Auf der gegenüberliegenden Elbseite erhob sich damals wie heute der Höhenrücken des Höhbecks, auf dem König Karl der Große im späten 8. Jahrhundert ein Kastell errichten ließ, um die Grenze gegen die Slawen zu sichern.
Es ist unglaublich, sich vorzustellen, dass dieser Landstrich, der so eine lange gemeinsame Geschichte hat, für Jahrzehnte in zwei Hälften geteilt wurde. Man sieht heute nur noch die friedliche Landschaft, die Radfahrer und den breit dahinrollenden Fluss zwischen dem tiefen Grün der Ufer und den seichten Sandstränden. Die berühmte Eiseiche bei Mödlitz ist die nächste Landmarke, an der wir vorbeikommen. Sie hat all dies gesehen. Und sie hat überlebt wie die Menschen, die jetzt wieder hier leben, wo Deutschland einst zwei Enden hatte. Englische Version

Sonntag, 9. August 2020

Ufo-Hauptstadt Roswell: Die Wahrheit ist irgendwo hier drin

Sie tarnen sich als bunte Lichter in der Nacht, huschen als Geschosse über den Himmel, verstecken sich in undurchdringlichen Nebelschwaden oder erscheinen nur kurz als blinkende Punkte auf Radarschirmen. In Wirklichkeit sind sie aber, wie Millionen von UFO-Gläubigen weltweit überzeugt sind, Abgesandte außerirdischer Zivilisationen, die die Erde erforschen. Unsichtbar, hinterlistig, überlegen. Bisher sind sie sind immer unentdeckt davongekommen. Fast immer. 

Außer einmal, in Roswell, einer Stadt in New Mexico, in deren Nähe vor 73 Jahren ein UFO abgestürzt ist. Ein tragischer Unfall, bis heute unvergessen. Stellen Sie sich das vor: Die außerirdischen Wesen waren Lichtjahre durch den Weltraum gereist, eine Zeit voller Entbehrungen. Und danach, kurz nach der Ankunft am Ziel, stürzten sie unglücklicherweise in einem Feld ab, wo Anwohner Mack Brazel und der Nachbarsjunge Dee Proctor zufällig mehrere Leichen fanden.

Seitdem ist Roswell ein Pilgerort für Sensationsgierige und UFO-Gläubige aus der ganzen Welt. Die Hauptattraktion des kleinen Städtchens, das in Deutschland ein Kaff genannt werden würde, ist das UFO-Museum auf der Main Street, ein flaches Funktionsgebäude, das dem Phänomen mit drei Buchstaben gewidmet ist: U.F.O. - unbekanntes Flugobjekt. 

Eine echte Touristensensation, ausgestattet mit außerirdischen Gummipuppen, nachgebildeten außerirdischen Flugobjekten und zahlreichen echten Dokumenten, in denen Augenzeugen von UFO-Sichtungen schwören, sie hätten UFOs gesehen oder seien sogar von ihnen entführt worden. Roswell, eine kleine, staubige Stadt, ist der Heilige Gral aller UFO-Forscher und das Zentrum der modernen Religion namens UFO-logie. Viele Jahre lang hatte sich die Stadtverwaltung erst geweigert, den inoffiziellen Titel "UFO-Welthauptstadt" offiziell zu verwenden. 

Bis schließlich ein Bürgermeister ins Amt kam, der sich der Chance bewusst war, die die unspektakuläre 49.000-Einwohner-Stadt, deren berühmteste Tochter die Schauspielerin Demi Moore ist, da aus lauter Trotz und Wahrheitsliebe verschenkte. Seit einem Vierteljahrhundert ist die Wüstenstadt nun schon vollständig auf Außerirdische ausgerichtet. Neben dem großen UFO-Museum gibt es mindestens vier kleine, alle Restaurants in der Stadt sind thematisch auf Außerirdische ausgerichtet, und alle Geschäfte bieten T-Shirts, Baseballmützen, Postkarten, Bücher, Gürtel, Kekse, Lutscher, Mousepads, Küchenschürzen und Fußmatten mit bizarren Bildern von Fantasie-Außerirdischen an. Ein Millionen-Dollar-Geschäft für alle. Roswell ist 200 Meilen von El Paso, 200 Meilen von Albuquerque und ebenfalls 200 Meilen von Amarillo entfernt. Wer immer von da nach dort oder von dort nach da unterwegs ist, findet ghier im Nirgendwo einen guten Grund, anzuhalten. 

Zwar war das Interesse dann doch nicht groß genug, um den gigantischen UFO-Vergnügungspark zu bauen, der vor Jahren geplant war. Aber in Zeiten, in denen immer mehr Menschen glauben, dass Außerirdische die Erde besucht haben, und die Regierungen weltweit mehr über Außerirdische wissen, als sie zugeben, boomt das Geschäft. Es könnte ja alles wahr sein, oder? Wahrscheinlich sind sie irgendwo da draußen. Was, wenn es wirklich passiert wäre? Deshalb bietet das UFO-Museum auf der Main Street eine Menge Spektakel, um die Kunden zu begeistern, die nur zur Unterhaltung angehalten werden. Sie bekommen, was sie suchen. 

Von Nazi-Flugscheiben bis zur simulierten Alien-Autopsie ist alles zu sehen, was nie bewiesen werden konnte. Denn es ist sicher, dass im Juli 1947 im Gebiet von Roswell etwas vom Himmel fiel, weil das Militär ein erstaunliches Interesse an der Entdeckung von Mark Brazel zeigte. Aber nach der ersten offiziellen Ankündigung, in der sie von einer "fliegenden Untertasse" sprachen, wurde entschieden, dass es sich nur um einen "Wetterballon" handelte. Niemand hat das jemals geglaubt. Zumindest hier in Roswell nicht, wo die Wahrheit gleich da draußen ist.


Sonntag, 6. Mai 2018

Jütland: Auf der falschen Ost­see-Seite


Hinter Flensburg fängt das Unbekannte an: Südjütland hat Meer und Seen und Strand und ist von den großen Urlauberströmen noch völlig unentdeckt.

Michael Rasmussen staunt. "Von Deutschland seid ihr", fragt er, "und ihr macht hier Urlaub?" Rasmussen, der als Feuerwehrmann in Kopenhagen arbeitet, glaubt es nicht. Er winkt zum Strand: Still ist der, nur ein paar Möwen keifen unterm Regenwolkenhimmel und ein Fahrradwanderer strampelt vorbei.

Hier im kleinen Örtchen Juelsminde machen Dänen Urlaub. Deutsche Feriengäste hingegen versammeln sich eher auf Sealand, wo die Fähre aus Rostock anlegt. Denn Jütland, das ist für Urlauber aus dem Süden der Landstrich oben an der Nordsee, an dem die Olsenbande alte Bunker nach Nazi-Gold durchsuchte.

Jütland aber fängt viel früher an, genau genommen sogar schon ein paar Kilometer hinter Flensburg. Und auch der Süden Jütlands hat alles zu bieten, was das Urlauberherz begehrt: lange Strände, einsame Buchten, versteckte Angelseen und malerische Holz-Häuser, Sportangebote und sehenswerte Ausflugsziele, pittoreske Städtchen, Bootsverleihe und Museen. "Das weiß nur keiner bei Euch", ist sich Michael Rasmussen sicher.

Denn obwohl Deutschlands nördlichem Nachbarn der Ruf vorauseilt, besonders teuer zu sein, kann es an den Preisen nicht liegen. Zwar schlägt der Familienbesuch im Restaurant im Kleinstadtlokal von Juelsminde kräftig ins Kontor, dafür unterscheidet sich die Supermarkt-Rechnung kaum von einer deutschen. Jütland, benannt nach den Jüten, die vor 1 500 Jahren eigentlich nach England wollten, dann aber schon hier hängenblieben, ist ein aufgeräumtes Fleckchenen Land. Gemähter Rasen, gekehrte Straßen. Ein Himmel wie blankgeputzt.

Und über allem weht der "Danebrok", die rot-weiße Fahne, für die jeder Hausbesitzer einen Mast im Garten errichten lässt. Ihre Nachbarn auf Zeit behandeln die Jütländer mit übersprudelnder Freundlichkeit. Es wird kaum deutsch gesprochen, doch bei der Suche nach dem Fahrradverleih ersetzen Nachbarn wie Michael und seine Frau Mona jedes Touristenbüro.

Das ist nicht allzu schwer, weil das landwirtschaftlich geprägte Jütland sich eingerichtet hat auf ein Leben als Feriengebiet. Von Vejle und Horsens gibt es Rundfahrten auf den Fjord, Geschichtsinteressierte lockt das Kattegat-Center, Tierfreunde das "Akvarium-Oceanarium". Eine halbe Autostunde entfernt wartet das "Legoland" in Billund, eine Stunde ist es bis zum Freizeitpark Tivoli Friheden.

Zwischen Radtour und Hafenfest, Angelausflug am Waldsee und Schwimmen im eisigen Meer herrscht ein ganz anderes Ostsee-Gefühl als drüben auf der deutschen Seite. Die langen Strände sind immer leer, weil es keine Hotels gibt. Kein Gedränge um einen Strandkorb, kein Marsch der Massen auf der abendlichen Promenade, keine Schlange vor der Eisbude.

Jütland ist so mehr Urlaub, mehr Erholung. "Deshalb fahren wir ja hierher", sagt Michael Rasmussen.

Donnerstag, 26. April 2018

Wandern auf der Rota Vicentina: Meer geht nicht


Im Südwesten führt ein 350 Kilometer langer Weg am Atlantik bis zum äußersten Ende Europas. Warum die malerische Rota Vicentina auch für unerfahrene Wanderer ein toller Tipp ist.

Es ging nicht mehr weiter, keinen Schritt. Die junge Frau hat sich in ihre Jacke gewickelt, den Rucksack unter den Kopf geschoben und sich am Wegesrand langgestreckt. Keine 50 Meter entfernt peitscht der Atlantik die Steilküste, weißer Schaum schwimmt auf den Wellen, über denen Störche kreisen. Kein Mensch ist zu sehen, nicht vorn und nicht hinten, kein Schiff, kein Boot und ein Auto sowieso nicht. Wer hier schläft, der findet seine Ruhe.

Und wer hier wandert, tut es auch. Die Rota Vicentina, die von Santiago do Cacém im Norden über 350 Kilometer bis zum Cabo de São Vicente am äußersten südlichen Zipfel Portugals führt, ist ein einsamer Pfad. Verglichen mit großen Pilger- und Wanderrouten wie dem Jakobsweg in Frankreich und Spanien oder der Annapurnarunde in Nepal ist die Strecke, die zumeist direkt am Atlantik entlangführt, nahezu unbekannt. Völlig zu Unrecht, denn abgesehen von hohen Bergen bietet die Rota alles, was ein Wanderer sich wünscht: Abwechslungsreiche Landschaft, wilde Natur, weite Aussichten, einsame Dörfer und idyllische Badebuchten.

Das „Schlandern“ entspannt


Die locken in der Vorsaison allerdings nicht wirklich zum Baden. Ein Nieselregen treibt vom offenen Meer herein, die Sonne versteckt sich kurz hinter einer Wattewolke. Gelb und orange leuchtet das Land hinter Almograve, wo die Rota als breite Wanderautobahn Richtung Zambujeira do Mar führt. Links Hügel, rechts steile Felsen, die zum Meer abfallen. Wer auf der Rota wandert und unterwegs nicht zelten will, der bucht Hotels auf der Strecke. Von dort aus lässt sich der Rota-Gänger dann von einem Taxi an den Start der jeweiligen Tagestour fahren oder aber am Ende der Etappe abholen und zum Hotel zurückbringen.

Genusswandern ist das, hier „Schlandern“ genannt, wie eine Mischung aus Schlendern und Wandern. Gepäck muss niemand tragen, ein kleiner Tagesrucksack für Wasserflasche, Müsliriegel und Regenjacke reicht. Dazu ein paar Karten über den Streckenverlauf, der von ein paar wenigen missverständlichen Stellen abgesehen, hervorragend markiert ist.


Die Erfinder der erst 2012 offiziell eröffneten Rota Vicentina haben die Tagesetappen auch für ungeübte Wanderer überschaubar gehalten. Die gesamte Strecke ist in Abschnitte eingeteilt, die nicht länger sind als 20 Kilometer. Da es abgesehen von Teilstrecken an der Steilküste, die sich kilometerlang über kleinere Anstiege und Abstiege erstrecken, nur Höhenunterschiede von höchstens 200 Metern zu überwinden gibt, ist das in jeweils fünf bis höchstens sieben Stunden Gehzeit gut zu schaffen.

Unterwegs geht es an zerklüfteten Klippen und Felsbögen vorbei. Winzige, menschenleere Küstenorte finden sich ab und zu am Wegesrand. Wegen der reichen Fauna und Flora ist die Costa Vicentina zum Naturschutzgebiet erklärt worden, sie heißt jetzt „Parque Natural do Sudoeste“.

Zu Recht: Über dem Steilufer von Cabo Sardao fliegen die Sturmstörche zu ihren Nestern, die wie von einer geheimen Kraft festgenagelt auf schmalen Felsspitzen selbst peitschenden Atlantikstürmen trotzen. Wie Fischadler segeln die Riesenvögel durch die Böen, um die Horste mit neuen Zweigen in Schuss zu bringen. Am Wegesrand des Trilho dos Pescadores - zu deutsch Fischerpfad - blühen Blumen in allen Farben. Der Weg mäandert durch Pinienwälder und weiße Dünen. Das einsame Haus dort oben soll einmal Amália Rodrigues gehört haben, der „Königin des Fado“, des klassischen Klagegesangs der Portugiesen, die es lieben, Liebe, Ungerechtigkeit und Alter in Liedern voller Herzblut und wilden Tonsprüngen zu besingen.

Die letzte Thüringer Bratwurst


Das Ende der Welt - an der Costa Vicentina ist es nie allzuweit weg. Dabei scheint alles hier zugleich unendlich: Der Weg, der Himmel, die bizarren Felsen, die drei Meter hohen Wellen, die Wände aus Schiefer, Sandstein und Granit, die spritzende Gischt und die Schaumflocken, die bis 30 Meter hoch fliegen. Weil sich an der Rota die afrikanische Platte unter die europäische schiebt, stehen ganze Küstenabschnitte schief. Sie wirken, als würden sie gleich umfallen - oder seien es schon. Es wäre genug Platz da. Die Rota Vicentina verläuft ja entlang des äußersten Westens Europas. Gegenüber, 5 700 Kilometer entfernt, hinter ein paar winzigen Azoren-Inseln, liegt Atlantic City im US-Bundesstaat New Jersey.

Nach Süden zu, immer den Weg lang, ist am Leuchtturm am Cabo de São Vicente Schluss. Ein Kiosk bietet Thüringer Bratwurst, die letzte vor Amerika, wie Wirt Wolfgang Bald wirbt. Ringsum ist Wasser. Meer geht nicht.

Samstag, 14. April 2018

Trekking in Nepal: An­dert­halbmal Everest

Es ist bloß ein Bus, ein ganz unspektakulärer Bus, der Trekker zum Start bringt, die es nicht in die beiden bekannten nepalesischen Wandergebiete am Everest und rund um die Annapurna zieht, sondern in das dritte, noch recht neue Gebiet am 7 246 Meter hohen Langtang Lirung. Allerdings: Die paar Kilometer bis zum Tourstart in Sundarijal sind kaum weniger abenteuerlich als der atemberaubende Anflug aufs Everest-Gebiet. Enge Straßen, steile Abgründe, wilder Verkehr.

Umso stiller wird die Welt am ersten Berg, einem auf Flachländer monströs wirkenden Zwerg, den nur die einheimischen Führer nehmen, als existiere er gar nicht. Hari und Hari heißen die beiden Sherpas der Trekking-Gruppe, Udaya Sharma ist der erfahrene, Deutsch sprechende Reiseleiter. Hari eins, der stets lächelnde Mann in der blauen Daunenweste, wird die kommenden zwei Wochen immer vorn laufen, eine nie schwitzende Wandermaschine, die immer wieder "Pistare, Pistare" mahnt. "Langsam, langsam" übersetzt Hari Bahadur Tamang, der in Kathmandu Rechnungswesen studiert und als zweiter Sherpa am Ende der Wandererschlange geht, damit niemand den Anschluss verliert.

Das ist in den ersten Stunden der auf zwölf Tage aufgeteilten 160-Kilometer-Tour (Etappenbeschreibung) durch das Helambu-Tal bis ins Langtang-Gebiet mit dem Fast-5 000er-Gipfel des Tsergo-Ri noch wichtig. Doch wer zum Trekking nach Nepal fliegt wie die topfitten Mittfünfziger-Freundinnen Ewa und Rosi oder der 74-jährige Weltreisende Herbert, der weiß, dass das hier kein Wettrennen wird, sondern ein Ausdauerlauf. "Stetig gehen", empfiehlt Udaya Sharma, der ebenso stetig für Trink- und Teepausen sorgt. Noch kraxelt der Trupp auf 2 000 Metern herum, doch bei einem geplanten Anstieg bis auf 4 600 Meter allein für die Passüberschreitung ist die Höhenkrankheit eine reale Gefahr, die nur durch penibel befolgte Verhaltensregeln eingedämmt werden kann. Langsame Akklimatisierung hilft. Langsames Gehen. Viel trinken. Und immer wieder aufsteigen, um kurz vorm Übernachten in tiefere Lagen zurückzutauchen.

Eine Plage ist der Regen, mit dem sich die Monsunzeit Anfang Oktober von Nepal verabschiedet. In den dichten, mit rotem Holz bewachsenen Wäldern des Shivapuri-Nationalparks ist es subtropisch warm. Hier leben Rote Panda, aber auch Blutegel, die auf heimtückische Überfälle spezialisiert sind. Je feuchter, desto emsiger sind die Tiere zugange. Trekker stehen vor der Wahl, die Regenhosen anzuziehen und von innen schweißnass zu werden. Oder sie im Hauptgepäck zu lassen, das von acht bestaunenswerten Trägern jeden Tag im Eiltempo ans Ziel gewuchtet wird. Dann wird man nass geregnet.

Doch jede Trekking-Tour durch Nepal bringt zuerst einmal den Abschied von allem, was in der westlichen Zivilisation wichtig scheint. Auf irgendeiner Höhe ist immer die letzte Dusche erreicht. Meist ist das Toastbrot den Lodge-Küchen da lange ausgegangen. Im Langtang aber, zwischen dem bedächtigen Trott die Hänge hinauf und herunter, geht es noch schneller: Am Tag drei stellt Wolfram, der sein Regenzeug daheim vergessen hat, plötzlich fest, dass man "eigentlich sowieso nur braucht, was man hat".

Und so ist es auch. Man geht weiter und immer weiter, nass oder trocken. Die Berge werden höher, die Luft bleibt feucht, die Stimmung ist fantastisch. Am dritten Abend etwa sitzt der gesamte durchweichte Verein um den rußenden Ofen im Hauptraum einer Lodge in Thare Pati. An jedem Nagel und jeder Leine hängen ein T-Shirt, eine Jacke, eine Hose. Hier drinnen muss es riechen wie in einem brennenden Stall. Aber alle trinken Ginger-Tee und "Everest"-Bier, kauen Dal Bhaat aus Linsen, Reis und Curry und lachen über die Witze, die Udaya Sharma reißt.

Wenn einer der Haris am Morgen erst einmal "Gemma, gemma" gesagt hat, was nicht Nepali ist, sondern Bayrisch, gibt es nur noch das Gehen, die Berge, den Weg und das Tagesziel. Das heißt heute Laurebina-Pass: 4 610 Meter hoch liegt der Übergang vom subtropisch geprägten Helambu-, ins eher alpine Langtang-Gebiet. Pistare weichen die Bäume, später die Sträucher, schließlich auch das Gras. Gebetsfahnen und Mani-Steine paradieren an der Strecke, dann kommt der Suriya-Peak in Sicht und die Wandergruppe liegt sich mit den Sherpas in den Armen, glücklich über den gemeinsamen Gipfelerfolg. In den Jubel hinein beginnt es aus einem aufklarenden Himmel sanft zu schneien. Das Panorama ist imponierend: Die Annapurna-Range ist zu sehen, dazu der Manaslu und die schneebedeckten Berge, die die Grenze zu Tibet bilden. Anschließend geht es gemächlich abwärts und auf 4 300 Metern Höhe warten die strahlend blauen Gosainkund-Seen, die Hindus wie Buddhisten heilig sind.

Von Laurebina Yak aus sind am nächsten Morgen die schneebedeckten weißen Riesen der Langtang-Himal-Range zu sehen. "Gemma, gemma, pistare, pistare!", rufen die Guides. Los, los! Die Wolken liegen wie ein Meer aus aufgeplusterter Watte im Tal vor der "Mount Rest"-Lodge. Eine deutsche Bäckerei bietet so etwas wie Apfelkuchen an - willkommene Abwechslung nach fünf Tagen mit Fladenbrot und Nudelsuppe.

Die Route, auf der im Unterschied zu den Trekkinggebieten am Everest noch kaum Reisegruppen unterwegs sind, schlängelt sich nun entlang des Langtang-Flusses langsam Richtung Osten in die Höhe. Dichter Dschungel, in dem der in Nepal nicht verbotene Hanf wild wächst, geht dabei allmählich in sonnenüberflutete Hochebenen über. Vormittags heißt es drei, vier Stunden gehen, unterbrochen von Pausen und stets pistare, pistare! Nachmittags noch einmal, gemma, gemma, den Blick auf die langsam näherrückenden Gletscher und Gipfel am Ende des Tales gerichtet. Bis zu tausend Höhenmeter täglich fordern selbst geübte Bergwanderer, aber der Körper gewöhnt sich an das Laufen ebenso wie an die dünnere Luft. Die Strecke lenkt ab: Yaks und Dzo-Mos, eine Kreuzung aus Yak und Rind, stehen zuweilen mitten auf dem Pfad, Träger mit schwerem Gepäck hasten in halsbrecherischem Tempo vorüber, an den Füßen nur ein paar Badelatschen.

Die Langtang-Region ist unverkennbar arm. In den paar Jahren, seit die Wanderroute durch das Land der Tamang-Völker und der nepalesischen Tibeter größere Aufmerksamkeit findet, haben Trekinggruppen die Ursprünglichkeit der Gegend noch völlig unberührt gelassen. Natürlich gibt es überall Cola, Bier und gelegentlich sogar Strom und Internet. Doch auf der Strecke zwischen den winzigen Örtchen ist die Natur pur und die Zivilisation ein fernes, mit jedem Tag weiter verblassendes Gerücht.

Die Tour bleibt sportlich bis hinauf nach Kyanjin Gompa, dem Ort, der mit dem Aufstieg auf den bis auf knapp 5 000 Meter aufragenden Tsergo Ri den höchsten Aufstieg des Trails bringt. Steil und staubig ist der Pfad hinauf, steinig der Weg. Aber dann stehen alle oben, eine gefühlte Handbreit nur von einem Himmel entfernt, dessen Blau blauer ist als alles, was man je gesehen hat. Die Gipfel ringsum sind noch ein bisschen höher, jaja. Aber am Ende der zweieinhalb Wochen werden für die Wanderer sagenhafte 12 000 Meter Steigung auf dem Höhenmesser stehen. Anderthalb Mal der Weg hinauf zum Gipfel der Welt. Darauf ein "Everest"-Bier, mindestens.


Nach dem großen Beben: Eure Spendengelder bei der Arbeit

Drei Strecken führen zu den Bergriesen im Himalaya-Gebirge:

Neben den Routen um Annapurna und im Everest-Gebiet ist die Tour durch das Helambu- und Langtang-Gebiet die dritte Strecke, auf der sich Wanderer den Bergriesen des Himalaya-Gebirges nähern können.

Reise: Bestes Wanderwetter herrscht von März bis Mai und von Oktober bis November.

Anreise: Flug bis Kathmandu, dann weiter mit dem Bus zum Startpunkt rund 80 Kilometer nördlich der Hauptstadt in Sundarijal.

Fitness: Ausdauer für Tagesetappen mit bis zu tausend Höhenmetern ist nötig. Durch den langsamen Anstieg von 1 300 auf 4 900 Metern ist die Gefahr für eine Höhenkrankheit aber geringer als in anderen Wandergebieten.

Währung: Ein Euro entspricht etwa 130 nepalesischen Rupien. Ein großes Bier kostet im Berg 500 Rupien, eine Cola 250.

www.hauser-exkursionen.de