Sonntag, 14. Januar 2018

Eisenbahngeschichte: Pelzerzug auf dem Abstellgleis


Morgens drängten sich die Menschen auf dem rechten Bahnsteig. Links fuhr nur eine S-Bahn ab, die kaum besetzt Kurs auf Nietleben nahm. Rechts aber donnerte um kurz nach sechs der Personenzug Richtung Buna-Werk herein. Halle-Neustadt, Tunnelbahnhof, mitten in der Woche, mitten in den 80er Jahren. Ein paar hundert letzte Züge an der F6 oder Karo, während die Bremsen kreischen.


Ein paar hundert erste Schritte zur Waggontür, ein paar hundert kurze gemurmelte Grüße im Wagen. Und schon im Anfahren sind ein paar hundert Augen geschlossen; zehn, fünfzehn Minuten lang, ehe die Bahn ihre Menschenlast am Hintereingang des VEB Chemische Werke Buna wieder ausspukt. Die vom Volksmund „Pelzerzüge“ getauften Pendelbahnen zwischen der Chemiearbeiterstadt Halle-Neustadt und den Fabriken in Buna und Leuna ratterten im Schichtrhythmus hin- und zurück.

Wer in die ersten Züge stieg, war Wechselschichter in Produktionsanlagen wie Karbid oder Aldehyd. In dem danach folgten Büro-Angestellte und das Instandhaltungspersonal. Und im so genannten Mutti-Zug schließlich saßen die, die ihren Nachwuchs vor der Arbeit erst noch hatten in den Kindergarten bringen müssen. Rolf Beilschmidt ist die Strecke zwölf Jahre lang gefahren. „Jeden Morgen hin, jeden Abend zurück“, erinnert er sich, „und immer im selben Wagen, immer mit denselben Kollegen.“

Beilschmidt saß im dritten Waggon, zweite Sitzgruppe, rechte Seite, und er wusste auf dem 200 Meter langen Tunnelbahnsteig genau, wo er stehen musste, damit die Waggontür sich exakt vor ihm öffnete. Schon auf dem Weg zum Bahnhof traf der Schlosser stets einen Kollegen, auf dem Bahnsteig dann einen weiteren. Der vierte Mann stieß eine Minute später beim Halt am Neustädter Kinderdorf dazu. Da waren die Skatkarten meist schon ausgeteilt. „Wir haben bis Buna gespielt“, erzählt Rolf Beilschmidt, „und wenn die Runde nicht ganz fertig wurde, ging es nachmittags auf der Rückfahrt weiter.“

Die Zuggesellschaften auf der Pelzerlinie waren spätestens Mitte der 80er zu einem mikroskopischen Spiegelbild der DDR-Gesellschaft geworden. Die Räder drehten sich noch. Doch es bewegte sich nichts mehr.

Morgens roch es muffig, nach kaltem Qualm und billiger Seife. Die Heizungen in den schmutzigen Waggons waren immer bis zum Anschlag aufgedreht, die Fensterplätze sämtlichst wie mit unsichtbaren Namensschildern versehen. Graue Gesichter hinter ungeputzten Scheiben, auf denen in Schläfenhöhe Fettflecke von den Köpfen glänzten, die sich im so genannten Schicht-Schlaf dagegengekuschelt hatten. Abteilungsleiter und Funktionär, Lehrling und Ingenieur, Monteur und Sekretärin – bei jedem Wetter duckten sich alle vor dem Sturm, der durch den finsteren Tunnelbahnhof blies.

Zwanzig Minuten später dann schwankte die Brücke, die in Buna über die Gleise zum Werktor führt, unter dem Gleichschritt der im Morgengrauen herantappernden Massen. Pelzerzüge hatten die Gemütlichkeit von Mitropa-Toiletten. Die Farbe blätterte, der Boden klebte. Am Nachmittag kreisten unter Skatbrüdern und Werkstattkollegen zärtlich „Rohre“ genannte Flaschen mit Korn und Braunem. Die Skatkarten klatschten auf Aktentaschen, „Karo“ und „Neue Juwel“ qualmten. Fand ein echter Pelzer seinen persönlichen, über Jahre eingesessenen Platz im Zug nach dem Einsteigen besetzt, reichte ein Kopfnicken, um ahnungslose Schüler, die in ihren „Unterrichtstagen in der Produktion“ zum ersten Mal hineinschnupperten in die DDR-Volkswirtschaft, zurück in den Gang zu treiben.

Der Tod der Zweckbahn, für die selbst eingeschworene Eisenbahn-Romantiker kaum Gefühle zu entwickeln vermochten, kam in Raten. Mit der Wende stiegen zahllose Passagiere auf das eigene Auto um. Mit dem Schrumpfen der Werke mussten noch mehr gar nicht mehr nach Buna fahren. Der längste Regionalbahnsteig der Republik leerte sich. Die Wände des düsteren Tunnels füllten sich mit greller Grafitti.

Der Neustädter Bahnhof, ursprünglich als architektonisches Achtungszeichen aus Aluminium und Glas entworfen und mitten in das nie beendete Zentrum der ersten sozialistischen Stadt gestellt, verrümpelte. Das „Schiene“ gerufene Lokal, das nach Einfahrt der Bunazüge einst täglich zur dritten Schicht geladen hatte, machte zu. Später scheiterte ein halbherziger Versuch, das Gebäude zur Kulturinsel zu machen. Das Haus wurde ausgeräumt, abgesperrt und zugenagelt. Inzwischen ist vom belebtesten Bahnsteig der größten Stadt im Land nur eine leere Endzeit-Kulisse geblieben.

Ein paar Trinker lagern schon vormittags verloren am Eingang, eine Handvoll Menschen wartet im Tunnel auf die S-Bahn. Die Bahnhofstreppe hinaus ins Freie, die der Maler Uwe Pfeifer Anfang der 80er als Tür zum Himmel porträtierte, ist videoüberwacht. Dennoch hat kein Fenster mehr eine Scheibe, der Blumenladen ist verrammelt, der halbe Bahnsteig hinter einer Blechwand versteckt.

Die Zeiger der Bahnhofsuhr haben um 17 Minuten vor zwölf für immer Halt gemacht.

Freitag, 12. Januar 2018

Saudi-Arabien: Ein Bayer im Reich der Ölprinzen

Toni Riethmaier lebte zehn Jahre lang im unzugänglichsten Land der Welt - er lernte eine Gesellschaft kennen, in der die Lüge zum Alltag gehört und Gesetze nur soweit respektiert werden, dass niemand ihre Verletzung bemerkt.



Das Himalaya-Königreich Mustang gilt als schwer erreichbar, Nordkorea sogar als unzugänglich. Doch den Titel als das Land der Welt, in das Touristen überhaupt nicht vordringen können, trägt ein anderer Staat. Saudi-Arabien, das 1932 gegründete Öl-Königreich, das sich im Grunde im Privatbesitz der Familie Saud befindet, kennt keinen Tourismus, keine Touristenvisa und keine Durchreisegenehmigung für westliche Ausländer. Es ist abgekapselter als die frühere Sowjetunion, abgeschiedener als Bhutan und schwerer zu erreichen als die Sperrzone um den havarierten ukrainischen Atomreaktor von Tschernobyl.

Toni Riethmaier hat es dennoch geschafft. Der gebürtige Nürnberger wurde eines Tages gefragt, ob er nicht Lust habe, in der saudi-arabischen Hafenstadt Dschidda ein italienisches Restaurant aufzubauen. Riethmaier, ein abenteuerlustiger Gastronom, dachte nach. Und sagte schließlich zu, diese einzige Möglichkeit zu nutzen, das verschlossene Königreich kennenzulernen: Als ausländischer Arbeitnehmer, ein sogenannter Expat, der von einem saudischen Sponsor ins Land geholt, betreut und ein bisschen auch überwacht wird.

Es wird ein Trip in eine andere Welt, eine Reise, die am Ende zehn Jahre dauert und den heute 34-Jährigen zum intimen Kenner einer Gesellschaft macht, die von außen betrachtet fremd und rätselhaft, intolerant und stockkonservativ wirkt. Riethmaier, der zuvor schon in Singapur, Dubai, auf den Malediven und in China gelebt und gearbeitet hatte, erfährt das Land der Scheichs allerdings ganz anders: Saudi-Arabien, lernt er, spielt nach anderen, oft schwer verständlichen Regeln. Doch hinter der streng muslimischen Fassade und unter den Verschleierungen, die dank der wahhabistischen Staatsreligion ganz besonders kleine Sichtfenster haben, finden wilde Partys statt, wird auch Alkohol getrunken und selbst des strenge Sex-Verbot für Unverheiratete wird von jüngeren Saudis allenfalls symbolisch ernstgenommen.

Die wildesten Feten seines Lebens habe er in Saudi-Arabien erlebt, schreibt Riethmaier in seinem Buch "Inside <>", das einen pragmatischen Blick in eine fremde Kultur wirft, die zwischen Tradition und Zukunftssehnsucht schwankt. Die Macht der Sauds, ausgeübt von einem Königshaus, das seine Basis in rund 7 000 Prinzen hat, ruht auf der strengen Koranauslegung, die westliche Einflüsse strikt draußen hält. Doch im Land, das aus westlicher Sicht ununterbrochen Menschenrechte verletzt, hinrichtet, steinigt und auspeitscht, gärt es. Junge Leute wollen mehr Freiheit, Frauen wollen Autofahren, die Bevölkerung möchte ein Wort mitreden über die grundlegende Politik des Landes.

Ein wenig werden die Zügel gelockert, zumal manche Regel nach Riethmaiers Beobachtungen ohnehin nur formal eingehalten wird. Frauen dürfen nicht etwa nicht Autofahren, weil sie das nicht können, sondern weil sie eine Panne haben könnten. Dann ständen sie allein auf der Straße und ein fremder Mann könnte sich ihnen nähern - eine Katastrophe. Allerdings wohl vermeidbar, denn von fremden Autofahrern mitgenommen zuwerden - selbst von Taxen - ist im Grunde auch verboten, das Verbot aber wird umgangen, indem Fahrer und Mitfahrerin stillschweigend davon ausgehen, dass man sich kennt, weil man ja schließlich in einem Auto fährt.


Donnerstag, 4. Januar 2018

Digedags: Familie Duck der DDR

Hannes Hegens Comiczeitschrift "Mosaik" war zwei Jahrzehnte lang die realsozialistische Antwort auf Mickey Mouse - nur noch viel erfolgreicher. Nach dem plötzlichen Ende der Heftserie übernahmen die Abrafaxe, doch für echte Fans blieben die immer bloße Kopie.

Unvermittelt pflegten sie aufzutauchen, unangekündigt sowieso. Der Schuldirektor,- im Schlepptau ein, zwei Lehrer. "Ranzenkontrolle", blökte einer durch den Raum. Die Deutschstunde jedenfalls war gelaufen. Wenn nicht sogar der ganze Tag. Wurden die gnadenlosen Suchtrupps nämlich fündig, brach das Donnerwetter über den betreffenden Schüler herein. "Schundund Schmutzliteratur" in der Schultasche verwahrt zu haben, zog regelmäßig regelrechte Verhöre nach sich: Woher stammt die Konterbande? An wen wurde das inkriminierte Groschenheft bereits verliehen? Wer besitzt ähnliches "gedrucktes Gift" (NBI)? Wo sind Mickey Mouse, Lucky Luke, Donald Duck und die anderen versteckt? Und warum gab sich der Ertappte mit solchem "geistigen Müll" ab?


Der verderbliche Einfluss, den "westlich-dekadente" Bildgeschichten auf den kindlichen Charakter haben, war in der DDR unumstritten. Dagobert Duck galt als die Inkarnation des bösen, geldgierigen Kapitalisten, Lucky Luke als indianermordender Cowboy. Der Kalte Krieg zwischen Ost und West tobte und die fröhliche Unverkrampftheit der bunten Heftchen konnte so nur eine ganz besonders perfide Masche sein, um den Sozialismus, von dem man felsenfest meinte, er "erstarke" unablässig, zu zerschmettern. 
Walt Disney war ein Handlanger beim Angriff des Klassenfeindes auf die Jugend, die doch eben im Begriff war, die Zukunft zu bauen.


Doch alle Kämpfe an der ideologischen Front, alle Ranzenkontrollen nebst harter Bestrafung erwischter Delinquenten nützen nichts. Die Seuche Comics, ausgebrochen in den USA der vierziger Jahre und von den siegreichen amerikanischen GIs nach Deutschland verschleppt, hatte zum Ärger der SED-Führung auch die halstuchbeschlipste DDR-Jugend angesteckt. 



Irgendwie kam Johannes Hegenbarth da genau richtig. Der Ostberliner Grafiker und Zeichner hatte schon seit Anfang der Fünfziger die Idee einer eigenen DDR-Comiczeitschrift, denn, so meinte er im Unterschied zur damals herrschenden Schulmeinung nicht nur im Osten Deutschlands, nicht die Form der Comics an sich ist schlecht - die Inhalte sind entscheidend. Was also lag näher, als die Comicsform mit dem Erziehungsanspruch des sozialistischen Bildungswesens zu verbinden? Im Dezember 1955 war es soweit. Alle Widerstände glücklich überwunden, die erste Nummer gedruckt. Johannes Hegenbarth, der sich als Herausgeber amerikanisch verknappt "Hannes Hegen" nannte, präsentierte im FDJ-Verlag "Junge Welt" das "Mosaik". Die Folge 1 - "Auf der Jagd nach dem Golde" genannt - war der erste einer einzigartigen Serie von DDR-Comics.


Dig, Dag und Digedag hießen Hegens knollennasige Helden, die in den nachfolgenden 21 Jahren und insgesamt 229 Heftnummern Abenteuer auf Mars, Mond und Erde, im Amerika der Gründerzeit, im Mittelalter, und Gott weiß noch wo erleben sollten. Anfangs von misstrauischen Beobachtern unter Generalverdacht der Jugendverblödung gestellt, gelang es den Digedags genannten Dreikäsehochs mit ihren einfachen und "sauberen" moralischen Ansichten und Ansprüchen schnell zu wahren Kultfiguren zu werden.


Obgleich die Druckauflage seit Anfang der sechziger Jahre beständig - wenn auch stets nur "im Rahmen der ökonomischen Möglichkeiten" - gestiegen war, reichte das Angebot hinten und vorn nicht, um die Nachfrage auch nur annähernd zu befriedigen. Das "Mosaik", sechzig Pfennig teuer und zu seinen Hochzeiten mehr als eine Million Mal im Monat verkauft, avancierte zur gefragtesten Bückware an den Zeitungskiosken zwischen Ahrenshoop und Zittau. Im Abonnement hatte Hegens bahnbrechende Neuerfindung des- Comic als sogenannte Bilderzeitschrift eigentlich von Anfang an eines dieser Sternchen, die besagten: "Neu-Abo nur möglich, wenn Alt-Abonnent stirbt."


Trotz oder gerade wegen dieser, alle Parteitagsbeschlüsse und Republikgeburtstagsverpflichtungen hartnäckig überlebenden Erschwernisse wuchsen glatte drei Generationen von DDR-Kindern mit Dig, Dag, Digedag; dem gutmütig-doofen Ritter Runkel, mit dem lächerlichen Bösewicht Coffins und all den anderen '. freundlichen, skurrilen Gestalten auf. Reisten die von ihren Fans liebevoll "Digis" genannten Gnome in die Zukunft, in der ihnen von glücklichen sozialistischen Menschen nur so wimmelnde gigantische Flughäfen und natürlich gemeinschaftliche genutzte Elektro-Autos begegneten, reisten zumindest alle DDR-Bürger zwischen acht und sechzehn mit. Ging der Ausflug in die ferne Vergangenheit der Kreuzzüge, wartete man nicht weniger gespannt auf die' nächste Folge.


Wie das Abenteuer ausgehen würden, war natürlich immer vorher klar. Die  stets adenauergesichtigen Knurrgestalten des Bösen durften kämpfen. Aber am Ende gelang es den Digedags doch immer,  mit List und Klugheit und durch die Hilfe eines ganzen Haufens sich stets wie von Wunderhand um sie versammelnder guter Menschen zu obsiegen.


Im Unterschied zu "kapitalistischen Comics" hatte Hegens "sozialistische Bilderzeitschrift" vor allem in den ersten Jahren erklärtermaßen eine erzieherische Funktion neben der rein unterhaltenden. Abenteuer, Flüge, ferne Welten und fremde Gestade dienten vorzugshalber als Kulisse für naturwissenschaftliche Kurzvorträge eines Koerzählers namens "Lexi , der es sich bei passender Gelegenheit auch nicht nehmen ließ, vorsichtige Agitation mit chemisch-physikalischen Neuigkeiten zu verbinden. 


Mit den Jahren aber änderte sich das - "Lexi" verschwand ohne Spuren zu hinterlassen.und aus dem "technic strip" wurde mehr und mehr eine Spielwiese des Allgemeinmenschlichen. Ob im alten Rom oder im Wilden Westen, ob im Orient oder auf dem Mond, die Digedags - irgendwie immer unschwer zu erkennen als die DDR-Bürger, die sie ja in Wirklichkeit auch waren - hatten nur noch eine Botschaft: Wo die Bösen regieren, muss das Gute sich einmischen. Dann geht es um das große Ganze, und dann hat der eigene, kleine, persönliche Vorteil nichts zu suchen.


Die Parallelen zur Wirklichkeit ist so unübersehbar wie beabsichtigt: Die Digedags kämpften immer wieder die Kämpfe der Realität nach, siegten als putzige Karikaturen ihrer verhinderten Herren; nicht zuletzt jedoch erlebten sie dabei stellvertretend die große, weite Welt, die ihren Lesern verschlossen blieb. Und ihre Abenteuer begründeten zugleich bis Mitte der siebziger Jahre, warum zum Teufel das so sein muss. Den Garaus machte den drolligen kleinen Kerlen schließlich ein Streit zwischen ihrem Erfinder Hannes Hegen und dem Verlag Junge Welt im Jahr 1976, der mit dem Bruch zwischen beiden und der nachfolgenden Erfindung der "Abrafaxe" endete, die den Digedags zwar bis hin zu Charakteren, Gesten und Verhaltensweisen täuschend echt nachempfunden waren, deren Kultstatus jedoch nie erreichten.

Seit Anfang Dezember gibt es die Digedags in einer eigenen Dauerausstellung im Zeitgeschichtlichen Forum Leipzig zu erleben.