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Donnerstag, 4. März 2021

Weiter nach Norden: Wanderung durch ein geschlossenes Gebiet


Es ist das 30. Jahr nach der Wiedervereinigung, als uns ein bizarrer Plan einfällt: Seit Jahren hatten wir vor, auf dem Kolonnenweg an der ehemaligen Grenze zwischen den beiden deutschen Staaten entlangzuwandern. Dieser sogenannte Kolonnenweg ist insgesamt 1.400 Kilometer lang, eine zweispurige Linie längs durchs Land.


Dort suchen wir nach dem, was übriggeblieben ist nach drei Jahrzehnten Einheit, danach, was die Natur uns aus der Vergangenheit erzählt und was die Menschen über die Vergangenheit, die Gegenwart und die Zukunft sagen.

Auf dem weiteren Weg zu einem kleinen Nest namens Wendischthun treffe ich dann meine Vorfahren. Direkt am Ufer der Elbe gibt es einen Ort namens "Konau", knapp vorbei, aber naja. Das Nest ist winzig, kleiner noch als jedes andere auf dem Weg. Nur ein paar Gehöfte, ein paar Scheunen, zwei Hunde. Niemand ist auf der Straße. Aber zumindest ist Konau fast ein Weltkulturerbe - ein Marschlanddorf, das vor Jahren sogar mal Teil der Weltausstellung "Expo" gewesen sein soll, weil hier im Sperrgebiet an der ehemaligen Grenze Blumen, Pflanzen und Tiere überlebt haben, die sonst nirgendwo zu finden sind. 


Es gibt auch eine Ausstellung darüber, die jedoch wegen Corona geschlossen ist. Ebenso wie das Hofcafé, auf das wir große Hoffnungen gesetzt hatten, weil wir unsere leeren Flaschen mit Wasser füllen müssen. So wird der Weg wieder lang und die nächste Pause findet am Elbufer statt, das wie immer verlockend aussieht, aber meist kaum zugänglich ist. Die Weiden sind fast überall abgesperrt, es gibt nie Wege nach unten. Nur hier kommen wir endlich doch mal runter zum Wasser, auf dem wie immer kein einziges Boot, Kanu oder gar Schiff vorbeifährt. Mit Ausnahme einiger Arbeiter mit einem Bagger ist die Elbwasserstraße leer, obwohl vom vielbeschworenen Niedrigwasser nichts zu sehen ist. 


Die Elbe ist aber wirklich idyllisch. Je weiter wir nach Norden kommen, desto mehr weiße Sandstrände gibt es am Ufer zwischen den Buhnen. Sie laden zum Landen, Verweilen und Schwimmen ein. Aber es ist niemand da, der den ruhig fließenden Fluss nutzt, um sich zu entspannen und den malerischen Himmel zu bewundern, der an die Weite des Himmelszeltes in Skandinavien erinnert. Nur leere Orte, niemand da, niemand um uns herum. Deutschlands längster Wanderweg ist einer ganz ohne Wanderer. 

Auf einmal spricht uns aber einer der Radfahrer an, Heinz von Zella-Mehlis, der nicht nur Kilometer sammelt, sondern auch Geschichten auf dem Weg. Er selbst ist auf dem Weg nach Schwerin, hat aber gerade ein bisschen die Richtung verloren. "Mal sehen, wohin es mich führt", sagt er. Heinz hat Zeit, Zeit genug, um sein Rad in einem Tempo neben uns herzuschieben, das er wahrscheinlich für sehr gemächlich hält. Aber Heinz trägt auch keinen Sack Zement als Rucksack, sondern nur ein Notizbuch, in das er auf dem Weg notiert, was am Ende ein Buches über seine Reise werden soll. 


"Habt ihr den Mann mit dem Kinderwagen über den Damm rennen sehen?", fragt er. Ja, das haben wir und wir nicken atemlos. Er sagte: "Da ist kein Kind drin, sondern das Gepäck." Ja wirklich? Atemloses Nicken. Ja! "Er rennt von Dresden nach Hamburg", beschreibt Heinz seine Begegnung mit dem Extremsportler, der an uns vorbeiflog, so dass wir dachten, er sei ein junger Vater, der sein Kind auf seiner morgendlichen Joggingrunde mitnimmt.   Wir erzählen Heinz von Elisabeth, der 70-jährigen Erfurterin, die allein von Travemünde nach Thüringen läuft und die einzige Wanderin gewesen ist, die wir bis dahin getroffen hatten. "Mist, die habe ich verpasst", beklagt sich Heinz und notiert, dass Elisabeth dank ihres kleinen Rucksacks und vieler vorgebuchter Übernachtungen in Pensionen mehr als 25 Kilometer pro Tag hinter sich bringt. Heinz scheint beeindruckt zu sein. Das fahre er etwa mit dem Rad, sagt er. 


Auf dem Deich weiden Schafe, Kühe und Pferde und als wir endlich die Räucherei in Stiepelse erreichen, hängt Kneiper Jürgen gerade das "Geschlossen"-Schild raus.   Das kannst du nicht machen!, beklage ich mich. Jürgen sieht die Rucksäcke und versteht. Natürlich, denn der große, dünne Mann im viel zu weiten Pullover hat eindeutig ein Herz für seltsame Vögel - Heinz ist ja auch schon da. Jürgen hat sein Leben als Musiker verbracht und unter anderem Bass für Udo Lindenberg und Gunter Gabriel gespielt. "Bis zu seinem Tod war Gunter immer wieder hier und trat bei mir auf", erzählt er stolz und Fotos von sich und allerhand Stars. Heinz zückt seine Kamera und staunt. "Sogar Prominente hier", lobt er - "und natürlich meine verrückten Wanderer." 


Die wenden sich nun Wendischthun zu, einem kleinen Flecken, in dem wir unser Zelt in einem Apfelgarten aufschlagen, der wie ein Paradies aussieht. Die Bäume sind grün, die Äpfel rot und Heike, die Chefin der „Alten Schule“, hat sogar kaltes Bier. Nur wenige Meter entfernt baut Kai sein kleines Zelt auf, ein Radfahrer, der aus Dresden kommt. Er ist erst seit drei Tagen unterwegs und hat schon 400 Kilometer weg. Weitere 400 braucht er noch bis Kopenhagen. Ein junger Sportler, sehr cool und trainiert. Bevor wir unser drittes Bier geöffnet haben, schläft er direkt vor uns ein.

Bericht auf Englisch



Samstag, 23. Januar 2021

Gerd Weber: Der verratene Verräter



Der Dresdner Fußballer Gerd Weber galt als die große Mittelfeld-Hoffnung des DDR-Fußballs, bis er kurz vor einem Flug nach Südamerika für immer aus der Öffentlichkeit verschwand. Die DDR-Staatsführungen vertuschten die genauen Umstände des Falles. Einer der talentiertesten Fußballer verlor die Chance auf eine Weltkarriere.

Diesmal ist die Stasi völlig ahnungslos. Erst Anfang September 1989 verfasst Oberst Tzscheutschler vom Dresdner MfS einen "Sofortbericht": Gerd Weber, ein Jahrzehnt zuvor die große Mittelfeld-Hoffnung des DDR-Fußballs, ist gemeinsam mit seiner Frau Steffi und der sechsjährigen Tochter Franziska während einer Urlaubsreise nach Ungarn über die Grenze nach Österreich geflohen. Ein allerletztes Mal wird der frühere Nationalspieler, der Star von Dynamo Dresden und spätere Staatsfeind Thema im MfS. Ein paar karge Seiten Akte. Eine Notiz, dass er weg ist.

Ende einer Flucht


Es ist das Ende einer langen Flucht, die eigentlich bereits acht Jahre zuvor begonnen hat. Weber, das größte Talent des DDR-Fußballs seit Bernd Bransch, Dixie Dörner und Hansi Kreische, sehnt sich eigentlich nach einer internationalen Karriere. Der 24-Jährige plant seine Flucht - während einer Südamerikareise der DDR-Nationalelf will er sich absetzen. 


Doch Weber wird verraten, ein Stasi-Kommando nimmt ihn vier Stunden vor dem Abflug fest. Es folgen Verhöre, Verurteilung, Verbannung. Der begnadete Kicker darf nicht mehr Fußball spielen. Er stellt einen Ausreiseantrag, doch der wird abgelehnt. Weber bleibt nur die Flucht. Noch nach Bekanntwerden seines Abgangs erweitert das MfS seinen "Ratte" genannten Aktenvorgang zu Weber um eine Anzeige wegen Republikflucht. Die sogenannte Operative Personenkontrolle wird erst am 28. Oktober 1989 eingestellt. Auch da, nur wenige Tage vor dem Ende der Mauer und der deutschen Teilung, heißt es noch: "Die eingeleiteten Kontrollmaßnahmen werden aufrechterhalten." 

Die Geschichte des Dynamo-Kickers Gerd Weber ist die einer zerstörten Karriere, betrieben von einem Staat, der vernichtete, was ihm verdächtig erschien. Aber es ist aber auch die Geschichte eines Verräters, der selbst verraten wird, nachdem er jahrelang einem Ministerium zu Diensten war, dass ihn für seine Zwecke missbrauchte.

Eine Entscheidung


Dreieinhalb Stunden hatten Leutnant Andreas Claus und Major Helmut Dinter vor der Tür gewartet, an jenem vorletzten Tag des Jahres 1980. Claus klingelte mehrmals. Dinter blieb gedeckt im Wartburg. "Aber der IM", berichteten die MfS-Offiziere in die Dresdner Stasi-Zentrale, "öffnete uns nicht." Kein Wunder, denn der IM, der sich selbst fünf Jahre zuvor den Namen "Wiehland" ausgesucht hatte, hockte zur selben Zeit in einem Hotelzimmer in Oberhof. Er war in die stille Idylle geflüchtet, um eine Entscheidung zu treffen - und er hatte sie getroffen. 

Am Silvesterabend war Gerd Weber, von seinen Fans als genialster DDR-Fußballer seiner Zeit gerühmt, in Gedanken bereits über alle Berge: Vier Wochen nur trennten den 24-jährigen Mittelfeldspieler des Traditionsvereines Dynamo Dresden von der Flucht in den Westen. Zu der es dann aber nie kam. Statt ein Flugzeug nach Argentinien zu besteigen, musste Weber am 23. Januar 1981 in einen Stasi-Barkas klettern. Und statt wie erhofft in der Bundesliga zu spielen, putzte er nach der Beendigung seines falles durch die DDR-Behörden Kurbelwellen und Getriebe. 

Aus für den Profi


Professionell Fußball gespielt hat Weber nie wieder. Dokumente, die später bei der Gauck-Behörde aufgetaucht sind, erzählen die Geschichte des Gerd Weber aber auch als die Geschichte eines Mannes, der im Zwiespalt zwischen kleinen Erfolgen und großen Träumen die Träume wählte - und so vom Täter zum Opfer wurde. 

Ins Visier der Staatssicherheit war Weber schon früh geraten. 1971 kommt der talentierte Junge an die Dresdner Kinder- und Jugendsportschule, dort spielt er sich in allen Altersklassen unter die Besten. Das fällt auf, auch der Stasi, die den Jungen auf Reisen nach Kuba und Italien im Auge behält. Weber ist 19 Jahre alt, als das MfS sicher ist: Hier läuft ein künftiger Weltklassespieler. 

Ein "Perspektivkader", wie es im IM-Vorlaufbericht heißt. Einer also, der gute Dienste nicht nur auf dem Feld leisten wird, zum Ruhm der DDR-Sportnation. Sondern auch bei der Sicherung künftiger Auslandsreisen des Nationalteams, aus dem immer wieder einzelne Spieler den Weg in den Westen gefunden haben. Das MfS irrt nicht. Weber ist bald nicht mehr wegzudenken aus der Elf der Dynamos, schnell gelingt ihm auch der Sprung in die Nationalelf. 

Berichte aus dem Innenleben


Vier Jahre berichtet Weber als "Wiehland" aus dem Innenleben beider Teams, er liefert Interna und bringt Zettel mit Aufstellungen mit in den konspirativen Treff "Puck". Gerd Weber spielt doppelt: Auf dem Platz rückt der "Fan moderner Tanzmusik" (MfS-Akte) schnell zu einer der bestimmenden Figuren auf. Und nach dem Spiel ist er der Stasi ein unersetzlicher Informant. Denn die Angst geht um in der Sport-DDR. 

Mit den halleschen Fußballern Pahl und Nachtweih, dem Berliner Eigendorf und dem Leipziger Berger haben eben vier Fußball-Stars das Land verlassen. "Es darf keine Wiederholung geben", fordert Stasi-Chef Mielke. Weber ist so längst selbst Gegenstand von Sicherungsmaßnahmen. Schon im Mai 1979 bringt sich ein MfS-Kommando in den Besitz seiner Schlüssel. Gedeckt von Posten, die als Handwerker verkleidet sind, durchwühlt die Einheit die Weber-Wohnung auf der Suche nach "Beweisen für Kontaktaufnahme zu Verrätern". Die Stasi findet nichts. Weber bemerkt nichts. 

Erst als Dynamo im Oktober 1980 zum Uefa-Cup-Spiel im holländischen Enschede im Hotel "Memphis" eincheckt, gelingt es zwei in den Westen geflüchteten Dynamo-Fans, Weber und seine Kollegen Matthias Müller und Peter Kotte zu kontaktieren. 200 000 Mark und ein Vertrag beim 1. FC Köln lautet das zugeflüsterte Angebot. "Draußen steht ein Benz, steigt ein!" 

Wie im Agentenfilm


Gerd Weber fühlt sich wie in einen Agentenfilm versetzt. Mit Kotte und Müller kommt er überein, dass jeder für sich entscheiden soll. Er selbst, der seine Fähigkeiten in Dresden nicht genügend geschätzt sieht, fühlt sich zu sehr geschmeichelt vom Vergleich mit Größen wie Overath und Netzer, als dass er hätte ablehnen können - Weber kehrt zurück in die DDR, um bei nächster Gelegenheit zu fliehen.

Doch ausgerechnet über einen Stasi-IM, den sie aus alten Zeiten in der Dresdner Fankurve kennen, nehmen die Kölner Dynamo-Fans wieder Kontakt zu ihm auf. Ein Steilpaß für die Stasi: Der Hotel-Koch Michael Juraske alias IM Klaus Ihle, locker befreundet mit Weber, soll mit dem Fußballer einen Treff-Termin ausmachen. 

Er tut das - und informiert das MfS. Von diesem Moment an ist Gerd Weber verloren. Während er noch verhandelt, um auch seine Freundin außer Landes schmuggeln zu lassen, ist sein eigene Flucht gescheitert, ehe sie begonnen hat. So weiß das MfS vor der Argentinien-Reise genau, dass Weber nicht zurückkehren will. "Mannschaft fliegt, drei heraus", bestimmt Erich Mielke, und wie befohlen fängt ein Festnahme-Trupp die Fußballer auf dem Flughafen Schönefeld ab. 

Ausschluss aus dem Sportverband


Mehrere Tage wird Gerd Weber verhört. Noch ehe Anfang Februar eine vom MfS formulierte Pressemeldung die Fans über seinen Ausschluss aus dem Sportverband wegen "Verstoß gegen die Statuten des DTSB" informiert, ist der Sportler zu zwei Jahren und drei Monaten wegen "landesverräterischer Agententätigkeit" verurteilt. Während Dynamo Dresden ohne seine drei Stars nach unten durchgereicht wird in der DDR-Oberligatabelle, beginnt ein Vernichtungsfeldzug gegen den Sportler. 

Er wird aus der SED ausgeschlossen, verliert die Stellung als "Sportinstrukteur", seinen VP-Dienstgrad und alle Rentenansprüche. Nach der Haftentlassung wartet eine Stelle als Schlosser auf den Hoffnungsträger des DDR-Fußballs, der jetzt als "OPK Schlosser" von sieben IM überwacht wird. Es gibt keine Gnade für den "Verräter". Kotte und Müller hat man zwar für die obersten Ligen gesperrt, und als Torjäger Kotte seinen neuen Verein Meißen sofort in die 2. Liga schießt, muss er die Mannschaft verlassen. 

Doch Rädelsführer Weber, Träger des Vaterländischen Verdienstordens, darf überhaupt nicht mehr Fußball spielen. Angst um Gesundheit "Eine Belastung, die mich fast umbringt", diktiert der Kicker der Stasi, die sich weiter mit ihm trifft, um ihn unter Kontrolle zu behalten. Man habe ihn nicht abtrainieren lassen, ihm drohten dadurch gesundheitliche Schäden, befürchtet er. Fürsorglich rät die Stasi, Weber solle doch Tennisspielen gehen. 

Nur noch im Park


Doch das ist kein Ersatz. Gerd Weber, der begnadete Mittelfeldregisseur, beginnt, Freizeitfußball in Dresdner Parks zu spielen. "Ich mache mich da gegen Bierbäuche und Holzhacker zum Äppel", scherzt er - bis das MfS ihm auch den Freizeitkick im Park untersagt. Der Kontakt zu den ehemaligen Mitspielern ist da längst abgerissen, auch Kotte und Müller hat Weber nicht wieder gesehen. Er wolle ja "nur noch in Ruhe gelassen werden", bittet er seinen Führungsoffizier. 

Aber einmal gefährlich, immer Gefahr: Als die Uefa in Dresden tagt, schafft ihn die Stasi vorher aus der Stadt, um "Störungen zu vermeiden". So zwingt die Staatsmacht ihren Zuträger in die Opposition. Zuerst sagt Weber bei den Treffen wenig, dann nichts mehr. Schließlich warten die Offiziere vergebens auf ihn. Zur Wahl 1986 fällt Weber als "Nichtwähler" auf, 1987 stellt er mit seiner Frau Steffi und Tochter Franziska einen Ausreiseantrag. Nun erst bietet die Stasi dem verbitterten Mann im Zentrum des OPK-Vorgangs "Ratte" eine Rückkehr in den Sport an. Weber lehnt ab. 

Über Ungarn weg


Zu spät, sagt er, "das hättet ihr euch früher überlegen müssen". Zwei Jahre vergehen noch, ehe Gerd Weber am 31. August 1989 mit seiner Familie in Ungarn durch einen zerschnittenen Grenzzaun in den Westen kriecht. Der Fußballer ist 33 Jahre alt. Zu alt für die Bundesliga, von der er geträumt hat. Der begnadete DDR-Fußballer im Visier der Staatssicherheit: Heute arbeitet Gerd Weber als Schadensexperte für eine Versicherung in Freiburg. "Von den alten Geschichten will er nichts mehr hören", sagt sein früherer Mannschaftskamerad und langjähriger Freund Dieter Riedel später: "Gerd hat zu böse bezahlt für alles."

Samstag, 16. Januar 2021

Corona-Kultur: Spazierengehen gegen die Zeit



Es ist schon ein paar Jahre her, dass der englische Musiker und Dichter Justin Sullivan ein Gedicht über den Moment schrieb, in dem "das Licht im Zeitalter der Vernunft erlischt". In dem Song namens "Here comes the war" gibt es eine Zeile, in der ein Chor "schneller, schneller, schneller" singt - ein Moment, der die Gegenwart bis vor einigen Monaten perfekt beschrieb. 

Bis zu dem Tag, als Corona kam und all die Dinge stoppte, die sich nie ändern würden, wie jeder ziemlich genau wussten Doch dann 2020. Und das Frühjahr, das alles geändert hat.

Eine neue Welt, die ein Politiker später "neue Normalität" genannt hat. Der Mensch ist eingesperrt, das ganze Leben heruntergefahren. Das Land im Ausnahmezustand. Kneipen sind geschlossen, die Städte sind leer wie einsame Wege im australischen Outback. 

Weihnachten war wie nie zuvor - nicht nur ohne Schnee und Frost, sondern ohne Treffen mit Familien und Freunden, ohne Leichtigkeit und Freude und Klingeln. Was geschieht mit einer Gesellschaft, die vom allgegenwärtigen "schneller, schneller, schneller" in einen völligen Stillstand von allem gezwungen wird?

Niemand weiß es, aber alle fürchten dasselbe: Niemals wird die alte Welt mit den gleichen Freiheiten zurückkehren, die es  so selbstverständlich gab, bevor die moderne Pest kam. Jeder spürt es, jeder fühlt es, wenn er seine Ohren und Augen öffnet. Wie still die Künstler sind. Wie verlassen das Land wirkt.  

Eigentlich sind große Krisen immer eine gute Stunde für große Kunst. Diesmal aber fehlen den Dichtern die Worte, den Sängern die Melodien. Es gibt keine Songs über das Virus, keine Filme und keine Bilder. Die Songwriter haben mit ihren eigenen Problemen zu kämpfen, weil viele von ihnen kein Einkommen haben, seit alle Konzertsäle geschlossen sind. 

Rock'n'Roll ist tot wie die Kinos, das letzte Stück Leben tobt an den Aktienmärkten, an denen die Kurse seit Monaten steigen. 

Aber in den Nebenstraßen der Wall Street hängen nur noch Schatten früherer Tage: Niemand ist unterwegs, niemand gibt Geld für Einkäufe, für Essen, ein Bier oder für einen Kaffee aus.

Die einzigen belebten Orte der Zivilisation sind heute Parks und Wälder. Dies sind die Plätze, an die Menschen gehen, wenn der Tag im Home Office vorrüber ist und die Wände und Bildschirme genug angestarrt worden sind. Und wenn das nächste Wochenende begonnen hat, das abends wieder nur die Wahl zwischen Büchern und Fernsehen bietet, zwischen Musik und Internet. 

Ausgerechnet auf Deutsch gibt es ein wunderbares Wort für diese neue Weltordnung, durch die Menschen ohne Ziel ziehen: "Spanzierengehen" bedeutet Gehen nur zum Zweck des Zeitvertreibs, bewegen, nicht um voranzukommen, sondern um die Zeit zu überlisten.

Die braucht für gewöhnlich keine Hilfe, um in der Vergangenheit zu verschwinden. Sie kommt und sie geht immerzu, eben noch da, ist sie gleich schon wieder fort. Aber im Lockdown entsteht wohl automatisch die Sehnsucht, das alles zu beschleunigen, der Zeit auf die Sprünge zu helfen und ihr Beine zu machen. 

Spaziergehen, diese alte, lange vergessene Kunst des Laufens ohne jede Notwendigkeit, aber auch ohne die Eile des vorüberjagenden Joggers, hilft. Und eines Tages wird der erste Tag der Zukunft sein, an dem alle auch so wieder rausdürfen. An diesem Tag kennen wir dann alle Orte um uns herum. Fürchterlicherweise je besser, desto länger es bis dahin dauert.

Sonntag, 20. Dezember 2020

Wandern in die Vergangenheit: Von wegen sieben Brücken


Es ist das 30. Jahr nach der Wiedervereinigung, als uns ein bizarrer Plan einfällt: Seit Jahren hatten wir vor, auf dem Kolonnenweg an der ehemaligen Grenze zwischen den beiden deutschen Staaten entlangzuwandern. Dieser sogenannte Kolonnenweg ist insgesamt 1.400 Kilometer lang, eine zweispurige Linie längs durchs Land.


Dort suchen wir nach dem, was übriggeblieben ist nach drei Jahrzehnten Einheit, danach, was die Natur uns aus der Vergangenheit erzählt und was die Menschen über die Vergangenheit, die Gegenwart und die Zukunft sagen.


Vorige Folge: Hier

Der Mensch ist ein seltsames Tier. Er will immer das, was er nicht hat. Und wenn er es bekommt, ist er enttäuscht, marschiert aber weiter, wie Mike Peters von der Band The Alarm singt. Nach einem schönen und sonnigen Spaziergang entlang der Dämme von Hitzacker - schwer sind nur die 20 Kilogramm, die wir jeweils zu tragen haben - stolpern wir heute also in ein Dorf namens Neu-Darchau, direkt am Elbeufer. 


Schon der Name lässt vermuten, dass hier irgendwann einmal etwas passiert ist: Darchau liegt auf der Ostseite der Elbe, "Neu" heißt das hier, weil das mehr als 40 Jahre alte und das neue Darchau voneinander getrennt wurden, als die Elbe zur Grenze zwischen Ost und west wurde. Familien konnten danach nicht mehr zusammenkommen, Brüder konnten einander nicht besuchen, Kinder konnten ihre Eltern jahrzehntelang nicht sehen. Selbst wer von den DDR-Behörden eine Einreisegenehmigung erhielt, musste lange Umwege machen, um die wenigen Meter zum anderen Ufer zu überqueren. Zwischen Darchau im Osten und Neu-Darchau im Westen gab weder eine Brücke noch eine Fähre.

Düsterer Spaß in Neu-Darchau

30 Jahre nach dem Mauerfall und dem Ende der DDR ist zumindest die Fähre da. Aber eine Brücke? Nein. Und das ist besonders merkwürdig, weil die Weltgeschichte sich ausgerechnet hier einen ziemlich düsteren Spaß erlaubt: Wenige Meter hinter Neu-Darchau, das im Landkreis Lüchow-Dannenberg liegt, beginnt der Landkreis Lüneburg, der sich bis Kriegsende bis hinüber auf die andere Elbseite erstreckte. Die Alliierten beschlossen aber der Einfachheit halber, auch hier eine Grenze in der Mitte des Flusses zu ziehen. Alle Niedersachsen, die im Osten lebten, wurden mit einem Federstrich DDR-Bürger. Wenn sie nicht so schnell wie möglich flüchteten.


Wenn man seinen Rucksack durch diese Landschaft aus alten Bäumen, weiten Wiesen und lächelnden Kühen schleppt, bekommt man nie eine Vorstellung davon, wie fürchterlich hier alles noch vor 40 Jahren gewesen sein muss. Erst nach dem Fall der Mauer und der deutschen Wiedervereinigung, erzählt Angelika, die in Neu-Darchau lebt, konnten Verwandte und Freunde wieder zusammenkommen. Und nach einer Bürgerentscheidung beschloss der Ostteil des Landkreises Lüneburg dann auch ganz schnell, sich wieder mit seinem früheren Westteil zusammenschließen zu wollen. Leider ohne direkte Verbindung: Außer zwei Fähren gibt es nichts bis nach Lüneburg. "Und deshalb führt für uns im Winter bei Eis und im Sommer bei Niedrigwasser keinen Weg hinüber".


Eine neue Brücke soll also schon lange gebaut werden, eigentlich vom ersten Tag der kleinen Wiedervereinigung an. Aber leider liegt der beste Ort dafür nicht im Landkreis Lüneburg, wie Katrin beschreibt, der in Neu-Darchau lebt und ein entschiedener Brückenbefürworter ist. Sondern in Neu-Darchau, nebenan im Landkreis Lüchow-Dannenberg.  "Ich finde es gut", sagt Katrin, "aber viele sehen das eben anders."

Je neuer, desto dagegener

Vor allem die vielen Flüchtlinge aus den Großstädten Hamburg und Hannover, die sich hier in den alten bundesdeutschen Tagen der Ruhe in der ehemaligen Grenzregion angesiedelt haben, möchten lieber am Ende einer Sackgasse weiterleben. "Dass die Bauern zur Ernte dorthin hinüber müssen, interessiert die ebenso wenig wie die Probleme der Menschen, die zu Niedersachsen gehören, dort aber im Osten völlig abgeschnitten sind", schimpft Katrin.


Deshalb hängen überall in der Stadt Plakate. Keine Brücke! Ja zur Brücke! Seit Jahren gibt es Streit, denn die Zeiten sind vorbei, in denen, wie vor 30 Jahren in Dömitz, Sehnsucht und Entschlossenheit innerhalb von nur zwei Jahren aus dem Nichts eine riesige Brücke entstehen ließen. Heute braucht es unendlich viel Zeit, unendlich viele Auseinandersetzungen, Streit und Zwietracht. Und am Ende wird doch nicht gebaut, Jahr um Jahr.

Also nehmen wir wie alle die Fähre, die hier "Tanja"  heißt, und es dauert fünf Minuten, um den Fluss zu überqueren. Auf der anderen Seite sind wir wieder im ehemaligen Osten, in einem Stück der ehemaligen DDR, das aber jetzt zu Niedersachsen gehört. 

Westen im Ostens., Brüder ohne Brücke. Was für ein verrückter Weg.

Englische Version: Here





Sonntag, 6. Dezember 2020

Iron Curtain Trail: In den goldenen Westen


Es ist das 30. Jahr nach der Wiedervereinigung, als uns ein bizarrer Plan einfällt: Seit Jahren hatten wir vor, auf dem Kolonnenweg an der ehemaligen Grenze zwischen den beiden deutschen Staaten entlangzuwandern. Dieser sogenannte Kolonnenweg ist insgesamt 1.400 Kilometer lang, eine zweispurige Linie längs durchs Land. 
Dort suchen wir nach dem, was übriggeblieben ist nach drei Jahrzehnten Einheit, danach, was die Natur uns aus der Vergangenheit erzählt und was die Menschen über die Vergangenheit, die Gegenwart und die Zukunft sagen. 




Ja, das muss der goldene Westen sein. Aber leider sieht das Gras auf der anderen Seite der Elbe das Gras nicht grüner aus als im Osten. Wir sind auf dem Weg nach Hitzacker und wir befinden uns mitten in einem Gebiet, das berühmt ist für Atommüll, jahrzehntelange Proteste gegen Atommüll und riesige Polizeiaktionen gegen diese Proteste. Ein gelbes "X" auf vielen Zäunen erinnert an diese Zeit der Angst und der Wut, aber das ist heute alles. 


Gorleben, die wenige Kilometer entfernte Atommülldeponie, ist keine große Aufregung mehr. Nirgendwo gibt es große Aufregung. Das hier ist de Lüchower Landgrabenniederung, ganz altes Grenzland. Mittendurch verlaufen von Menschen festgelegte künstliche Linien, die sich historisch immer wieder veränderten. Die Niederungen sind nass und feucht, oft orienteren sich die Grenzverläufe deshalb entlang diesen geograpfisch vorgegebenen Linien. Nur an wenigen Stellen findet sich eine gefahrlose Furt durch die sumpfige Landschaft, so dass schon im Mittelalter beim Handel über Grenzen hinweg darauf geachtet wurde, vernünftige Trennungen zu ziehen, an denen sich Wege, später aber auch Straßen- und Eisenbahngleise orientierten. 


Erst mit der Teilung Deutschlands wurde die Landgrabenniederung richtig zerschnitten. Durch Flucht und Vertreibung nach dem ll.Weltkrieg verdoppelte sich die Einwohnerzahl in den ländlichen Gebieten beiderseits der Grenze nahezu, in den ersten Nachkriegsjahren blieb aber trotz der neugezogenen Grenze auch die Verbindung zwischen Ost und West erhalten. Die sumpfigen Waldgebiete waren schwer zu kontrollleren und es blühte lange Zeit der Schmuggel in beide Richtungen. Erst später, als drüben der große Zaun gebaut wurde, änderte sich alles, wie uns Walter erzählt, der direkt am Damm auf der Westseite wohnt.


"Eines Nachts wurde ich wach, weil es ganz hell im Zimmer war", sagt er, "und wie aus dem Fenster gucke, sehe ich, dass da drüben eine riesige Baustelle ist." Mit großen scheinwerfern beleuchtete das Grenzkommando den Damm, große Baufahrzeuge errichteten Pfäle und Zaunfelder. Für die andere Seite interessant anzuschauen, für den Osten die totale Abschottung. 


Zwar gibt es in Niedersachsen Schafe und Muttertiere und Füchse, Schlangen, Kühe und Hunde, aber die 20 Kilometer zwischen Dömitz und Hitzacker sind eine lange, ruhige Strecke ohne Berge, Hügel, Wälder oder sonst etwas Aufregendes. Die Radfahrer vermeiden es, hier entlang zu fahren, weil der Radweg hinter der Staumauer verläuft, so dass man nichts sieht, außer grasenden Schafen in der endlosen Schleife, die sich der Weg entlang des Flusses schlängelt.  


Gut für uns Wanderer, denn wir können die frische Luft mit all diesen landwirtschaftlichen Gerüchen einatmen. ein bisschen Kuh, ein bisschen Biogas, ein bisschen tote Schafe. Der goldene Westen riecht wie ein Bauernhof. Und er sieht auch so aus. Nach einem Tag auf einer "langen und kurvenreichen Straße", wie die Beatles gesungen haben, erreichen wir unser Ziel, ein ganz besonderes Lager mit winzig kleinen Holzschuppen namens "Destinature Camp". In den Vororten von Hitzacker, einer Stadt mit fast 5.000 Einwohnern an der Mündung der Jeetzel in die Elbe, haben ein paar Jungunternehmer 18 komfortable kleine Häuslen auf eine Wiese gestellt. Ein paar sind gemütliche Holzhütten, ein paar mobile Einzelbetten mit Zeltdach, so dass man entweder den nächtlichen Sternenhimmel betrachten oder sich eine gemütliche Koje schaffen kann.


Alles - von den Hütten bis zur gemütlichen Bettwäsche - ist aus nachhaltigen Materialien hergestellt und ein Bio-Bistro am Dorfeingang versorgt Sie mit Speisen und Getränken von regionalen Lieferanten. Hier gibt es Kamine, Saunahütten und Whirlpools mit Holzfeuer, und das ganze Dorf bezieht Strom und warmes Wasser aus erneuerbaren Energien - wir befinden uns hier im so genannten Wendtland, einer Gegend, die für ihre Sehnsucht nach Natürlichkeit und Nachhaltigkeit bekannt ist.  All das finden Sie hier, Ruhe für die Füße, Ruhe für den müden Kopf und eine warme Dusche mit französischer Seife. 

Englische Version: Hier



Sonntag, 15. November 2020

Entlang der Elbe: Wo Deutschland einst zwei Enden hatte

Die nächste Grenze, die wir zu überqueren haben, ist die Elbe, die einzige große Wasserscheide zwischen dem Westen und dem Osten auf unserer Wanderung. In der Nähe gibt es keine Brücke, sondern seit Anfang des 17. Jahrhunderts nur noch eine Fährverbindung zwischen Schnackenburg und Lütkenwisch. 1945 stoppten die sowjetischen Truppen den Fährverkehr gewaltsam - danach gab es keinen Weg mehr auf die andere Seite, weil die innerdeutsche Grenze mitten im Fluss verlief, heute ein blauer Wasserstrom unter einer grellen Sonne zwischen grünen Ufern.
Angespornt durch die erfolgreiche Wiederzulassung benachbarter Fährverbindungen nach der Wende griff der Schnackenburger Klaus Reineke 1991 tief in die Tasche und kaufte in Holland eine alte Fähre auf. Die Elbe sollte wieder verbinden, nicht mehr trenne. Seit dem 7. September 1991 verbindet die Fähre "Ilka" also, was zusammen gehört. 

Der Elbe-Pionier


Das verrückte Idee kostete Reinecke in den ersten Monaten seine ganze Kraft. Er fuhr alle Touren selbst und erlebte dabei unzählige emotionale Momente: Menschen fielen sich gegenseitig um den Hals und wollten nicht mehr loslassen. An der Anlegestelle der Schnackenburger Fähre erinnert bis heute ein nicht zu übersehendes Zeichen an die Aufhebung der unmenschlichen Trennung eines Kontinents.
Die Ilka läuft bis heute normal, und mit etwas Glück findet man Klaus Reineke, seit 2004 im Ruhestand, in den Sommermonaten Aushilfe am Steuer. Aber nicht in diesem Sommer, denn die Ilka ist außer Betrieb. Also müssen wir zu Fuß nach Gartow laufen, einer kleinen Stadt ein paar Kilometer entfernt. Gartow hat auch eine Fähre, die unter dem Namen "Westprignitz" von Lenzen nach Pevestorf fährt. Sie ist sehr klein und braucht nur wenige Minuten zum Umsteigen. 

Kolonnenweg auf der Ostseite


Auf der anderen Seite sind wir wieder auf der Strecke: Der Kolonnenweg verläuft jetzt entlang des Elbedamms. Das erste Zeichen der Geschichte ist ein Wachturm direkt an der Grenze, der die Landschaft, den breiten Fluss und die flache Erde ringsum überblickt. Zum ersten Mal begegneten wir den Radfahrern, die zu Hunderten den Elberadweg entlang fahren. Für sie ist er eine Art Autobahn mit schönen Aussichtspunkten, einigen Kaffeehäusern und schön renovierten Häusern, die nicht mehr an die schlechten Zeiten erinnern, als hier der Eiserne Vorhang verlief und niemand zu nahe an den Fluss herankommen durfte.
Zweimal im Laufe der Jahre wurden alle Menschen, die hier lebten, brutal evakuiert und weggebracht, um die Grenze sicher zu machen. Nur sehr zuverlässige Bürger durften bleiben. Peter, ein älterer Mann, erzählt uns, dass er hier als Landwirt gearbeitet hat. "Jedes Mal, wenn ich in das Sperrgebiet gehen musste, um auf die Kühe aufzupassen, saß ein Soldat mit seiner Waffe im Auto hinter mir, um sicherzustellen, dass ich nicht abhaue." 

40 Jahre unerreichbar


Das historische Stadtzentrum von Lenzen liegt nur 1,5 km nordöstlich entfernt. Es war fast 40 Jahre lang unerreichbar. Mit seiner ersten Erwähnung im Jahre 929 ist Lenzen der Ort mit der ältesten dokumentierten Geschichte in der gesamten Prignitz. Hinter Bäumen versteckt, lässt sich die Silhouette der Burg Lenzen erahnen. Vor tausend Jahren bauten die Slawen hier eine hölzerne Wehrburg. Auf der gegenüberliegenden Elbseite erhob sich damals wie heute der Höhenrücken des Höhbecks, auf dem König Karl der Große im späten 8. Jahrhundert ein Kastell errichten ließ, um die Grenze gegen die Slawen zu sichern.
Es ist unglaublich, sich vorzustellen, dass dieser Landstrich, der so eine lange gemeinsame Geschichte hat, für Jahrzehnte in zwei Hälften geteilt wurde. Man sieht heute nur noch die friedliche Landschaft, die Radfahrer und den breit dahinrollenden Fluss zwischen dem tiefen Grün der Ufer und den seichten Sandstränden. Die berühmte Eiseiche bei Mödlitz ist die nächste Landmarke, an der wir vorbeikommen. Sie hat all dies gesehen. Und sie hat überlebt wie die Menschen, die jetzt wieder hier leben, wo Deutschland einst zwei Enden hatte. Englische Version

Samstag, 31. August 2019

Verbotene Liebe: Eine illegale Wanderung rund um Usedom


Eine  Million Gäste  im Jahr, alptraumhaft volle Strände, Bauboom und lange Staus bei An- und Abfahrt. Die Insel Usedom ist der Deutschen liebstes Sonneneiland. 66 Kilometer lang und 24 breit liegt die Insel in der Pommerschen Bucht, eine Geldmaschine für Hoteliers und Kneiper, oft ein Alptraum für die 76.000 Einwohner, die seit jeher vom Massentourismus leben, seit der Wiederentdeckung der heimatlichen Strände durch Türkei-, Ägypten- und Tunesienurlauber aber über Verkehrsinfarkt und hohen Mieten stöhnen.

Die andere Seite von Usedom ist trotzdem noch da: Einsame Strände, endlose Sommerwiesen voller Tiere und der Sternenhimmel über dem taufeuchten Sand. Doch wer dieses Geheimnis entdecken will, muss abtauchen in die Illegalität einer Reise, die vom ersten Schritt an verboten wäre, bekäme ein Strandvogt, ein Polizist oder ein Ordnungsamtsmitarbeiter Wind davon.


Strandwandern auf Usedom funktioniert dennoch erstaunlich gut. Wenn bestimmte Regeln beachtet werden. Die Herausforderung dieser Reise ist klar - kein Hotel, kein Zeltplatz, keine Pension und kein Airbnb-Zimmer. Nur Natur, eine Woche lang, mit Zelt am Strand oder im Wald. Ein verrückter Plan. Mal sehen, was draus wird.

Mit so viel Gepäck, wie dazu nötig ist, kann sich natürlich niemand unsichtbar machen. 17 Kilogramm wiegt der Rucksack, ohne die Wanderschuhe, die anlässlich der ersten Strandetappe außen herumbaumeln. Deutschland liegt im Sand, schon in Ahlbeck, dem östlichsten Ort Usedoms, dicht an dicht eng gedrängt im Ostseesand. Wie Außerirdische wirken da Wanderer, die es offenbar direkt aus den Alpen hierher verschlagen hat. Immer am Meer entlang bis Peenemünde, das ist die geplante Route. Von dort ein Schwenk ins Inselinnere. Und weiter am Ufer der Peene entlang nach Süden zum Achterwasser, ehe es zurück an die Ostseeküste geht.


Für geübte Bergwanderer ein Spaziergang, denn so etwas wie Höhenmeter gibt es nicht, abgesehen von einem Abstecher zu einem ehemaligen DDR-Ferienlager, das zwei Kilometer hinter Bansin versteckt im Wald liegt. Malerische Ruinen künden von längst vergangenem Ferienspaß, grün überwuchert der Wald die Reste dessen, was einmal das vielbegehrte Urlaubsidyll irgendeines inzwischen sicher längst abgewickelten DDR-VEB war. Nicht einmal der Abriss lohnt sich hier, die Natur holt sich die Pappbuden ganz von selbst zurück. Und bis dahin amüsieren sich die örtlichen Graffiti-Sprayer im früheren Speisesaal.


Zurück am Strand heißt es nun, nur nicht zu weit laufen. Wer auf Usedom wandert und vor hat, sich den Aufenthalt auf den gigantischen Campingplätzen zu ersparen, deren schiere Ausmaße an sozialistische Neubaustädte erinnern, ist gut beraten, wenn er sich an den Gemarkungsgrenzen zwischen den einzelnen Gemeinden orientiert. Dort, wo die Strände leer sind, weil den meisten Hotelgästen die 500 Meter in die freie Natur viel zu weit sind, heißt es, die anbrechende Nacht abzuwarten. Mit der Dämmerung kommen die Jogger, dann die Hundehalter auf ihrer letzten Runde. Und danach packen die Wanderer ihre Zelte und Planen aus, um sich im Schatten der Steilküste einzurichten.

Klar ist - spätestens am zweiten Tag ist der Sand überall. In jeder Ritze, jedem Eckchen, selbst zwischen den Zähnen knirscht er immer wieder unvermittelt. Dafür steigt eine strahlende Sonne über dem menschenleeren Strand auf und die Ostsee gehört den Wildcampern ganz allein. Zelt zusammenpacken, Schlafsack einknüllen, Rucksack auf, weiter geht es Richtung Nordwesten. Kaffee zum Runterspülen der Sandkörner gibt es zum Glück gleich nebenan am Ortsrand von Ueckeritz.

Dahinter verändert sich der Sand, der Strand wird schräger, der Weg tiefer. Dafür aber ist es hier nicht mehr ganz so voll wie in den selbsternannten "Kaiserbädern" Ahlbeck, Heringsdorf und Bansin. Mit gemütlich vier Kilometern in der Stunde geht es Richtung Nordwesten, am Horizont ist der Peenemünder Haken schon zu sehen, mit dem der bewanderbare Strand enden wird.


Einmal noch übernachten bis dahin, gleich neben einem Kioskgrill zwischen dem kleinen Zempin und der Urlaubsmaschine Zinnowitz. Um sechs morgens kommt der Müllmann und leert die Mülleimer, die mit dafür sorgen, dass die Strände auf Usedom sauber sind wie eine Fünf-Sterne-Hotelküche: Auf 40 Kilometer Strecke wird keine einzige Plastiktüte, kein verlorener Badelatsch und kein geplatzter Ball am Boden liegen. Abends kommen erst die Jogger, dann die Hundehalter, am Ende ein paar leicht angeschickerte Gruppen, die die Cocktails im jeweiligen Nachbarort verkostet haben.

Der Himmel ist noch durchsichtig blau, vor dem Hafen von Swinemünde, der ganz im Osten liegt, hat sich eine Warteschlange von Schiffen gebildet. Auf der anderen Seite blinkt der Leuchtturm von der Greifswalder Oie herüber, der Booten den Weg weißt, die es nicht gibt.

Hier hinten kurz vor dem Sperrgebiet sowieso nicht. Hinter Trassenheide kehrt Usedom langsam zu seinem natürlichen Zustand zurück. Karlshagen liegt noch am Strandrand, ein letztes Aufbäumen der Käfighaltung für Jahresurlauber und ein Strandvogt, der im Gebüsch am zentralen Platz mit der üblichen Konzertmuschel lauert, um Verdächtigen die Kurtaxe abzuverlangen. Das Ende der Usedomer Welt folgt auf dem Fuße: Vier Kilometer weiter wird der Strand breiter, das Wasser flacher und der Dünenwald dichter.


"Hier hat man noch seine Ruhe", sagt ein Einheimischer, der vor Sonnenuntergang kurz vor Haken, Struck und Rudenmm noch einmal ins Wasser steigen will. Hinter dem letzten Schilfgürtel fängt das Vogelschutzgebiet an, von dem die Peenemünder sagen, dass es zwei Fliegen mit einer Klappe schlägt: "Überall im Wald liegen noch Bomben, die nicht explodiert sind", beschreibt der späte Badegast, "hätten sie alles teuer beräumen müssen, wenn sie nicht das Schutzgebiet draufgepackt hätten." In dessen Schatten liegt nun so viel Einsamkeit, wie sie eine Insel wie diese hier eigentlich gar nicht haben kann. Aber Warnschilder mit "Vorsicht, Munition, Betreten verboten", entfalten ihre eigenen Wirkung.

Dadurch aber führt kein Weg um den Haken, sondern nur bis zu einem Zaun, an dem weitere verwitterte Schild vor dem Betreten der auch fast acht Jahrzehnte nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges noch munitionsverseuchten Bereiche um das frühere Raketentestgelände des Wernher von Braun warnt. Es seien da überall wirklich von alliierte Bomben im Boden, die bei Angriffen auf die V2-Fabrik fehlgingen. "Dort vorn", sagt der schwimmfreudige Rentner, "liegen sogar noch Flugzeugteile".

Eine Begegnung mit der Geschichte, von der Gegenwart überstrahlt. Am einsamsten Strand von ganz Usedom wohnt in diesem Jahr ein echte Einsiedler, der sich aus Kieferästen und einer Plane eine Art Zelt gebaut hat. Er schlafe abends am Feuer, stehe mit den Vögeln auf und wundere sich mittlerweile auch schon, dass ihn alle in Ruhe ließen, sagt er. "Aber ich tue ja auch keinem was." In Rostock geboren, sei er vor Jahren nach Berlin gezogen, habe nun aber festgestellt, so der Mittdreißiger, dass die Hektik und das Großstadtleben ihn für den Moment überforderten. "Da ist mir diese Stelle hier eingefallen, wo man nur mit sich selbst und der Natur ist." Als sich der Abend senkt, zündet der Einsiedler sein Feuer an, die Mücken kommen und gehen wieder und mit der Dunkelheit steigt eine Ruhe auf, wie sie nicht tiefer sein könnte.

Auch morgens sind keine Menschen zu sehen. Der Weg führt jetzt kurz zurück und dann an einer Straße entlang, die den einzigen sicheren Weg durch die Sperrzone markiert. Wie fast überall im Nordosten der Insel, die im Jahr auf fast 2000 Sonnenstunden kommt, gibt es nach einer kurzen Strecke Nur-Straße Rad- aber keinen speziellen Wanderwege, obwohl das hier der Europawanderweg E9 sein soll. Was hat zuerst gefehlt? Die Wanderer? Oder die Wanderwege?


Peenemünde, der einzige größere Ort auf dieser Schmalseite des Eilands, kommt auf gerademal 300 Einwohner, einen Konsum, eine Gaststätte, ein U-Bootmuseum, eine Physikausstellung und die Reste der imperialen Zweckbauten der Waffenindustrie des Dritten Reiches, die längst als Hauptattraktion der Region gelten. "Früher kamen Auswärtige nicht mal in die Nähe von Peenemünde", beschreibt die Kellnerin der "Alten Wache", "da saß hier überall die NVA und man brauchte einen Passierschein, um in den Ort zu kommen." Heute lebt der vom betonierten Erbe der Raketenpioniere, denn "mit Strand ist hier nicht viel". Und vom Bedürfnis zahlloser Usedom-Urlauber, ihre mitgebrachten oder gemieteten Fahrräder zu nutzen, um zu allen möglichen interessanten oder auch weniger interessanten Zielen vorzudringen.


Die Peene-Seite der Insel bleibt dabei aber für die meisten tabu. Hier, wo die einzige Attraktion aus dem Hochwasserdamm besteht, an dem entlang sich ein alter LPG-Weg schlängelt, dünnt die endlose Kette der Fahrradfahrer aus. Schon an den nach dem Zweiten Weltkrieg gesprengten Materialbunkern der Brauchitsch-Truppe klingelt es nur noch gelegentlich. Es wird wieder still und das Land weit, Felder und urwaldartige Baumgruppen prägen die Landschaft. Das Meer ist nicht mehr zu sehen und bei Mölschow ist auch kein Hauch von Ostseeduft mehr in der Luft.

Usedom sieht hier aus wie das Mansfeld, eine in der Sonne glühende Veranstaltung, aus der es keine Flucht gibt. Die auf den Wanderkarten eingezeichneten Schutzhütten existieren nicht, auch findet sich kein Stückchen ebene Wiese, auf dem sich das Zelt noch vor den nahenden Gewitter aufstellen lassen könnte. Die Wanderung wird zur Suchaktion, quer über abgeerntete Staubfelder und durch trockengefallene Bewässerungsgräben. Rehe und Hasen sagen sich hier gute Nacht. Touristen gibt es nicht mehr, und überhaupt keine Menschen. Dann endlich ein Stück Wäldchen mit Rasen dahinter, Schutz vor dem böigen Westwind und uneinsehbar für neugierige Bauersleute im Ort. Im Pladderregen eines Sommergewitters geht der Abend zu Ende. 60 Kilometer geschafft. 25 zu gehen.



Kein Durchkommen hierhin gab es noch vor 30 Jahren. Der Nordwestteil Usedoms war jahrzehntelang Sperrgebiet. Erst bauten die Nazis rund um das Fleckchen Peenemünde im abgelegenen Gebiet um den Haken ihr Testgelände für Wernher von Brauns V1 und V2 genannten Raketen. Dann kam die Nationale Volksarmee der DDR und errichte einen Sperrgürtel, hinter den niemand schauen durfte.

Erst seit dem Ende der DDR kann das Areal besichtigt werden, auf dem die Nazis im Krieg ihre "Vergeltungswaffen" entwickelten. Ein Museum empfängt jedes Jahr mehr als 300.000 Besucher, in den Außenanlagen sind Modelle und Reste von echten V2-Raketen verteilt. Daneben gibt es eine Ausstellung mit Wundern der Physik und ein ehemals sowjetisches U-Boot, das begangen werden kann.


Abseits dieses Überbleibsels aus der unseligsten Zeit der deutschen Geschichte erstreckt sich weites Wald- und Wiesenland, 25 Quadratkilometer groß, menschenleer. Nirgendwo ist hier eine Möglichkeit, einzukaufen, etwas zu trinken oder eine Wurst zu kaufen. Der Europawanderweg E9 ist ein alter LPG-Pfad aus Betonteilen, die bessere Wahl ist allemal der Deich, der nicht betreten werden darf. Seit den 30er Jahren sind hier nur Einheimische unterwegs gewesen, bis heute sogar, denn im Verkehrschaos der überforderten Insel nehmen Auskenner den alten Wirtschaftsweg als Abkürzung auch mit dem Pkw. Die Wachen, die hier früher standen, sind fort, die zwölf Jahre, die hier ein Zentrum der Rüstungsindustrie der Nationalsozialisten war, haben allerdings ihre Spuren hinterlassen.

Unübersehbar. Im Wald warnen Schilder diplomatisch vor "Munitionsbelastung", am Wegesrand türmen sich die Trümmer früherer Bunkeranlagen. Die hatten die Nazis zwangsweise auf den weichen Boden bauen müssen, weil Tiefbunker im Usedomer Sand keinen Sinn gehabt hätten. Nach dem Krieg galten die halbtonnenförmigen Riesenschuppen als Teil der deutschen Bewaffnung und nach den Vorgaben des Potsdamer Abkommens mussten sie deshalb gesprengt werden.


Was übriggeblieben ist, reicht als Touristenattraktion. Überall türmen sich die Betonhaufen, in denen Teile der geplanten "Wunderwaffen" gelagert worden waren. Vieles ist längst von einer Flora überwuchert, die sich seit dem Abzug der NVA ungestört entwickeln konnte. Stumme steinerne Zeugen von Weltgeschichte: Von hier aus gelang der Menschheit am 3. Oktober 1942 der erste Ausflug in den Weltraum, als ein Raketenofen mit 18 Mischkammern zündete und in seinem Inneren pro Sekunde 125 Liter Kartoffelschnaps und flüssiger Sauerstoff verbrannten, bis das 13 Tonnen schwere ""Aggregat 4" die Grenze zum Weltraum überschritten hatte. Mit Überschallgeschwindigkeit erreichte die Rakete in einer Höhe von 84,5 Kilometern die Grenze der Erdatmosphäre und schlug 190 Kilometer entfernt in der Ostsee ein.

Über 10 000 Menschen hörten damals, wie das ohrenbetäubende Grollen des Triebwerks über die flache Landschaft rollte. Um 15.58 Uhr hob das Aggregat vom Starttisch ab und nahm Kurs auf die Danziger Bucht. In 80 Kilometer Höhe waren die Tanks leer. Keine Spur erinnert mehr daran, dafür aber gemahnen die Bunkerreste, die aussehen wie übergrünte Hünengräber, an die Vergänglichkeit aller Macht.

Wer hier auf den Rad vorbeifährt, wie es nur wenige tun, oder entlangwandert, was niemandem in den Sinn zu kommen scheint, ist auf Spurensuche. All diese Hinterlassenschaften wurden zwischen 1939 und 1942 mit Hilfe von Zwangsarbeitern erbaut und seitdem zerfallen sie mit quälender Landsamkeit. Beeindruckender noch als die Dokumente, Waffenteile, Fotografie, Videos und Modelle in der offiziellen Schau im Museum lassen die steinernen Reste der "Heeresversuchsanstalt", in der Entwicklung und Bau der Flügelbombe Fi 103 und der ersten Großrakete A 4 betrieben wurden, erahnen, welche Hybris hier herrschte. Niemand wusste, dass man im Begriff war, die Basis für die spätere Raumfahrt zu schaffen. Nicht die Eroberung des Alls, sondern der Erde war das Ziel.


Von 1936 bis 1943 wurden in der Usedomer Wald- und Wiesengegend etwa 70 Großbauten errichtet, dazu eine Wohnsiedlung für die Wissenschaftler, ein eigenes Wasser- und Kraftwerk sowie eine elektrisch betriebene Werkbahn. Ferner Lagerbauten als Massenunterkünfte für Soldaten, Zwangsarbeiter und KZ-Häftlinge. Dass daraus einmal ein magisch-mysteriöser Ort werden würde, den Neugierige staunend durchwandern können, während Reste von Wasserzisternen, Unterführungen und stillgelegten Bahngleisen andeuten, wie gigantisch diese Anlagen einst waren, von denen außer der Kraftwerksruine nichts vollständig erhalten geblieben ist, hatten Wernher von Braun und General Walter Dornberger als führende Köpfe der Entwicklung einer Fernrakete, die 750 Kilogramm Sprengstoff über eine Distanz von 250 Kilometern transportieren sollte, weder vorgesehen noch geahnt.


Der Atem der Geschichte, hier weht er leise, aber deutlich muffig riechend. Keine zehn Kilometer entfernt gibt es die Reste eines Zwangsarbeiterlagers zu besichtigen, im Museum kann man lesen, dass allein beim ersten Luftangriff der Royal Air Force auf Peenemünde im August 1943 etwa 750 Menschen ums Leben kamen, darunter vermutlich 500 ausländische Kriegsgefangene und Zwangsarbeiter. Die Bunkerreste am LPG-Weg reichten den Nazis danach nicht mehr aus, um ihre Wunderwaffen sicher zu wähnen. Die Produktion wurde nach Nordhausen in Thüringen verlagert. Häftlinge aus dem KZ Buchenwald mussten dort unterirdische Stollen für das Buchenwald-Außenlagers Mittelbau-Dora in die Felsen hauen, in denen ab Januar 1944 die Raketenproduktion begann. Bei der Errichtung der Anlagen sowie bei der Produktion starben bis zum Kriegende über 20 000 Häftlinge - die V2 forderte so mehr Opfer bei denen, die sie bauen mussten, als bei denen, die sie töten sollte.



Nur weg aus dem Hinterland, aus Orten wie Zecherin und Mölschow, die nur ein paar Kilometer von den vielbesuchten Stränden bei Zinnowitz entfernt liegen, aber wirken wie Teile einer anderen Welt. Selbst im Hochsommer ist hier hinten niemand und so offenbart sich der landschaftliche Zauber der Insel Usedom, der weite Flächen bietet, dschungelhafte kleine Wälder und tuckernde Traktoren. Wie ein Schock kommt Trassenheide, der Vorhof des Urlaubsmolochs Zinnowitz, der von endlosen Radlerkolonnen bevölkert wird. Alles fährt, auf dem Kurplatz lauert der Strandvogt, der die Kurabgabe eintreibt. Zum Glück sind die Zelte, aufgebaut erst nache Einbruch der Dämmerung, selbst aus ein paar Metern Entfernung kaum zu entdecken. Wer sie trotzdem sieht, geht meist kopfschüttelnd vorbei. "Das ist bestimmt verboten", sagt eine Frau. "Das stört doch keinen", entgegnet ihr Mann und erklingt ein bisschen sehnsuchtsvoll.


Auf der Seeseite lässt es sich wieder unbekümmert am Strand entlanglaufen oder auf dem parallel zur Küste verlaufenden Wanderweg, der die offizielle Route des Europawanderweges 9 ist. Trotz der lauernden Blicke und des Kopfschüttelns der Tausenden am Strand geht es unten entlag, vorbei an Kleckerburgen und Festungen aus Planen. Am Streckelsberg bei Koserow wächst eine vergleichsweise scharfe Steigung aus dem Sand. 69 Höhenmeter! Für diese Gegend ist das das Matterhorn.


Die Versorgung ist immer sichergestellt, denn hier folgt Usedom wieder der Logik ständiger Abwechslung. Aus Stadt folgte Leere, auf Leere Stadt. Entlang der opulenten, kiefernbeschatteten Strandpromenade, an der sich in endloser Kette Strandvillen, Strandhotels und Strandrestaurants reihen. wandert es sich im aufkommenden Wind ruhig und gemächlich bis kurz vor Zempin, einen sympathischen Flecken, dem es noch am mallorcahaften Massencharakter mangelt. Der Strand unter einem Stückchen Steilküste, auf der der absurd große offizielle Campingplatz "Am Dünengelände" beginnt, der sich bis Zinnowitz hinzieht, sieht aus wie ein idealer Rastplatz für die Nacht.

Ein paar Jungs zelten hier gleich nebenan, illegal, aber schon eine gnaze Woche lang. "Gab nie Probleme" sagen sie, die allerdings kein richtiges Zelt aufgebaut haben, sondern nur ein Holzgerüst, über dem eine Plane liegt. Nach Landesrecht ist das kein Zelt, sondern mit viel gutem Willen ein Biwak. Und im Gegensatz zum Zelten am Strand ist biwaken erlaubt.

Oder wenigstens nicht verboten. Doch das ist egal, schließlich versiegt der Strom der Steinesammler, Hundeausführer und Jogger mit dem Dunkelwerden, durch das die letzten Auswärtsesser zurück zu ihren jeweiligen Heimatadressen stolpern. Die Nacht kommt, die ersten am Strand sind nun wieder die letzten, wie immer in dieser Woche so nah und so weit draußen zugleich.


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