Mittwoch, 21. Dezember 2016

Brief einer Hallenserin an verzogene Freunde, 1973


Fundstück aus dem Jahr 1973, als die Einwohner von Halle-Neustadt noch am Anfang einer Zukunft standen, die schon 17 Jahre später abrupt enden würde.  Jetzt aber ist die DDR noch jung, ihre Menschen sind es auch. Und westlich von Halle, das leise und traurig vor sich hinbröckelt, wächst aus Beton, was viele für eine Verheißung halten: Wohnungen mit warmem Wasser, mit Fahrstuhl,  Hausgemeinschaft aus fleißigen Leuten mit Kindern. Es gibt sichere Arbeit und regelmäßige Tagesabläufe, der Mensch steht, so glaubt er, im Mittelpunkt und der Sozialismus erst am Anfang.

Der Brief ist ein Zeitdokument, das verdeutlicht, wie Leute, die damlas Mitte 20 waren, über sich und ihre Zeit dachten.

Das habe ich gern: alter Hallenser sein wollen, sich vor sieben Jahren aus dem Staube machen, plötzlich durch Zeitungsnotizen aufmerksam werden und nun schneller als schnell Antwort auf brennende Fragen haben wollen.

Ich weiß, ihr seid damals nach dem Norden gegangen, weil dort dringend gut ausgebildete Agronomen gebraucht wurden. Das war sicher auch ein richtiger Entschluß, aber daß Ihr Euch seitdem in Eurer alten Vaterstadt nicht mehr habt sehen lassen, das kann man Euch so leicht nicht verzeihen. Also: das Beste, um sich richtig zu informieren, ist: setzt Euch in Euren motorisierten Untersatz und nichts wie her. . .


Junge und moderne Stadt

Dennoch will ich Eurem Wunsche nachkommen und ein bißchen über unsere tausend Jahre alte, aber doch so junge und moderne Stadt berichten. Es ist ja auch ein guter Anlaß, ein bißchen zu bilanzieren - schließlich ist heute der 21. Jahrestag der Republik. Ich sitze hier im Cafe am Hochhaus und lasse mir einen Mokka munden. Ein schöner Sonnentag ist heute, aber doch schon recht kühl. Am Vormittag hatten wir hier auf dem großen, mit Steinplatten belegten Platz die traditionelle Kundgebung, die früher immer auf dem Markt in der Altstadt stattfand. Mein' Junge war auch mit. Ihr wißt ja, daß er die Sportschule besucht. Jetzt ist er mit seinen Freunden hier gleich nebenan auf dem Sportforum. Das Mädel ist übrigens Lehrerin geworden, was immer ihr Wunsch war. Noch dazu an einer der drei neuen Oberschulen hier in der Chemiearbeiterstadt.

Doch halt, ich wollte Euch ja schildern, wie es jetzt hier aussieht. Ihr werdet es ja noch kennen; wir fuhren damals Immer an den Graebsee zum Baden. Und dieser See ist eigentlich das einzige, was noch an selige Zeiten erinnert. Freilich, er sieht heute viel gepflegter aus - mit Rasenteppichen umsäumt und modernen Parkanlagen. Ich erinnere mich noch recht gut, damals sollte hier ein Campinglager für die Jugend errichtet werden - aber es kam nicht zustande. Dafür steht jetzt direkt an den Ufern ein Hochhaus mit 22 Stockwerken, das "Haus der Chemie", eine Symphonie aus Glas und Beton. Ich muß mich fast zur Erde beugen, um von meinem Platz im Cafe durch die Glaswände das oberste Stockwerk zu erblicken. Von' dort oben hat man vielleicht eine Ausschau!

Anders als von den Hausmannstürmen, die wir mal zusammen bestiegen hatten, um einen Blick auf das damalige Halle zu werfen, Ich weiß nur, daß uns "Turf"-Konsumenten - oder wie die Zigaretten damals hießen - die Lunge ob der 226 Stufen fast zum Halse heraushing. Zu Mittag war ich auf dem Dach des Hochhauses. Mit dem Schnelllift ging es rasend schnell aufwärts. Ich glaube, es war nicht einmal eine Minute. Was sieht das Auge alles von dort oben? In östlicher Richtung der Blick auf die tausendjährige Stadt mit dem Markt und dem Roten Turm, südöstlich das Panorama der Bunawerke und noch weiter die immer noch wie ein Wahrzeichen in die Luft ragen, den Schlote der Leuna-Werke.

Träume aus Beton 

An der 70 Meter hohen Fassade hinunterzuschauen, traut man sich kaum. Der Blick geht die breite Autostraße hinunter, die sich durch den neuen Stadtteil zieht. Ihr wißt ja, die Straße, die von Eisleben kommend, früher in einer Rechtskurve bergab nach Nietleben hineinführte.

Jetzt geht sie von jenem Knick gerade weiter durch die Chemiearbeiterstadt, über die Saale, bis sie am ehemaligen Keglerheim Paradies" auf den Waisenhausring einmündet. Für den, der per Auto oder Autobus in die Stadt will, gibt es keine Schlängelei mehr durch die Mansfelder Straße.

 Aber zurück zum Ausgangspunkt. Links dieser Straße wird zur Zeit noch gebaut, aber rechts bietet sich bietet dem Auge ein herrliches Ensemble fünf-, zehn-, ja sogar 20.-geschossiger Wohnbauten. 15000 Wohnungen wurden hier bis jetzt geschaffen. 11000 allein für Chemiearbeiter. Insgesamt wohnen jetzt. 45000 Menschen hier. Sie haben  von hier aus eine viel bessere Verbindung zu ihren Arbeitsstätten in Buna und Leuna als von der Altstadt.

Nicht wenige von ihnen waren vor Jahren vier und fünf Stunden unterwegs, um an ihren Arbeitsplatz und von dort wieder nach Hause zu kommen. Da blieb wenig Zeit für Qualifizierung oder einen Theaterbesuch. Heute steigen sie hier draußen in die Schnellbahn und in 25 Minuten sind sie in Buna und etwas später vielleicht in Leuna. Für die Motorisierten unter ihnen ist die Schnellstraße nach Schkopau und Leuna übrigens Sechsbahnenverkehr der kürzeste Weg. Das ist einer der großen Vorteile des Aufbaus dieser Stadt: nach allen Richtungen hin gute Verkehrsverbindungen.

In nordwestlicher Richtung saugt sich das Auge dann im Grün der Dölauer Heide fest d. h. zu dieser Jahreszeit bietet sich mir eine Palette bunter. Herbstfarben. Östlich, entlang der Saale, das wunderschöne Auegebiet. Das ist ein weiterer Vorteil: hier herrscht frische Luft, hier reicht der Chemiedunst nicht her. ..

Da oben weht ein ganz schön kühles Lüftchen, und so habe ich mich auch bald wieder verzogen. Hier im Cafe ist es wohltemperiert Fernheizung, von der alle Wohn- und Geschäftshäuser versorgt werden. Nachher wird mich mein Weg zur Bushaltestelle zur Straße hinabführen. Dort unten soll noch ein 'großer kombinierter Baukomplex entstehen: Ladenstraße, Kaufhaus, Hotel u. a. m. Zur gleichen Zeit wird oben am Hochhaus die Mehrzweckhalle gebaut, ich glaube für. 6000 Besucher.

Also, Halle hat jetzt eine alte und eine neue City oder man kann auch sagen, die Altstadt ist zum Vorort geworden. 70 000 Menschen sollen ja hier in der Chemiearbeiterstadt mal insgesamt wohnen. Doch wie gesagt, kommt recht bald und schaut Euch alles mit eigenen Augen an. Aber nach dem alten Stadtplan werdet Ihr Euch nicht mehr zurechtfinden, denn auch in den Euch bekannten Mauern hat sich einiges verändert. Ihr werdet ja von Magdeburg kommen. Haltet Euch links und fahrt  in Richtung Leuna. Die Straße führt am ehemaligen Bahnhof Trotha vorbei, entlang der Halberstädter. Bahn und kommt etwa an der Albert-Richter-Kampfbahn heraus.

Gleich hinter dem einstigen Wasserturm am Platz der Thälmann-Pioniere beginnt dann eine Hochstraße, die am Haus der Einheit vorbei etwa 6 Meter hoch - über den Marx-Engels-Platz in Richtung Thälmannplatz führt. Wollt Ihr In die Stadt, müßt ihr hier abfahren; ansonsten geht es von hier wie auch früher geradewegs zum Thälmannplatz.

Nur daß heute die Straßenbahn unter der Autostraße verkehrt! Mit das Imposanteste das in den letzten Jahren entstand, ist übrigens das Verkehrskreuz der Hochstraße am Thälmannplatz. Die Straße nach Leuna führt gerade über ihn hinweg, vorbei am Hotel "Berlin", das ja bereits 1965 fertig wurde.

Wer in Richtung Chemiearbeiterstadt will, begibt sich von hier aus auf die unter der Hochstraße hinwegführende Ost-West-Achse. Sie führt dann am Stadtkulturhaus vorbei über den Franckeplatz nach Eisleben. Die Klement-Gottwald- Straße ist nur noch Fußgängerboulevard. Sicher werdet ihr auch darüber staunen, wie sich das Bild am ehemaligen Rummelplatz verändert hat: einen schöneren Park haben die mecklenburgischen Gutsbesitzer nicht gehabt!

Und überhaupt: Wißt Ihr noch, wie wir vor zehn Jahren unsere Witze darüber machten, daß Halle ein Dorf mit Straßenbahnen sei? Nebenbei gesagt: die Straßenbahn ist aus dem Kern der Stadt verschwunden, es gibt nur noch Ringverkehr - und das geht wunderbar. Heute läßt sich darüber kaum noch frotzeln, wir werden nämlich wirklich eine Großstadt. Das ist der endgültig letzte Brief bis zum Wiedersehen!


Sonntag, 18. Dezember 2016

Erfindung aus Halle: Abschied von ver­stimm­ten Gitarren



Das Teil, das eine Lösung für ein riesiges, weltweites und jahrhundertealtes Menschheitsproblem bringt, ist winzig. Wie eine Pfeilspitze geformt, flach und mit zwei kleinen Ecken am Ende, so sieht er aus, der String Butler, mit dem der Hallenser Sven Dietrich aufgebrochen ist, eine Frage zu beantworten, die Profi- wie Hobbymusikanten seit dem Mittelalter beschäftigt: Wie lässt sich verhindern, dass sich meine Gitarre unablässig verstimmt?

"Viele Gitarristen kennen das Problem, dass bestimmte Gitarrenmodelle sich während des Spielens immer wieder verstimmen", erzählt Dietrich, der in Halle ein Gitarrencafé betreibt und Gitarrenunterricht gibt. Als Gitarrist - früher etwa bei der Band Ragemachine - suchte er lange nach einer Lösung. Und fand sie mit dem String Butler.

"Etwa ein Jahr habe ich gebraucht, weil sich die Form immer noch etwas verändert hat", erzählt der Hallenser, der seine Erfindung auch in einem Video auf Youtube (oben) vorstellt. Dietrichs Idee ist denkbar einfach wie alle genialen Erfindungen: Der "String Butler" ist ein kleines Teil, das auf der Kopfplatte der Gitarre angebracht wird und die Saiten so umlenkt, dass sie gerade auf die Stimm-Mechaniken zulaufen. Die ersten Prototypen aus der halleschen Metallwerkstatt "Zone Light" bewiesen Dietrich zufolge, dass der String Butler bei vielen Gitarrenmodellen die Krankheit des schnellen Verstimmens heilt.

Die Idee aus Halle erobert inzwischen die Welt. Sven Dietrich hat Kunden nicht nur in Deutschland, sondern auch den USA, Kanada, Neuseeland und Singapur. Grund für ihn, beim Geldsammelportal Kickstarter eine Kampagne zu starten, die helfen soll, eine aus Acryl gefertigte Version des String Butler zu entwickeln. Rund die Hälfte der Finanzierung ist geschafft, knapp zwei Monate sind noch Zeit.

Direkt zum Erfinder geht es hier:
www.string-butler.com

Samstag, 17. Dezember 2016

Zu Besuch beim Vater von Fix und Fax


Sie waren die Antwort der DDR auf die beiden bunten Westfüchse Fix & Foxi, die seit 1953 als Schmuggelware auch in die DDR einsickerten: Fix und Fax waren zwei Mäuse in Ringelpulli und engen Hosen, die den frechen Füchsen aus München das Publikum abspenstig machen sollten.

Erfunden hatte sie der Berliner Grafiker Jürgen Kieser, der sich dazu bei einer Idee bediente, die sein Thüringer Kollege Fritz Koch-Gotha schon 1935 unter dem Titel „Fix und Fax: Eine lustige Mäusegeschichte“ veröffentlicht hatte. Dem Erfolg von Kiesers Mäusen bei den Kindern der DDR tat das keinen Abbruch.

In der Comiczeitschrift „Atze“ waren Fix und Fax die unumstrittenen Stars. Kein Wunder, denn obwohl auch die beiden Mäuse ihren Teil zur sozialistischen Erziehung der Jugend beitragen mussten, indem sie etwa mit Regulierstab und Feuerwehrhelm für Ordnung und Sicherheit warben, waren ihre zumeist dreiseitigen Abenteuer im Alltag, in der Steinzeit oder auf der Spur gefährlicher Diebe doch immer ein Quell des Vergnügens.

Kieser, am 20. August 1921 in Erkner bei Berlin geboren, hatte im Krieg bei der Luftwaffe gedient, war dann Landarbeiter in Westdeutschland gewesen und schließlich als Dekorationszeichner und Dekorateur bei der Handelskette HO gelandet. Anfang der 50er Jahre wechselte er als Pressezeichner zum Verlag Junge Welt und begann, für die Pionierzeitung „Trommel“, das bunte Kindermagazin „Frösi“ und die beliebte „Wochenpost“ zu zeichnen. Dem Comicheft „Atze“ spendierte er mit der Titelfigur auch den Namen, doch gelesen wurde die rund 550 000 mal verkaufte Zeitschrift weniger wegen der pädagogisch wertvollen Bildstrecken über die Oktoberrevolution als vielmehr wegen Kiesers Mäuse-Storys.

Die zeichnete der Mann, der inzwischen 95 Jahre alt ist, bis 1987 selbst. Dann übernahm sein Kollege Eugen Gliege, der bis 1991 für Nachschub sorgte. Seit der „Atze“ eingestellt wurde, sind die „lustigen Mäuseabenteuer“ (Untertitel) in zahlreichen Sammelbänden neu aufgelegt worden.


Freitag, 16. Dezember 2016

Stuart Adamson: In Feldern aus Feuer

Kurz vor Schluss war er noch einmal richtig glücklich. Stuart Adamson und seine Bandkollegen lagen sich in den Armen, das Publikum feierte sie begeistert, und immer wieder mussten sie die Gitarren umlegen und weiterspielen. Stuart Adamson, Kopf der schottischen Rockband Big Country, sang wie in besten Tagen: "Peace in our time", "Look away" und "Fields of fire". Die Fans im Leipziger "Anker" tobten, Adamson fand kaum Worte. "Als ob ich nach Hause komme", sagte er, etwas fülliger um die Hüften als früher, aber topfit, "und kein Platz auf der Welt ist wie zu Hause".


Gestorben aber ist der Mann aus Dunfermline eine halbe Welt weit weg von daheim. Sechs Wochen schon suchte die Polizei den 43-Jährigen, der sein Haus in Nashville am 7. November 2001 verlassen hatte, um "Sonntagmittag wieder da" zu sein, wie er seinem Sohn schrieb. Doch seit dem 15. November, an dem er in Atlanta gesehen wurde, fehlte dann jede Spur von dem charismatischen Gitarristen. Bis zum Sonntag: Da fanden die Ermittler den Kultstar, der mit seiner Band über zehn Millionen Platten verkaufte, im Plaza-Hotel auf Hawaii. Adamson, seit vielen Jahren alkoholabhängig und zuletzt im Oktober angetrunken im Auto erwischt, hatte sich erhängt.

Ein stiller Schlussakkord im Leben eines Künstlers, der in den 80ern mit Rockhymnen wie "The Storm" und seinem typischen Dudelsack-Gitarrensound Triumphe feierte. Big Country, dank sozial engagierter Alben wie "Steeltown" zur moralischen Rock-Fraktion gerechnet, waren die erste West-Rockband, die ein Konzert in Moskau gab. Sie kämpften gegen den Nato-Doppelbeschluss, traten bei Live-Aid auf und spendeten für Greenpeace.

Wenig später lud dann auch die DDR-Jugendorganisation FDJ die Schottenrocker ein. Ihr Konzert in Weißensee, zu dem rund 180 000 Menschen pilgerten, sollte das größte Rockereignis bleiben, das der Arbeiter- und Bauernstaat erlebte. Den Osten Deutschlands hat Adamson aber nicht nur deshalb besonders geliebt. "Hier erinnert mich vieles an Schottland", beschrieb er beim letzten Konzert der BC-Abschiedstour in Leipzig. Adamson war da schon Pub-Besitzer im Country-Mekka Nashville geworden, wo er Songs mit Kumpel Ray Davis (Kinks) schreiben und nebenher in der Spaßcombo The Raphaels spielen wollte. Er lebte jetzt den Traum, den das letzte Big-Country-Album im Titel beschrieb: "Driving To Damaskus", fort vom falschen Glitzer der Popwelt, von Ruhm und Versuchung.

Big Country sollte es nur noch einmal geben, auf einem Live-Album, das die Band auch in Leipzig mitgeschnitten hatte. Die CD endet mit der Bitte "Stay alive!" (Bleibt am Leben), mit der sich Stuart Adamson jedes Mal von seinem Publikum verabschiedet hat.

Big Country gibt es immer noch. Oder besser wieder. nach Mike Peters von The Alarm, der damals in Leipzig im Vorprogramm spielte, singt heute Simon Hough.

Er klingt wie Adamson. Ist es aber leider nicht. Das Original fehlt.