Über seinen Schlips stampfen Elefanten. Dicke, grüne Elefanten inmitten einer weinroten Seidenwiese. Ein Löffel Salat schwebe an den grünen Elefanten vorüber, hinauf zum Mund. Dirk Bettels isst gesund, er kaut mit viel Konzentration. Genauso trinkt er auch: gemessen, das kleine Glas in festem Griff. Nichts, so scheint es, wird den schweren Mann je aus der Ruhe bringen können. Richtige Angst hat Dirk Bettels zuletzt vor ungefähr fünf Jahren gehabt. "Als mir klar wurde, dass wir ganz allein sind." Da war es aber schon zu spät. Das große Rad rollte, und auch Dirk Bettels war "gefangen, weil ich ja nun mal Ja gesagt hatte".
Zehn Monate später hätten ihn seine Bürger beinahe aus der Stadt gejagt: Millionen habe er verschwendet, bereichern habe er sich wollen. Dabei hatte das Ost-Abenteuer des Hildesheimers so vielversprechend begonnen. "Die Mauer fiel", erzählt Dirk Bettels, "und wir von der Jungen Union haben gesagt: Wir schauen uns jetzt mal um, da in der DDR". Kaum angekommen in Halle, entdeckten die jungen Christdemokraten Handlungsbedarf. "Nichts gegen die Leute von der CDU-Ost", sinniert Dirk Bettels, "aber die waren total unfähig".
Hochmotiviert sprangen die Hildesheimer in die Bresche. "Übernachtet haben wir bei OB Renger zu Hause, am Tag ging"s auf Wahlkampftour." "Unheimlich Spaß" habe das gemacht. Dirk Bettels, damals 25 Jahre alt und gerade mitten im Betriebswirtschaftsstudium, entschließt sich, für länger zu bleiben: "Man konnte den Leuten hier so unheimlich viel geben."
Es war das Frühjahr 1990 in der DDR. Die Zeit des Aufbruchs. Als Dirk Bettels zum ersten Mal ins Rathaus kommt, funktionierten die "roten Telefone" des DDR-Ernstfallnetzes noch. Bier hatte, schüttelt es ihn heute noch, eklig schmutzige Kronkorken. Wasser kam als braune Brühe aus dem Hahn. "Eine warme Dusche gab es bloß früh um vier, nicht wahr." Hintendran hängt Dirk Bettels immer ein vergewisserndes "nicht wahr".
Nicht wahr. So war das. Was für eine Zeit. Jeder konnte alles sein. Musste manchmal sogar. "Irgendwer musste die Koalitionsvereinbarung schreiben", sagt Dirk Bettels. Niemand wusste, wie das geht. Also setzt er sich hin. Klare Sache. "Als politisch interessierter Mensch hatte man ja mal gehört, was da reingehört."
Dirk Bettels Aufstieg ist rasant. Oberbürgermeister Peter Renger macht den Tatmenschen zu seiner rechten Hand: Dirk, empfohlen durch eine lange Karriere in der Schülerunion, wird zum Multifunktionär. Chef der Kommunal-Treuhand, Gesellschafter der städtischen Dienstleistungsgesellschaft, Aufsichtsrat der Hall-Bau GmbH und Entflechter des örtlichen Handels - jung und dynamisch spannt sich das Arbeitspferd vor alle Karren.
Es sei, klagt er heute, ja keine Hilfe gekommen. Was er selbst nicht ziehen kann, zurrt Dirk Bettels also Verwandten und Bekannten auf. Sein Onkel wird eingeflogen; Freunde aus der Jungen Union helfen aus, und Anwalt Burkhardt Suden berät nun nicht mehr nur Familie Dirk Bettels, sondern gleich auch noch Sachsen-Anhalts größte Stadt.
Eine "Seilschaft" würde Dirk Bettels das allerdings nicht nennen. Eher einen "Fehler". Aber, will er sich richtig verstanden wissen, "in einer fremden Stadt - wen bitten Sie da um Hilfe?" Im Rathaus nur der "DDR-Trott". Die Menschen grau, verstört und renitent. Bei den Ostdeutschen, teilte er der "Hildesheimer Zeitung" seinerzeit mit, "mische sich eine Portion Faulheit mit einem Quäntchen Angst und 40 Jahren verordneter Lethargie".
Wie eine Schafherde, der man den Hirten weggenommen hat. "Immer auf der Suche nach dem Fähnleinführer". "Und es musste doch was passieren", lässt er noch einmal das Zugpferd von damals aus dem Stall. Ein ungeduldiges Tier, das steigen will. "Wir waren ja im Grunde blöde."
Dass das mit der deutschen Einheit funktioniert "wie ein Besuch bei der bezaubernden Jeanny, wups, und schon sind wir im Westen", habe er nie geglaubt. Aber einen Versuch war es wert. "Man muss ja auch mein Alter betrachten, damals", probiert Dirk Bettels eine "emotionslose Analyse". Ein 25-jähriger Kommunalpimpf, dem eine "Radikalkur" vorschwebte - "ja, klar, das ging über die Vorstellungskraft eines Hallensers zu der Zeit".
Und ein Hallenser zu der Zeit ging über die seine. Dirk Bettels, angetreten, "etwas zu bewegen", trainierte die falsche Mannschaft. "Sobald man nicht präsent war", erläutert er, "haben die ja gemacht, was sie wollten." Was klappen sollte, musste er selbst in die Hand nehmen. Die Investorenwerbung. Die Zukunft der Wohnungsunternehmen. Und die "Hauptstadt-Halle"-Aktion.
Als sei das alles gestern gewesen, hat Dirk Bettels Daten und Fakten parat. Kein Blick zurück im Zorn. War schon eine tolle Zeit, nicht wahr. "Wo im Westen fünf Tage diskutiert wurde, handelten wir nach zehn Minuten." Mit jeder Entscheidung steigt die Zahl der Kritiker. Nach jedem Alleingang versammeln sich mehr und mächtigere Gegner.
Das Ende des Kanzleichefs naht. "Wo man auftrat, hinterließ man verbrannte Erde", sinniert der Bauunternehmersohn. Der kleine Zirkel um Dirk Bettels und OB Renger, der die Stadt Mitte 1990 quasi im Alleingang regiert, hat sich übernommen. Zu viele Pläne, zu viele Projekte. Zu viel "alter Trott". Zu wenig Zeit. Und viel zu viele Fehler.
Aus den städtischen Wohnungsgesellschaften über Nacht eine einzige machen zu wollen, hält Dirk Bettels selbst für den größten. "In einer westdeutschen Kommune wäre das nicht möglich gewesen", gesteht er. Aber war Halle etwa eine westdeutsche Kommune? Eine rein rhetorische Frage. Er, Dirk Bettels, damals mit "lächerlichen 1 800 Mark Monatsgehalt", sei schließlich auch verunsichert gewesen. "Keiner konnte einem sagen, was nach der Einheit wird."
Und im Rathaus klingelten sie Sturm, weil der OB Windeln und Babynahrung besorgen sollte. Dirk Bettels hat nie begriffen, mit wem er es zu tun hatte in Halle. Warum packten die nicht einfach an? Warum meckerten die nur? Die Aufregung um die Gründung der Halleschen Wohnungsbau Aktiengesellschaft könne er bis heute nicht nachvollziehen.
Natürlich hätten die beteiligten Anwälte mit 1,5 Millionen Mark "einen gewaltigen Betrag" kassiert. Nur sei das rechtsstaatlich völlig in Ordnung gewesen. Was gespart worden wäre, Dirk Bettels blickt trotzig ins Wasserglas, hat keiner gefragt. "Nur ein Vorstand, ein Mahnwesen und eine Gewerberaumlenkung." Raum für Erklärungen aber war nicht mehr. "Hysterie" (Dirk Bettels) regierte Halle. "Alles wurde mir angehängt."
Das Charlottenviertel habe er gekauft, sein Vater sei im Begriff, die Hall-Bau zu übernehmen, und er wolle sich billig mit Immobilien eindecken. Halle hieß jetzt "Bettelshausen". Pah! Das gelassene Gesicht bekommt kleine rote Flecke. Dirk Bettels würgt noch immer an der Enttäuschung.
"Dankbar wurde jeder Blödsinn aufgesogen." Um ihn selber sei es dabei gar nicht gegangen, ist der Ex-Kanzleichef sicher. Es ging um mehr - und das ist ihm wohl auch ein beruhigendes Gefühl. "Ich war nur der Butzemann, mit dem die CDU Renger aushebelte, um freie Bahn für eine Hauptstadt Magdeburg zu bekommen."
In der letzten Januarwoche 1991 wirft Dirk Bettels hin. Keiner klopft ihm auf die Schulter, obwohl er "für so viele was getan" hat. Das hat ihn ein bisschen gewurmt. Undank ist der Welten Lohn.
In der Jungen Union verliert Dirk Bettels alle Ämter. Der Staatsanwalt ermittelt. Ergebnislos. Halles Stadtparlament beruft einen Untersuchungsausschuß ein. Er bleibt ohne Abschlussbericht. Dirk Bettels wird Unternehmer in Hannover. Später hat er geheiratet. Später ist er dann auch noch mal in Halle gewesen. Auf der Durchreise nach Leipzig einfach ausgestiegen und die Ulrichstraße langgelaufen. Da tue sich ganz schön was, sagte er.
Dirk
Bettels ist heute Honorarkonsul der Slowakei für Sachsen-Anhalt