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Montag, 10. Dezember 2018

Halle, ehrlichste Stadt: Das Fahrradwunder vom Franzosenweg


Normalerweise dürfte dieses Fahrrad dort nicht stehen. Nicht dort und nirgendwo sonst, denn schließlich ist Halle die Fahrraddiebstahl-Hauptstadt Sachsen-Anhalts: Knapp 4 000 Räder wurden 2017 an der Saale gestohlen - nur knapp 500 Fahrraddiebstähle waren es im Jahr 2011. Dabei gehen nach wie vor die wenigsten Diebstahlsopfer zur Polizei, weil deren Aufklärungsrate unterirdisch ist. In nicht einmal jedem zwölften Fall wird ein Fahrraddieb erwischt, mehr als 90 Prozent aller Diebstähle bleiben unaufgeklärt. Wer Anzeige erstattet, erhält in der Regel schon nach wenigen Tagen ein Standardschreiben der Staatsanwaltschaft: Es habe leider kein Täter ermittelt werden können. Die Ermittlungen seien eingestellt.


Und nun dieses Rad, wie ein Hohn auf die Statistik und den Ruf der Saalestadt als Klau-Hochburg. Seit Anfang Juni, also ist mehr als sechs Monaten steht es im Franzosenweg, ein Damenrad, konservatives Modell, tiefer Einstieg, leicht hässliches Dunkelrot, Doppelrahmen, eher belastbar als schick, aber fahrtüchtig, abgesehen von einem Platten am Hinterrad.

Das Fahrrad ist nicht angeschlossen, nicht einmal an sich selbst. Jeder Passant könnte es nehmen und wegschieben - normalerweise werden auch solche Räder gnadenlos aus Kellern gezerrt, von Ständern vor Kneipen oder Freibadzäunen geschnitten. Manchmal dauert es keine fünf Bier und das Rad, mit dem der Gaststättenbesucher gekommen ist, fehlt auf dem Nachhauseweg. Manchmal halten nicht einmal verschlossene Haus- und Kellertüren "organisierte Banden" (Polizei) davon ab, gleich ein Dutzend Räder aus einem Fahrradraum zu schleppen.

Wie ein trotziges Mahnmal gegen das Vorurteil, Halle sei für Fahrradbesitzer eine teure Stadt, steht nun das ehemals edle Winora-Rad da, inzwischen nicht mehr unauffällig gelehnt an eine Hauswand, sondern an die Außenmauer der alten Uni-Klinik, wo Studentinnen und Studenten, aber auch andere Passanten das Angebot gar nicht übersehen können. Dennoch hält es sich, mitten in der Stadt, die nach einer Statistik eines Vergleichsportals bundesweit auf Rang 3 rangiert, wenn es um die Spitzenränge beim Fahrradklau geht.

Eine Erklärung gibt es nicht. Das Wunderfahrrad vom Franzosenweg, es hat den Sommer überstanden, den Herbst und wenn alles gut geht, steht es vielleicht nach dem Winter immer noch da.

Oder nun auch nicht. Dann aber liegt es womöglich nur an diesem Text hier.


Sonntag, 14. Januar 2018

Eisenbahngeschichte: Pelzerzug auf dem Abstellgleis


Morgens drängten sich die Menschen auf dem rechten Bahnsteig. Links fuhr nur eine S-Bahn ab, die kaum besetzt Kurs auf Nietleben nahm. Rechts aber donnerte um kurz nach sechs der Personenzug Richtung Buna-Werk herein. Halle-Neustadt, Tunnelbahnhof, mitten in der Woche, mitten in den 80er Jahren. Ein paar hundert letzte Züge an der F6 oder Karo, während die Bremsen kreischen.


Ein paar hundert erste Schritte zur Waggontür, ein paar hundert kurze gemurmelte Grüße im Wagen. Und schon im Anfahren sind ein paar hundert Augen geschlossen; zehn, fünfzehn Minuten lang, ehe die Bahn ihre Menschenlast am Hintereingang des VEB Chemische Werke Buna wieder ausspukt. Die vom Volksmund „Pelzerzüge“ getauften Pendelbahnen zwischen der Chemiearbeiterstadt Halle-Neustadt und den Fabriken in Buna und Leuna ratterten im Schichtrhythmus hin- und zurück.

Wer in die ersten Züge stieg, war Wechselschichter in Produktionsanlagen wie Karbid oder Aldehyd. In dem danach folgten Büro-Angestellte und das Instandhaltungspersonal. Und im so genannten Mutti-Zug schließlich saßen die, die ihren Nachwuchs vor der Arbeit erst noch hatten in den Kindergarten bringen müssen. Rolf Beilschmidt ist die Strecke zwölf Jahre lang gefahren. „Jeden Morgen hin, jeden Abend zurück“, erinnert er sich, „und immer im selben Wagen, immer mit denselben Kollegen.“

Beilschmidt saß im dritten Waggon, zweite Sitzgruppe, rechte Seite, und er wusste auf dem 200 Meter langen Tunnelbahnsteig genau, wo er stehen musste, damit die Waggontür sich exakt vor ihm öffnete. Schon auf dem Weg zum Bahnhof traf der Schlosser stets einen Kollegen, auf dem Bahnsteig dann einen weiteren. Der vierte Mann stieß eine Minute später beim Halt am Neustädter Kinderdorf dazu. Da waren die Skatkarten meist schon ausgeteilt. „Wir haben bis Buna gespielt“, erzählt Rolf Beilschmidt, „und wenn die Runde nicht ganz fertig wurde, ging es nachmittags auf der Rückfahrt weiter.“

Die Zuggesellschaften auf der Pelzerlinie waren spätestens Mitte der 80er zu einem mikroskopischen Spiegelbild der DDR-Gesellschaft geworden. Die Räder drehten sich noch. Doch es bewegte sich nichts mehr.

Morgens roch es muffig, nach kaltem Qualm und billiger Seife. Die Heizungen in den schmutzigen Waggons waren immer bis zum Anschlag aufgedreht, die Fensterplätze sämtlichst wie mit unsichtbaren Namensschildern versehen. Graue Gesichter hinter ungeputzten Scheiben, auf denen in Schläfenhöhe Fettflecke von den Köpfen glänzten, die sich im so genannten Schicht-Schlaf dagegengekuschelt hatten. Abteilungsleiter und Funktionär, Lehrling und Ingenieur, Monteur und Sekretärin – bei jedem Wetter duckten sich alle vor dem Sturm, der durch den finsteren Tunnelbahnhof blies.

Zwanzig Minuten später dann schwankte die Brücke, die in Buna über die Gleise zum Werktor führt, unter dem Gleichschritt der im Morgengrauen herantappernden Massen. Pelzerzüge hatten die Gemütlichkeit von Mitropa-Toiletten. Die Farbe blätterte, der Boden klebte. Am Nachmittag kreisten unter Skatbrüdern und Werkstattkollegen zärtlich „Rohre“ genannte Flaschen mit Korn und Braunem. Die Skatkarten klatschten auf Aktentaschen, „Karo“ und „Neue Juwel“ qualmten. Fand ein echter Pelzer seinen persönlichen, über Jahre eingesessenen Platz im Zug nach dem Einsteigen besetzt, reichte ein Kopfnicken, um ahnungslose Schüler, die in ihren „Unterrichtstagen in der Produktion“ zum ersten Mal hineinschnupperten in die DDR-Volkswirtschaft, zurück in den Gang zu treiben.

Der Tod der Zweckbahn, für die selbst eingeschworene Eisenbahn-Romantiker kaum Gefühle zu entwickeln vermochten, kam in Raten. Mit der Wende stiegen zahllose Passagiere auf das eigene Auto um. Mit dem Schrumpfen der Werke mussten noch mehr gar nicht mehr nach Buna fahren. Der längste Regionalbahnsteig der Republik leerte sich. Die Wände des düsteren Tunnels füllten sich mit greller Grafitti.

Der Neustädter Bahnhof, ursprünglich als architektonisches Achtungszeichen aus Aluminium und Glas entworfen und mitten in das nie beendete Zentrum der ersten sozialistischen Stadt gestellt, verrümpelte. Das „Schiene“ gerufene Lokal, das nach Einfahrt der Bunazüge einst täglich zur dritten Schicht geladen hatte, machte zu. Später scheiterte ein halbherziger Versuch, das Gebäude zur Kulturinsel zu machen. Das Haus wurde ausgeräumt, abgesperrt und zugenagelt. Inzwischen ist vom belebtesten Bahnsteig der größten Stadt im Land nur eine leere Endzeit-Kulisse geblieben.

Ein paar Trinker lagern schon vormittags verloren am Eingang, eine Handvoll Menschen wartet im Tunnel auf die S-Bahn. Die Bahnhofstreppe hinaus ins Freie, die der Maler Uwe Pfeifer Anfang der 80er als Tür zum Himmel porträtierte, ist videoüberwacht. Dennoch hat kein Fenster mehr eine Scheibe, der Blumenladen ist verrammelt, der halbe Bahnsteig hinter einer Blechwand versteckt.

Die Zeiger der Bahnhofsuhr haben um 17 Minuten vor zwölf für immer Halt gemacht.

Samstag, 14. Oktober 2017

Ex-Stasi-Vizechef Werner Großmann: Keinen Millimeter zurückweichen


Ex-Stasi-Vizechef Werner Großmann beharrt auf seiner Sicht der Dinge. Denn am Ende geht es darum, Geschichte zu schreiben.


Geschehen ist sie schon längst, unverrückbar stehen die Ereignisse in der Historie. Aber wie sie zu deuten sind, das wird gerade festgelegt, von heute aus für immer, das weiß auch Werner Großmann, bis 1989 der Vize-Chef des Ministeriums für Staatssicherheit der DDR. Und aus genau dem Grund lässt der 88-Jährige auch nicht nach: Mit "Der Überzeugungstäter" (edition ost) hat der einstige Generaloberst gerade noch einmal ein Buch vorgelegt, in dem er seine Sicht auf die Staatssicherheit vor dem Hintergrund seiner Biografie schildert.

Nicht der erste Versuch des aus der Nähe von Pirna stammenden Sohnes eines Zimmermanns, aber vielleicht der letzte. Großmann gehört wie sein Vorgänger als Chef der Auslandsspionage Markus Wolf, wie Günter Schabowski und der letzte NVA-Vize Fritz Streletz zur Zwischengeneration der DDR-Führungsriege. Im Dritten Reich zur Schule gegangen, landet Großmann noch beim Volkssturm, von dem er umgehend abhaut, als sich die Gelegenheit ergibt. Großmanns sind eine Handwerkerfamilie, aber als der Vater aus der Gefangenschaft zurückkehrt, schließt er sich der KPD an. Am selben Tag tritt auch Sohn Werner bei, er ist gerade 17, aber auf der Suche nach einem Neuanfang für Deutschland und für sich selbst. Über die SED-Jugendorganisation FDJ landet er in einer Funktionärslaufbahn, die Führung entdeckt ihn als vielversprechenden „Kader“ und wählt ihn schließlich aus, die im Aufbau befindlichen „bewaffneten Organe“ zu verstärken.

Für Großmann, bis Oktober 1990 einer der ganz großen Unbekannten des ostdeutschen Geheimdienstes, ein Lebensweg, den er bis heute mit aller Überzeugung vertritt. Bei der FDJ verkehrten nicht nur Gleichaltrige, sondern auch Gleichgesinnte, begründet er seine Begeisterung für den Aufbruch in eine neue Zeit. Bauingenieur oder Lehrer habe er werden wollen, doch als dann jemand aus der Zentrale in Berlin auftaucht und ihn für eine nicht näher bezeichnete Schule werben will, lockt die Hauptstadt.

Großmann sagt Ja und ist auf einmal Mitarbeiter des „Außenpolitischen Nachrichtendienstes“ wie die spätere Hauptverwaltung Aufklärung (HVA) anfangs noch heißt. Aus der Sicht des Mannes, der der letzte Chef des vor allem in den 70er und 80er Jahren weltweit gefürchteten Spionagedienstes von Markus Wolf sein wird, ist das ein Job wie viele andere auch. Großmann, alten Fotos zufolge schon in seinen jungen Jahren ein fleischiger, robust wirkender Typ, hat nie etwas mitbekommen von illegalen Methoden, von der Erpressung von Zuträgern, von Machtkämpfen im Parteiapparat oder Mordplänen, die gegen Abtrünnige wie den MfS-Oberleutnant Werner Stiller oder den Fußballer Lutz Eigendorf geschmiedet worden sein sollen. „Gerüchte, mehr nicht“, sagt er. Es habe weder ein Mordkommando aus Offizieren gegeben, noch Pläne, den „Verräter“ Stiller mit Gewalt zurück in die DDR zu holen.

Überhaupt stellt Werner Großmann das MfS als ziemlich normale Behörde dar, etwas neurotisch, weil unentwegt in Angst, unterwandert zu werden. Aber selbst die Auslandsabenteuer seiner HVA erklärt der gebürtige Sachse mit der großen Systemauseinandersetzung. Die andere Seite sei nie besser gewesen, man selbst aber immer in besserer Absicht. Warum sich also Asche aufs Haupt streuen? Es geht schließlich darum Geschichte zu schreiben.

Samstag, 17. Juni 2017

17. Juni 1953: Der Tag X in Halle

Szenen aus Halle, die der Schriftsteller Titus Müller in seinem Buch über den "Tag X" fast dokumentarisch beschreibt.Fotos: Archiv Zeit-Geschichte(n), unten rechts: Albert Ammer, 

Der Leipziger Schriftsteller Titus Müller führt mit seinem spannenden Geschichtsdrama „Tag X“ in die Zeit des Arbeiteraufstandes vom Sommer 1953. Im Mittelpunkt seines Buches steht das, was damals in Halle geschah.


Auf einmal stehen alle Räder im Waggonbau Ammendorf still. Die Arbeiter sammeln sich auf dem Hof und brüllen den Parteisekretär nieder, der sie zurück an die Werkbänke reden will. Dann marschieren sie Richtung Innenstadt, ohne Befehl und ohne Anführer. Immer neue Arbeitskollektive schließen sich an. Ein schweigsamer Strom, der mehr und mehr Menschen aus den umliegenden Betrieben ansaugt. Die Staatsmacht sieht es geschockt, unfähig zur Reaktion.

Ausnahmezustand im „Maschinenraum der DDR“, wie der Leipziger Schriftsteller Titus Müller den damaligen Bezirk Halle in seinem neuen Buch "Der Tag X"  nennt. In jenem Juni 1953 ist das Volk auf der Straße, die Einheitspartei verbarrikadiert sich. Als einige Demonstranten versuchen, die Stadtleitung der SED zu stürmen, fallen Schüsse. Später am Tag wird Blut fließen, ehe sowjetische Panzer rollen und den Aufstand rücksichtslos niederschlagen.

Doch es ist nicht nur die einzige große Rebellion der DDR-Bevölkerung gegen das System, die Titus Müller beschäftigt. Ihm geht es auch in seinem zwölften Roman wieder um ein Zeitbild, das Geschichte in mehreren Ebenen lebendig werden lässt. Wie zuletzt bei „Berlin Feuerland“, einer Geschichte vor dem Hintergrund der Märzunruhen des Jahres 1848, stellt der 39-Jährige seine erfundenen Figuren in echte historische Kulissen, in denen sie stellvertretend für ihre wirklichen Zeitgenossen agieren.

Der Waliser Ken Follett hat diese Methode der Geschichtsdramastisierung zuletzt mit der auch den 17. Juni berührenden „Jahrhundertsaga“ perfektioniert. Titus Müller hält die Perspektive mehr am Boden, er schildert in „Tag X“ nur ein Jahr. Es gelingt ihm aber ebenso gut wie dem britischen Auflagenmillionär, glaubhafte Charaktere auf die historische Bühne zu stellen.

Seine Hauptheldin hier ist die Schülerin Nelly, die sich in einem Land zurechtfinden muss, das nicht einfach zu verstehen ist. Jahre zuvor haben sowjetische Soldaten ihren Vater mit nach Russland genommen, wo er für Stalin forschen muss. Nelly hat Fragen dazu, die ihr niemand beantworten will. So landet sie in der Jungen Gemeinde - und das in einer Zeit, in der die DDR gegen die Kirchen mobil macht.

Während in Moskau Stalin stirbt und das Machtgefüge im Sozialismus ins Rutschen gerät, wird Nelly zur Staatsfeindin erklärt. Sie fliegt von der Schule, verliebt sich in den Uhrmacher Wolf, der wiederum versucht, ihr über seinen Funktionärsvater zu helfen und dabei in die Fänge der Stasi gerät. In Halle hat die alleinerziehende Arbeiterin Lotte ähnliche Probleme - der Alltag ist hart, die Zukunft düster. Hoffnung könnte nur noch eine Veränderung von allem geben.

Parallel blendet Müller nach Bonn, wo ein Sowjet-Spion für seinen ambitionierten Chef Lawrenti Beria ein Tauschgeschäft über die DDR anbahnt, und nach Moskau, wo Funktionäre um das Erbe Stalins rangeln. In Berlin wird derweil eine konsternierte SED-Führung zwischen dem eigenen Volk und den Weltmacht-Interessen der Schutzmacht im Osten zerrieben.

Titus Müllers Geschichte ist ein Komprimat von vielem, was damals gewesen sein könnte, und anderem, das wirklich war. Adenauer tritt auf, Globke, Churchill und Chruschtschow intrigieren, Ulbricht bettelt, und der von seiner guten Sache überzeugte Minister Fritz Selbmann tritt den Demonstranten ungeschützt gegenüber. In echt wird Ulbricht ihn später wegen „abweichender Meinungen“ kaltstellen lassen.

Müllers temporeiches, spannendes Spiel mit der Wirklichkeit bleibt nah an der tragischen Wahrheit. Im richtigen Leben hieß der vor dem Roten Ochsen erschossene Student nicht Marc König, sondern Gerhard Schmidt (hier die wahre Geschichte), aber er war wirklich 27 und nur zufällig in die versuchte Stürmung des Gefängnisses geraten. Auch dass die DDR-Führung seinen Tod später instrumentalisierte, um mit einem Opfer „westdeutscher Provokateure“ von der eigenen Verantwortung abzulenken, ist wahr. Ebenso wie der Versuch der SED-Spitze, die erhöhten Arbeitsnormen nach den ersten Protesten zurückzunehmen.

Doch der Zug der Zeit war da schon auf den Schienen, die Machtprobe unausweichlich. Am 17. Juni rollen die Panzer, am Abend wird das Kriegsrecht verhängt. Am 18. Juni ist Halle eine belagerte Stadt, die Proteste sind erstickt. Am 26. wird Beria in Moskau verhaftet, der Kampf um Deutschland ist beendet. Der Massenmörder, der sich als Reformer sah, wird im Dezember als britischer Spion verurteilt und sofort erschossen. Zurück bleiben Lotte, Nelly und Wolf, die nichts davon verstehen und noch viel DDR vor sich haben.

Titus Müller: „Tag X“, Blessing,
400 Seiten, 19,99 Euro

Freitag, 24. März 2017

Hochwasser: Jemand hat die Absicht, eine Mauer zu bauen

So ähnlich wird die neue Mauer aussehen, die ab 2018 den Gimritzer Damm flankiert. 
Nach dem Hochwasser vom Sommer 2013 kam der Streit darum, wie es weitergehen soll. Dammbau hier oder dort, eine neue Eissporthalle oder die alte, alle Wege im Naturschutzgebiet asphaltieren oder doch nur ein paar? So schnell das Rathaus am Anfang vorgeprescht war, um gemeinsam mit bewährten Partnern vollendete Tatsachen zu schaffen, so zäh wurde die Geschichte schließlich vor Gericht.

Erst nach dreieinhalb Jahren wird nun langsam deutlich, wohin die Reise geht: Es wird kein neuer Damm gebaut, nicht an neuer Stelle wie ursprünglich vom Oberbürgermeister angestrebt, und nicht an alter, wie immer schon von der Verwaltung abgelehnt. Stattdessen entsteht ab 2018 neben dem alten Deich eine sogenannte Spundwand, wie sie heute schon in der Nähe von Barby an der Elbe zu bewundern ist (Bild oben).

Der Landesbetrieb für Hochwasserschutz hat die Absicht, eine 1.240 Meter lange Mauer zu bauen, immer entlang des alten Dammes - und höher als dessen Krone heute.

Benutzt werden für eine solche „tragende und dichtende Wand auf einer aufgelösten Bohrpfahlgründung“, wie es offiziell heißt, in der Regel Spundwandsegmente aus Stahl, die mehrere Meter tief in die Erde reichen. Nach oben überragt die künftige Stahlmauer zwischen Neustadt und der Peißnitz nach Fertigstellung jeden Menschen, sie zerschneidet die Verbindung zwischen Neustadt und Altstadt, sie verleiht der Naturidylle am Rande der Peißnitzinsel die Atmosphäre einer Industriebrache.

Sprayer werden sich freuen, Spaziergänger erschüttert sein. Für das Bauwerk weichen muss der komplette Bewuchs auf der Saaleseite des Dammes vom Sandanger bis zur Heideallee, geschätzte 500 Bäume, teilweise 30 bis 50 Jahre alt.

An ihrer Stelle wächst ein Stahlriegel im Vorfeld des Dammes, der in Zukunft  als "unüberwindliche Barriere für Tiere und Baumwurzeln" (Eigenwerbung) wirkt.

Donnerstag, 19. Januar 2017

Reinhard Heydrich: Die blonde Bestie aus der Gütchenstraße


Reinhard Heydrich war Himmlers rechte Hand und Hitlers Hirn bei der Planung des Holocausts. Geboren in Halle und aufgewachsen in der Gütchenstraße, machte der Sohn eines Opernsängers und Musikschulgründers nach seinem Rausschmiß aus der Marine schnell Karriere in der SS. Doch Gerüchte um eine angebliche jüdische Abstammung begleiteten die "blonde Bestie" ein Leben lang.


Es war das mehrbändige Riemannsche Musiklexikon, das den strammen Antisemiten Reinhard Heydrich in Verlegenheit brachte, noch ehe sein ganz großer Aufstieg in der Nomenklartura des Dritten Reiches begonnen hatte. In jenem Lexikon, seinerzeit ein Klassiker, wurde Heydrichs Vater Bruno, ein in der halleschen Gütchenstraße ansässiger Opernsänger, Komponist und Musikschul-Betreiber, mit dem Hinweis erwähnt, er heiße standesamtlich eigentlich „Isidor Süß“. Süß war ein weitverbreiteter Nachname unter jüdischen Familien - Heydrich sah sich plötzlich einer von Hitlers Ziehvater Gregor Strasser angeordneten Untersuchung durch Rudolf Jordan, den Gauleiter von Halle-Merseburg ausgesetzt, deren Ziel es war, seine vermeintlichen jüdischen Wurzel offenzulegen.

Stein ohne Vornamen


Ein Vorhaben, das auf der These beruhte, Reinhard Heydrich sei quasi aus Hass auf seine eigene Abstammung Nationalsozialist und Judenfeind geworden. Gerüchte gingen um, nach denen der Chef des Reichssicherheitsdienstes Vertraute veranlasst habe, Kirchenbücher entwendet und dafür zu sorgen, dass das Grab seiner jüdischen Großmutter auf einem Leipziger Friedhof mit einem neuen Stein ohne deren Vornamen Sarah versehen wird. Einer anderen Variante der Geschichte zufolge sollte Heydrich die Großmutter gar exhumieren  und in Dänemark neu bestattet lassen haben.

Fake News in einem Zeitalter, als es den Begriff noch nicht gab. Erfunden hatte sie in diesem Fall offenbar ein Schüler von Heydrichs Vater, von Beruf Bäckermeister in Halle und familiär mit dem Herausgeber der Enzyklopädie verbunden. Bruno Heydrich hatte den Mann aus seinem "1. halleschen Konservatorium für Musik und Theater" geworfen. Der Geschasste rächte sich, indem er behauptete, es bestehe eine Blutsverwandschaft Heydrichs zu einem jüdischen Vorfahren.

Der Kern des Vorwurfs, der aufgrund der Fixierung der Nazis auf "Rasse" und "Abstammung" gehalten war, jede Karriere zu zerstören, lag im frühen Tod von Heydrichs Großvater. Die Großmutter des späteren Massenmörders hatte daraufhin, alleingelassen mit insgesamt sechs Kindern, einen Mann namens Süß geheiratet, der ihr half, die Kinder ihres ersten Ehemanns großzuziehen.

Heydrich klagte gegen den Verlag wegen Verleumdung und gewann den Prozess, der, so heißt es später in einem Buch des SS-Mannes Wilhelm Höttl, "dank der Presselenkung keinerlei Aufsehen erregte". Doch das Gerücht wurde er nicht los. So hoch der Hallenser in der Nomenklatur der Nazis stieg, so stetig hielt sich die Geschichte über die jüdischen Wurzeln des Mannes, der die Wannsee-Konferenz organisierte und dort zum obersten Planer des Vernichtungsfeldzuges gegen die europäischen Juden wurde. Heydrich habe seine "jüdischen Wurzeln" überwunden, soll Himmler über seinen wichtigsten Mann gesagt haben - offenbar lebte selbst der Herrscher des SS-Schreckensreiches im Glauben, irgendetwas müsse an der  Geschichte schon dransein.


Lückenhafte Ahnentafel


Auch lange nach dem Tod Heydrichs, auf den tschechische Widerstandskämpfer im Sommer 1942 in Prag  einen Anschlag verübten, hielten sich die Erzählungen über den antisemitischen Juden nicht nur, sie schienen auch immer mehr Begründungen zu finden. Als nach dem Krieg entdeckt wurde, dass in seiner bei der SS amtlich geführten Ahnentafel Name, Herkunft und Geburtsort der Großmutter fehlten, kam selbst Robert Kempner, einer der Anwälte im Nürnberger Kriegsverbrecherprozess und der Entdecker des Wannsee-Protokolls über die Beschlüsse zur Ermordung von Millionen Juden zum Schluss, dass Heydrich seine Biografie gefälscht habe.

Erst Mitte der 60er Jahre gelang es dem israelischen Historiker Schlomo Aronson dann, den Beweis zu führen, dass der Organisator des Holocaust kein Jude war, sondern ein Mann aus den deutsch-konservativen, bürgerlichen Kreisen Halles.