Freitag, 16. Juni 2017

Roger Waters: Der Mann, der Pink Floyd bleibt


Fast ein Vierteljahrhundert nach seinem letzten Großwerk spielt Roger Waters auf "Is this the life we really want? noch einmal den großen Ball als großer, trauriger Bedenkenträger. Kein Zweifel: Waters ist immer noch und mehr denn je der alte zornige Mann, nur jetzt nicht mehr jung.

Mehr als drei Jahrzehnte ist sein Ausstieg bei Pink Floyd her, aber wenn Roger Waters ein Album macht, ist der 73-Jährige locker in der Lage, den Sound eines Floyd-Albums zu reanimieren. Auch auf "Is this the life we really want?", seinem erst dritten Werk seit der Trennung von Gilmour, Mason und Wright, ist das so. 

"When we were young" startet das Album mit Drums und Klavier, Waters gibt den Weisen vom Berge, der zurückschaut und verspricht, man könne heute noch mal den Sound von damals hören.

 Und wirklich. Die zwölf Songs, die Waters irgendwann in den 20 Jahren seit "Amused to Death" geschrieben hat, zitieren Pink Floyd in der Darkside-Phase, zeigen aber inhaltlich den zornigen alten Mann, der so ganz und gar nicht mit der Welt zufrieden ist, in der er und sein Publikum leben. 

Das macht aus dem geborenen Melancholiker, der inzwischen mit leicht gebrochener Stimme singt, noch keinen ekstatischen Rocker, aber in seinen Texten ist der Israel-Gegner, Trump-Hasser und Medienkritiker deutlich wie immer. "The Last Refugee" schildert das tragische Ende einer Flucht über das Mittelmeer und "Broken Bones" betrauert die vergebene Chance, nach dem II. Weltkrieg Freiheit statt des "american dream" zu wählen. 

Roger Waters´ Weltbild war schon immer kompliziert und einfach zugleich, seine Musik sanft wie enervierend, mehr Hörspiel als Songzyklus. "Life" ist genauso, bis zum finalen "Part of me died", das pathetisch Unversöhnlichkeit beschwört. Roger Waters wird sich nicht entschuldigen. Nie, singt er. Dazu klingt Musik, als stamme sie von der dunklen Seite des Mondes.

Samstag, 10. Juni 2017

Kap Verde: Geheimnisvolle Inseln

Nur sechs Stunden Flug entfernt liegt ein völlig unbekanntes Ganzjahres-Feriengebiet.

All der weiße Sand, die glattgeputzten Boards, die Schussfahrt von der Düne, sie sind Arbeit für Frank Hennicke. Der Morro d’Areia - Hügel des Sandes - ist die drittletzte Station der Inseltour, die der Chef von Boavista-Tours mit Besuchern fährt. Eine Wüste direkt am Meer, rechts endlos weite karibisch blaue Wellen, links die karge Steinlandschaft von Boa Vista, der drittgrößten der kapverdischen Inseln, die nur zwei Flugstunden hinter den Kanaren liegen. Die aber, niemand weiß das besser als Frank Hennicke, der Boa Vista vor sechs Jahren zu seiner neuen Heimat gemacht hat, „genausogut auf einem anderen Planeten liegen könnten“.

Endlose Strände


Denn trotz der überschaubaren Entfernung, der endlos langen, unberührten Strände und der abwechslungsreichen Natur auf den insgesamt neun bewohnten Inseln kennt kaum jemand die vor rund 570 Jahren entdeckte Inselgruppe 600 Kilometer vor der Küste des Senegal. Wie alle anderen Inseln des Archipels war auch Boa Vista vor der Entdeckung durch die Portugiesen vor rund 550 Jahren unbewohnt.

Erst der ein halbes Jahrhundert später beginnende Sklavenhandel machte aus den Inseln, die bis dahin nur von einer kleinen Militäreinheit eher symbolisch besetzt worden waren, einen wichtigen Vorposten des portugiesischen Weltreiches. Später aber verlor die Kolonialmacht das Interesse, die Briten trieben noch ein wenig Salzhandel und nutzen den Hafen von Mindelo auf São Vicente, um ihre stets kohlehungrigen Dampfschiffe zu versorgen. Dann versank Kap Verde, so benannt nach dem Cabo Verde (Grünes Kap) an der Westküste Afrikas, bei dem Schiffe nach Westen abbiegen mussten, um die Inseln zu finden, wieder in der Vergessenheit.

Dort leben die rund 550 000 Kap Verdianer heute noch. Erst Mitte der 90er eröffnete ein Italiener das erste Hotel auf Boa Vista, erst vor einem Jahrzehnt begann die sozialdemokratische Regierung, den Tourismus als größtes Wachstumsfeld der Zukunft zu entwickeln.

Eine unglückliche Entscheidung, von der heute noch zahlreiche Bauruinen künden. Wo kurz vor der weltweiten Finanzkrise riesige Hotelkomplexe und Appartmentsiedlungen aus dem Boden schossen, stemmen sich heute kahle Betongerippe in den Wind. Vielen Investoren ist das Geld ausgegangen, klamme Hotelgruppen haben ihre Pläne wegen des Zusammenbruchs der Finanzmärkte ändern müssen. Der erhoffte Aufschwung des Tourismus wurde um eine Jahrzehnt zurückgeworfen.
Was der Atmosphäre auf Boa Vista heute gut tut. Außer einem großen Hotel, das an vergleichbare Mega-Anlagen in der Türkei oder Tunesien erinnert, verteilen sich Urlauber in ein paar wenige eher familiäre Häuser wie den immer noch vom italienischen Gründer betriebenen Marine Club Beach Resort nahe der Inselhauptstadt Sal Rei.


Infrastruktur fehlt


Eine Situation, die Auswanderer Frank Hennicke wohltuend findet, auch wenn er weiß, dass mit jedem zusätzlichen Touristen zusätzliches Geld in das Land strömt. Kap Verde rangiert in der Uno-Liste der ärmsten Länder derzeit auf Platz 122 von 187, direkt zwischen dem Irak und Marokko. Es fehlt an medizinischer Versorgung für die Einheimischen, manche Orte haben nur stundenweise Strom, Wasser muss in viele Dörfer per Wasserwagen gebracht werden. 90 Prozent aller Lebensmittel, aus denen zahlreiche Bars und Restaurants typisch kreolische Greichte zaubern, werden importiert, der Löwenanteil des Bruttoinlandsproduktes stammt aus den Überweisungen der Kap Verdianer, die im Ausland leben und arbeiten. „So lange die Infrastruktur nicht da ist, reicht es nicht, einfach mehr Bettenburgen zu bauen.“

Der Flughafen von Boa Vista etwa gleicht derzeit noch einem niedlichen Kiosk mit Landebahn, das Dach der Empfangshalle ist komplett offen. Warum auch nicht, es regnet ja ohnehin nie auf dieser Insel, die zwölf Monate im Jahr Sonne, Temperaturen um die 25 Grad, immer aber auch leichten bis mäßigen Wind vom Meer her haben. Das Rätsel, warum ganz Boa Vista dennoch nur drei Windkraftanlagen besitzt und keinen Solarpark, löst sich mit Blick auf die derzeitige Energieversorgung: Vor Jahren setzte die Regierung auf Dieselgeneratoren und gab den Erbauern der Anlagen eine Abnahmegarantie für den Strom. Der Bau von Windrädern ist auf Kap Verde deshalb dreimal teurer als in Deutschland, Solarpanele hingegen rechnen sich trotz des ewigen Sonnenscheins nicht, weil Salz, Wind und Sand ihre Oberflächen in kürzester Zeit zerstören.

Ideale Bedingungen aber gibt es nicht nur für Surfer und Taucher, sondern auch für ganz normale Strandurlauber, die von der eher dörflich wirkenden Hauptstadt Sal Rei im Nordwesten bis hinunter nach Curral Velho im Süden unendlich lange Sandstrände finden, an die sich stundenlang niemand verirrt.

Menschen finden sich eher am Mercearia Elvis ein, dem Kaufmannsladen des ältesten Ortes Bofareira, hinter dem es ins schroffe Gebirge der Ostseite geht. Hier treffen sich die Ausflügler, die vom Wrack der 1968 in einem Sturm vor der Nordküste gestrandeten Santa Maria kommen. Das Schiff, heute nur noch ein malerisch zerfallener Rostberg, liegt am Ende einer halsbrecherisch zu befahrenden Straße, bewacht von wilden Eseln, Ziegen und Kapuzineraffen, die als Haustiere auf die Insel kamen, mittlerweile aber einen festen Platz in der überschaubaren Fauna des Archipels haben.

www.boavista-tours.com


Montag, 5. Juni 2017

Big Brother im Bundestag: Erich Mielkes feuchter Traum


"Der Bundesrat hat in seiner 958. Sitzung am 2. Juni 2017 beschlossen, dem vom Deutschen Bundestag am 18. Mai 2017 verabschiedeten Gesetz zur Förderung des elektronischen Identitätsnachweises gemäß Artikel 84 Absatz 1 Satz 5 und 6 des Grundgesetzes zuzustimmen", heißt es auf der offiziellen Seite des Ländergremiums lapidar. Im Bundestag hatte die Mehrheit von Schwarz-Rot zuvor für das Gesetz votiert, wie die grün mitregierten Länder sich in der Abstimmung im Bundesrat verhalten haben, ist nirgends vermerkt. Klar ist jedoch: Das neue Gesetz öffnet die Türen weit zu einem Überwachungsstaat ganz neuer Qualität. Erich Mielke, der Chef der Staatssicherheit der DDR, hat vom Ausmaß dessen, was das als "Drucksache 391/17" öffentlich kaum wahrgenommene Gesetz möglich machen wird, nicht einmal feucht geträumt.

Denn die neue Bestimmung sorgt nicht nur dafür, dass die bisher von 90 Prozent der Deutschen verschmähte und ignorierte Möglichkeit, die elektronischen Komponenten des Personalausweises freischalten zu lassen und zu nutzen, künftig von Amts wegen freigeschaltet werden. Sondern sie gestattet es "Polizeibehörden des Bundes und der Länder, dem Militärischen Abschirmdienst, dem Bundesnachrichtendienst, den Verfassungsschutzbehörden, Steuerfahndungsdienststellen, dem Zollfahndungsdienst und den Hauptzollämtern“ nebenher aus, die Datenbanken, in denen die Personalausweis-Passbilder der Deutschen gespeichert sind, automatisch zu Fahnungszwecken zu nutzen.

Dazu braucht es keinen richterlichen Beschluss, nicht einmal ein staatsanwaltschaftliches Ersuchen. Die befugten Behörden bekommen -bis Mai kommendes Jahres einfach einen eigenen Zugang zu den Lichtbild-Archiven, in denen sie dann abprüfen können, was immer sie wollen, sobald es ihnen nötig scheint. Was und warum das ist, bleibt Geheimnis der jeweiligen Behörde. Weder Bürger, die Gegenstand einer Recherche geworden sind, noch Datenschützer erhalten Informationen darüber.

Ein mächtiges Werkzeug, das künftig noch mächtiger werden wird, wenn Gesichtserkennungprogramme, wie sie Google und Apple bereits entwickelt und - zumindest außerhalb Deutschlands - eingeführt haben, immer treffsicherer werden. Da der Personalausweis nicht nur ein elektronisches Passbild enthält, sondern auch die Fingerabdrücke des Inhabers, ist die Identifizierung eines Menschen nach einem Abgleich eines Fotos, das zum Beispiel mit einer Überwachungskamera gemacht wurde, ein Kinderspiel. Der Abgleich könnte automatisch erfolgen, zugegriffen werden könnte, befürchten Datenschützer, eines Tages auch auf die Kameras des Maut-System, die derzeit noch nur benutzt werden dürfen, um Fotos von Lkw-Kennzeichen zu machen.

Im Augenblick schließt die Politik eine solche flächendeckende Überwachung noch aus. Doch die Geschichte der Vorratsdatenspeicherung (VDS) lehrt, dass die Betonung immer auf "noch" liegt: Als die zuvor als verfassungswidrig abgeschaffte VDS zum zweiten Mal eingeführt wurde, wurde festgelegt, dass die von Providern zu speichernden Verbindungsdaten und GPS-Positionen ausschließlich bei der Verfolgung schwerer und schwerster Straftaten genutzt werden dürfen, also etwa bei Mord wie im Fall der 2015 in Halle ermordeten Studentin Mariya Nakovska.

Der Vorsatz hielt nicht lange. Eben erst hat die Bundesregierung die Liste der Delikte verlängert, bei denen Kommunikations- und Standortdaten abgefragt werden dürfen: Neben Delikten wie Völkermord, Hochverrat, Mord und Totschlag oder Verbreitung von Kinderpornografie sollen Ermittler künftig auch bei einfachem Einbruchdiebstahl auf die Daten zugreifen können. Die Bundesregierung ließ sich dabei auch nicht von einem Urteils des EuGH irritieren, der die Vorratsdatenspeicherung zwischenzeitlich als "rechtswidrig" verworfen hatte.

Keine zwei Jahre waren seit der Wiedereinführung der VDS vergangen und schon war sie vom Werkzeug der letzten Not zum polizeilichen Alltagsinstrument gegen Trivialkriminalität geworden. Ebenso schnell könnte es bei der Nutzung der Lichtbildarchive der Personalausweisregister und ihrer Verknüpfung mit den biometrischen Datenbanken der Fingerabdrücke und hochintelligenten Gesichtserkennungsalgorhitmen gehen. Big Brother wird es dann einfach wie nie: Sobald das Bild eines Verdächtigen vorliegt, reicht ein Tastendruck, um seinen Namen und seine Daten zu ermitteln.


Samstag, 3. Juni 2017

Little Steven: Der kleine Boss mit dem Kopftuch


Er spielte schon mit Bruce Springsteen zusammen in einer Band, als den allenfalls ein paar Leute rund um Ashbury Park/New Jersey kannten. Als der spätere "Boss" sich an die Arbeit zu seinem dritten Album "Born to run" machte, holte er seinen alten Gitarren-Kumpel Steven Van Zandt dann in seine E-Street-Band - der Rest ist Rockgeschichte. 

Springsteen feierte Welterfolge, van Zandt, genannt "Little Steven", stand mit Gitarre und Kopftuch neben ihm, bis er sich Mitte der 80er entschloss, eine Solokarriere zu starten. Die führte den heute 67-Jährigen in große Hallen und kleine Säle, Little Steven trat als politischer Aktivist auf und versammelte neben Springsteen auch Lou Reed, Bono, Bob Dylan und Peter Gabriel als "Artists United Against Apartheid" um sich.

Musik aber machte er weiter, seit Mitte der 90er sogar wieder mit Springsteens E-Street-Band. Kein Wunder, dass "Soulfire", das eben erschienene siebte Solo-Album des zuletzt als Schauspieler in "Sopranos" und "Lilyhammer" erfolgreichen Mannes aus Massachusetts klingt, als hätte der Boss selbst Hand angelegt. 

Das kommt allerdings nicht davon, dass Little Steven Springsteen nachäfft, sondern eher daher, dass er den Sound seines alten Freundes über Jahre geprägt hat wie kein anderer Musiker. 

Wenn hier nun van Zandts "I'm coming back" klingt wie ein verschollenes Stück des Megastars, wenn die Bläser in "Soulfire" schwitzen und das schon 1977 mit dem Boss zusammen geschriebene "Love on the wrong side" vom Klavier eingeleitet wird, dann ist das großer, klassischer Stadionrock im Springsteen-Stil. 

Little Steven spielt mit seiner Band The Disciples Of Soul am 14. Juni auf der Parkbühne im Leipziger Clara-Zetkin-Park. Karten für das Konzert gibt es hier: mawi-concert.de

Mittwoch, 31. Mai 2017

Oldham singt Haggart: Ver­nei­gung vor einem Riesen



Country, wie er früher war. Der einmal zum Bonnie Prince Billy rückverwandelte Will Oldham wandert auf Merle Haggarts Spuren.

Neben Johnny Cash und Willie Nelson war Merle Haggard immer der leise, angenehme Typ, der ohne Schlagzeilen auskam und manchmal den Eindruck erweckte, er meine seine Dorftrottel-Hymne "Okie from Muskogee" ernst.

Das hat er nie getan. Viele andere Lieder hingegen schon - und die sind es, die sich Bonnie Prince Billy, der bürgerlich Will Oldham heißt und 33 Jahre jünger als der im vergangenen Jahr verstorbene Haggard ist, herausgesucht hat, um sie neu einzuspielen. Ein Vorhaben, mit dem sich nicht viel gewinnen lässt. Oldham ist zwar geadelt, seit Johnny Cash einen seiner Songs neu einspielte. Aber insgesamt blieb der Mann aus Kentucky stets zu eigensinnig in seinem musikalischen Ausdruck, als dass ihn das Mainstream-Country-Publikum wirklich hätte als einen der seinen adoptieren können. 

Insofern: Ein bisschen wie Haggard, der "Working man's poet", der im Gegensatz zu Cash Jahre im Gefängnis zugebracht hatte und wusste, wovon er sang. Oldham verzichtet hier darauf, Haggards Lieder zu modernisieren oder ihnen seinen Stempel aufzudrücken. Die 16 Songs werden respektvoll gespielt, sparsam instrumentiert und von Oldham beseelt gesungen.

All das Verstaubte, das Haggards Klassikern wegen ihrer Entstehungszeit bisweilen anhängt, bläst der stille Star des alternativen Country vorsichtig beiseite. Und unter der Patina der frühen Jahre, als Countrysänger Cowboyhut tragen mussten, dafür aber zur besten Sendezeit im Fernsehen liefen, kommen kleine, feine Kuschellieder zum Vorschein.

Mittwoch, 24. Mai 2017

Spammer: Danke für den Fisch


Es ist eine Chance, die jeder nur einmal im Leben bekommt. 23 Millionen Euro liegen auf einem Konto in Nigeria bereit, hinterlassen von einem Zentralbankmitarbeiter, der gerade erst bei einem Autounfall gestorben ist. Seine Tochter sucht nun verzweifelt nach einem Weg, das Geld ins sichere Ausland zu schaffen. „Werte Herr“, schreibt sie in einer Mail, „bitte könne helfe mich bei dies Transaktion und geben Deine Kontonummer?“

Kein Mensch würde das tun, oder doch keiner, der noch einigermaßen bei Verstand ist. Zu viele Rechtschreibfehler, zu hanebüchen die Geschichte, die die vermeintliche Millionenerbin aus Afrika erzählt. Dennoch klingen Millionen sogenannter Scam-Mails, die sich unter hundert Billionen Spam-Mails finden, die alljährlich unverlangt in Milliarden E-Mail-Postfächern landen, ähnlich: Krude ist die Grammatik, absurd die Rechtschreibung, egal ob auf Englisch oder Deutsch.

Die Botschaft der Mails, die entweder Millionengewinne versprechen oder zur Kontoprüfung auffordern, wird von den meisten Empfängern gar nicht mehr wahrgenommen - misstrauisch geworden durch die verräterische Form, wird der Inhalt in den Papierkorb geschoben. Ja, wenn die Spammer etwas schlauer wären, sagen sich viele Nutzer. Dann würde man vielleicht auf ihre Betrugsversuche hereinfallen. Aber so? Niemals! Bei der Rechtschreibung, dieser Grammatik und den durchsichtigen Tarngeschichten merkt doch jeder sofort, dass hier Kriminelle unterwegs sind, die nach Opfern suchen.

Genau das aber ist die Absicht der Absender von betrügerischen E-Mails, wie Cormac Herley aus der Research-Abteilung des Software-Riesen Microsoft in einer Studie nachgewiesen hat. „Warum sagen nigerianische Betrüger, dass sie aus Nigeria kommen?“, hat er das Papier überschrieben, in dem das Rätsel der offenkundig stets von völlig unfähigen Betrügern abgefassten Scam-Mails gelöst wird.

Eine mathematische Frage, wie Herley nachweist: Für den höchsten Profit müsse der Betrüger nicht versuchen, möglichst viele potentielle Opfer zu finden. Sondern anstreben, die zu erwischen, die die höchste Wahrscheinlichkeit versprechen, dass sie am Ende wirklich auf den Betrug hereinfallen. Die atemberaubend schlechte Rechtschreibung, zwischengemischte russische oder Thai-Schriftzeichen und eine Grammatik, bei der alles durcheinandergeht, funktionieren im milliardenschweren weltweiten Scam-Geschäft wie ein Idiotenfilter.

Denn schwierig am Verschicken von betrügerischen Mails ist nicht die erste Aussendung, die darauf spezialisierte Programme automatisch und millionenfach vornehmen. Sondern die Fortführung der Kommunikation mit den Angeschriebenen, die tatsächlich auf obskure Millionenangebote aller Art antworten.

Scammer kalkulieren knallhart: Würden auf 500 Millionen verschickte seriös wirkende Mails 100 Millionen Menschen antworten, bräuchte der Versender der Scam-Mails rund 200.000 Mitarbeiter, von denen jeder am Tag 500 Mails beantworten müsste. Hier lässt sich nichts mehr automatisieren, weil jede Antwort individuell ausfällt und deshalb auch individuell beantwortet werden müsste.

Die Wahrscheinlichkeit, dass im weiteren Mailwechsel vielen auffallen würde, dass es hier letztlich um Betrug geht, wäre dennoch hoch - ein Großteil der teuren, weil nicht von Computerprogrammen zu erledigenden Arbeit wäre vergeblich. Anders, wenn von Anfang an so plumpe Anschreiben verschickt werden, dass die meisten Adressaten sie sofort löschen. Wenn dann auf 500 Millionen Mails nur 200 Leute antworten, sind darunter, so die eiskalte Rechnung, bestimmt fünf oder zehn, die sich am Ende betrügen lassen.


Mittwoch, 3. Mai 2017

TV-Start: Sieg über den Klassenfeind


Als die DDR mal ganz vorn war: Vor 65 Jahren siegte die Arbeiter- und Bauernrepublik im Rennen um den Fernseh-Sendestart in Deutschland.

Eine Kiste, groß wie ein Schrank, links mit Stoff abgespannt und rechts für ein Glasfensterchen in Postkartengröße geöffnet: Heute vor 60 Jahren brachte der "Leningrad T2" aus sowjetischer Produktion das Fernsehen nach Deutschland. In der ersten Sendung kurz vor dem Weihnachtsfest 1952 durfte Stalin zuerst auf den Bildschirm - rein zufällig fiel der Start des offiziellen Betriebes des DDR-Fernsehens auf den Geburtstag des Führers der internationalen Arbeiterklasse. 

Was für ein Triumph über den Klassenfeind! Der Nordwestdeutsche Rundfunk (NWDR) im Westen hatte zwar schon im November zwei Jahre zuvor mit der Ausstrahlung eines Versuchsprogrammes begonnen. Doch beim regelmäßigen Sendebetrieb hatte der Deutsche Fernsehfunk der DDR die Nase vorn. Erst vier Tage nach den Berlinern zog die Konkurrenz vom NWDR nach, die aus einem Bunker auf dem Heiligengeistfeld in Hamburg zuerst einen Film über die Entstehungsgeschichte des Weihnachtsliedes "Stille Nacht" sendete. 

Kalter Krieg im Äther, allerdings weitgehend unter Ausschluss der Öffentlichkeit. In ganz Ostdeutschland gab es nicht mehr als 80 Fernsehgeräte. Obwohl einige davon in sogenannten Fernsehstuben standen, in denen Sendungen kollektiv angeschaut werden konnten, konnten nicht mehr als ein paar hundert Zuschauer die Nachrichtensendung "Aktuelle Kamera" mit Sprecher Herbert Köfer oder sowjetische Dokumentationen verfolgen. Dennoch war sich die Führung der SED offenbar schon sehr früh darüber im Klaren, dass im Äther eine unsichtbare Front entstand, die von eigenen Truppen gehalten werden musste. 

Im Januar 1952 hatten sich DDR-Präsident Pieck, Ministerpräsident Grotewohl und der kommende starke Mann Walter Ulbricht im Sendezentrum in einer Baracke in Adlershof gemeinsam von der Wirksamkeit der neuen Propagandawaffe überzeugt. Vor allem die Aussicht, neben 2,3 Millionen <>-Bürgern auch rund 2,2 Millionen Menschen im Westen mit eigenen Sendungen erreichen zu können, führte wohl zur Beschleunigung der Umsetzung der Fernseh-Pläne, deren Ausarbeitung die Sowjetische Militäradministration bereits 1949 in Auftrag gegeben hatte. 

Nachdem der NWDR sein Testprogramm auf einer Messe öffentlich vorgestellt hatte, geriet die <> zudem unter Druck. Die Europäische Wellenkonferenz hatte der DDR Sendefrequenzen zugewiesen, die an den Klassenfeind im Westen verloren zu gehen drohten, wenn sie nicht benutzt würden. Kurt Heiß, damals Generalintendant des DDR-Rundfunks, warnte im Sommer 1952: "Wir müssen jetzt jeden Tag mit mehr als einer Stunde draußen sein, zu einer feststehenden Zeit, um die Frequenz zu belegen." 

Das gelang zwar, doch viel problematischer war im Osten der eklatante Mangel an Empfangsgeräten. Von der staatlichen Weisung an die volkseigene Industrie, "diese in ihrem Aufbau unerhört komplizierten Apparate zu einem möglichst geringen Preis herauszubringen, um Fernsehen für jeden erschwinglich zu machen", wie es in einer Veröffentlichung hieß, war im Laden nichts zu sehen. Im VEB Sachsenwerk Radeberg wurden nach sowjetischen Bauplänen zwar Leningrad-Fernseher hergestellt. Doch die meisten mussten als Teil der Reparationszahlungen in die UdSSR geliefert werden. Der Rest ging für stolze 3 500 Mark über den Ladentisch - das durchschnittliche Jahresgehalt eines DDR-Bürgers. Es ging folglich weniger um echte Erfolge an der Fernsehfront als vielmehr um Prestige. 

Zumal eine wirkliche Konkurrenz der Sender in Ost und West anfangs schon technisch ausgeschlossen war: Adlershof sendete Bild und Ton in der OIR-Norm, Hamburg verwendete die ICCR-Norm. Wer es schaffte, die auf Einkanal-Betrieb ausgelegten "Leningrad"-Geräte auf den Empfang des Westsenders umzustellen, sah entweder das Bild. Oder er konnte den Ton hören. Der Erfolg im Wettlauf um den Starttermin blieb dann auch der einzige Sieg des DDR-Fernsehens über den technisch und finanziell überlegenen Westen. 

Während die regelmäßigen Sendungen im Osten bis Ende 1955 als "Versuchsprogramm" firmierten, lief "drüben" schon seit Weihnachten 1952 der reguläre Sendebetrieb mit Übertragungen wie vom Fußballspiel Deutschland gegen Jugoslawien, Shows und Fernsehspielen. Dahin kam das nun Deutscher Fernsehfunk (DFF) genannte Fernsehen der DDR erst zum 2. Januar 1956, rein zufällig der 80. Geburtstag von DDR-Präsident Wilhelm Pieck. 

Jetzt standen schon ein paar Tausend Fernseher vom im Funkwerk Halle hergestellten Typ Sonata FT 55 in den Wohnzimmern zwischen Rügen und Riesa. Zehn Jahre nach dem Fernsehstart hatten zwei Millionen DDR-Haushalte einen Fernseher, 1969 startete das zweite Programm - sechs Jahre nach dem Zweiten Deutschen Fernsehen in der Bundesrepublik.