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Freitag, 17. Mai 2019

Stasi-Vize: Die keinen Mil­li­me­ter zu­rück­wei­chen

Die Stasi-Bar in Halle-Neustadt.
Am Ende geht es darum, Geschichte zu schreiben. Geschehen ist sie schon längst, unverrückbar stehen die Ereignisse in der Zeit. Aber wie sie zu deuten sind, das wird gerade festgelegt, das weiß auch Werner Großmann, bis 1989 der Vize-Chef des Ministeriums für Staatssicherheit. Und aus genau dem Grund lässt der 88-Jährige auch nicht nach: Mit "Der Überzeugungstäter" (Edition Ost, 251 Seiten, 16,99 Euro) hat der einstige Generaloberst ein Buch vorgelegt, in dem er seine Sicht auf die Stasi vor dem Hintergrund seiner Biografie schildert.

Nicht der erste Versuch des aus der Nähe von Pirna stammenden Zimmermannssohnes, aber vielleicht der letzte. Großmann gehört wie sein Vorgänger als Chef der Auslandsspionage Markus Wolf und der letzte NVA-Vize Fritz Streletz zur Zwischengeneration der DDR-Führung. Im Dritten Reich zur Schule gegangen, landet Großmann noch beim Volkssturm, von dem er umgehend abhaut. Als sein Vater aus der Gefangenschaft zurückkehrt, schließt er sich der KPD an. Am selben Tag tritt auch Sohn Werner bei, er ist gerade 17 und auf der Suche nach einem Neuanfang. Über die Jugendorganisation FDJ landet er in einer Funktionärslaufbahn, die Führung entdeckt ihn als "Kader" und wählt ihn schließlich aus, die im Aufbau befindlichen "bewaffneten Organe" zu verstärken.

Für Großmann, bis Oktober 1990 einer der großen Unbekannten des MfS, ein Lebensweg, den er bis heute mit aller Überzeugung vertritt. Bauingenieur oder Lehrer habe er werden wollen, doch als jemand ihn für eine Schule in Berlin wirbt, lockt die Hauptstadt. Großmann sagt Ja und geht zum "Außenpolitischen Nachrichtendienst" wie die spätere Hauptverwaltung Aufklärung (HVA) anfangs noch heißt.

Aus der Sicht des Mannes, der der letzte Chef des weltweit gefürchteten Spionagedienstes von Markus Wolf sein wird, ist das ein Job wie viele andere auch. Großmann hat nie etwas mitbekommen von illegalen Methoden, von Machtkämpfen im Parteiapparat oder Mordplänen gegen Abtrünnige. "Gerüchte, mehr nicht", sagt er. Es habe weder ein Mordkommando gegeben, noch Pläne, den "Verräter" Werner Stiller mit Gewalt zurück in die DDR zu holen.

Überhaupt stellt Werner Großmann das MfS als normale Behörde dar, etwas neurotisch, weil unentwegt in Angst, unterwandert zu werden. Aber selbst die Auslandsabenteuer seiner HVA erklärt der Sachse mit der großen Systemauseinandersetzung. Die andere Seite sei nie besser gewesen, man selbst aber immer bester Absicht. Warum sich also Asche aufs Haupt streuen? Es geht darum, Geschichte zu schreiben.

Sonntag, 5. Mai 2019

Wolfgang Neuss: Ein Hauch von Hasch

Der Körper des Kabarettesten Wolfgang Neuss glich  am Ende dem eines alten Indianerhäuptling.


Den großen Unterschied zu erkennen, war für ihn eine Kleinigkeit. "Wer nicht haargenau wie die CDU denkt", lästerte Wolfgang Neuss, "der wird sofort aus der SPD ausgeschlossen." Nicht jeder kann da lachen, und darüber freute sich der gebürtige Breslauer besonders. Neuss, als Jugendlicher aus einer Schlachterlehre nach Berlin geflohen, um Clown zu werden, ist der anarchistische Possenreißer der jungen Bundesrepublik.

Häme und Spott schüttet der Autodidakt mit der Vorliebe für verquere Wortspiele über der jungen Demokratie aus. "Der Faschismus ist eine Spielart der freien Marktwirtschaft", ätzt er inmitten der Wirtschaftswunderjahre, "auf deutschem Boden darf nie wieder ein Joint ausgehen", wird er sich später für eine Legalisierung von Marihuana aussprechen.

Ein Mann wie ein einziges Missverständnis. Dem Einsatz an der Ostfront habe er sich entzogen, indem er sich einen Finger abgeschossen habe, erzählte Wolfgang Neuss jahrelang. Der Finger war wirklich weg. Verloren hatte er ihn, wie er später bestätigte, durch eine verschleppte Entzündung.

Im Zweifel aber wählte der begnadete Improvisator, der nach dem Krieg im geistesverwandten Wolfgang Müller einen kongenialen Begleiter gefunden hatte, lieber die gute Geschichte als die wahre. Richtig zugespitzt ist schon fast ein Witz! In seiner großen Zeit Mitte der 50er dreht Neuss zehn Filme im Jahr, darunter Knüller wie "Die Drei von der Tankstelle" und "Wir Wunderkinder". Nebenher zieht er als Kabarettist über die Bühnen und landet Schlagerhits wie "Schlag nach bei Shakespeare".

Scherze aber sind eigentlich gar nicht seine Sache. Der "Mann mit der Pauke" sieht sich als politischen Künstler mit einem linksschlagenden Herzen. Erst streitet er für die SPD, dann wendet er sich der außerparlamentarischen Opposition zu. Auch die ist ihm bald langweilig. Neuss gefällt sich nun in der Rolle des kategorischen Nonkonformisten: Das Haar wird immer länger und dünner, ausfallende Zähne werden nicht mehr ersetzt, statt Alkohol zu konsumieren, greift er zur Haschischpfeife.

Der allmähliche Verfall ist öffentlich. Wegen Drogenbesitzes wandert Neuss ins Gefängnis, die SPD schließt ihn aus, das Fernsehen lässt ihm den Ton abdrehen und nennt es eine "technische Störung". Boulevardblätter, seit Jahrzehnten im Krieg mit dem "Vaterlandsverräter", erfreuen ihre Leser mit der Mitteilung, der Provokateur müsse inzwischen von Sozialhilfe leben.

Zu dieser Zeit gleicht der einst lebenspralle Kabarettisten-Körper schon dem Leib eines uralten Indianerhäuptlings. Graue Strähnen hängen dem Wortakrobaten wie müder Federschmuck ins Gesicht, der zahnlose Mund ist eingefallen. Neuss, schon erkrankt, vertreibt sich die Zeit, indem er der alternativen Tageszeitung taz schräge Kolummnen bastelt, die zuweilen nicht einmal mehr seine Fans verstehen. Am 5. Mai 1989 stirbt Wolfgang Neuss, wenige Tage, nachdem ein Filmteam die Dreharbeiten zu einer Dokumentation über sein Leben abgeschlossen hat. Im Film erzählt er noch, dass er nicht tot sein werde, nach seinem Tod. Denn man lebe schließlich weiter in "allen Leuten, bei denen dein Herz etwas schneller geht."

Sonntag, 28. April 2019

Atlantropa: Der große Plan vom Umbau der Welt



Der vom Bauhaus inspirierte Architekt Herman Sörgel ging vor fast 100 Jahren daran, das Wasser aus dem Mittelmeer zu lassen. Sein ehrgeiziger Plan sollte Europa mit Raum und Energie versorgen.

Er hatte Architektur studiert, dabei aber vor allem gelernt, dass seine Auffassung von Architektur nicht dazu taugte, Häuser zu bauen. Herman Sörgel, Sohn eines Wasserbaubeamten im bayrischen Landesdienst, war vom Bauhaus inspiriert. Er wollte es größer, grundsätzlicher. Architektur, so glaubte der Regensburger, müsse den Raum gestalten und das Leben der Menschen damit einfacher, besser und friedlicher machen.

Vor hundert Jahren beginnt der 42-Jährige mit der Arbeit an einem Projekt, das auf den ersten Blick aus in einem Fantasy-Roman zu stammen scheint: Es ist der Weihnachtsabend des Jahres 1926, als ihn nach der Lektüre eines Buches des englischen Science-Fiction-Autor H. G. Wells die Vision überkommt, das Mittelmeer bei Gibraltar mit einem Damm zu sperren. Dadurch könnte der Zustrom von Wasser aus dem Atlantik kontrolliert erfolgen - der Wasserspiegel des Mittelmeeres sinke, für die wachsende Bevölkerung Europas würde Raum gewonnen werden.

"Die Vereinigung Europas mit Afrika zu einem mächtigen Weltteil."
Herman Sörgel



Der kleine Beamte dreht das große Rad. Er, der bis dahin nur Zweifamilienhäuser projektiert hat, ist getrieben von der Angst vor einem neuen Weltkrieg und der Furcht davor, dass das kleine Europa nicht standhalten wird im Wettbewerb mit Amerika. Weil es ihm an Platz fehlt. Weil es an Rohstoffen mangelt. Weil es mehr Energie verbraucht, als es produzieren kann. Der kleine Kontinent könne allein nicht bestehen, analysiert Sörgel 1929 in seinem Buch "Mittelmeer-Senkung" und weiß einen Ausweg: "Die Vereinigung Europas mit Afrika zu einem mächtigen Erdteil." Eine Kombination aus europäischer Technik und afrikanischen Bodenschätzen sei die ideale Lösung, der Name dieses Erdteil könne Atlantropa sein.



Wie aber vereinen, was von einem Meer getrennt wird? Herman Sörgel entwirft das größte Bauprojekt der Menschheitsgeschichte: Der Gibraltardamm sollte 14 Kilometern breit und 300 Meter hoch werden, Turbinen, größer als alle, die heute in Betrieb sind, könnten dann etwa 110 000 Megawatt Energie erzeugen - ein Drittel mehr als alle deutschen Kraftwerke heute produzieren.

Durch den Damm, so die Vision des Oberpfälzers, wäre es überdies möglich, den Wasserspiegel um etwa anderthalb Meter im Jahr zu senken. Atlantropa hätte seine Küsten nach einem knappen Jahrhundert weit ins Mittelmeer hinausgeschoben, Adria und Ägäis wären ausgetrocknet, Malta zu einem Teil von Sizilien geworden. Fast 560 000 Quadratkilometer Land gäbe das zusätzlich für Landwirtschaft, Städtebau und Industrie - das entspricht der fünffachen Fläche der früheren DDR. Ein Vorhaben, das heute aus vielerlei Gründen eine Idee bleiben müsste.

Wer soll das alles bezahlen? Was ist mit den Auswirkungen auf die Tierwelt? Wie verändert sich das Klima? Sörgel hatte all das berechnet und prognostiziert, sicher sagen aber konnte auch er es nicht. Dennoch wurde der Plan des mit zwei Doktorarbeiten gescheiterten Regierungsbaumeisters begeistert aufgenommen. Städte wie Venedig und Genua klagten zwar, ihnen würde der Zugang zum Wasser abhanden kommen.



Sörgel aber hatte auch daran gedacht: Venedig sollte einen eigenen Damm bekommen und so im Wasser stehen bleiben. Genua hingegen würde einfach Richtung neue Küstenlinie erweitert. An der stünden auch die neuen Häfen, die hätten gebaut werden müssen, weil alle alten Hafenanlagen nun drei Kilometer vom Wasser entfernt liegen würden. Bis Mitte der 30er Jahre arbeitete Sörgel ruhelos für sein Projekt. Seine Stelle hatte er aufgegeben, um in ganz Europa über seine Pläne zu reden. Das tat er sehr überzeugend. "Wenn ein Ingenieur zu träumen beginnt, sticht er jeden Dichter aus", schwärmte die französische Zeitung "Allier Socialiste". In den Zeiten der Weltwirtschaftskrise lechzten die Menschen nach kühnen Visionen und wagemutigen Unternehmen.

Ein Mann wie Sörgel, angetreten, die halbe Erde zum Nutzen des Menschen umzubauen, ist da genau richtig. Dann aber kommt die Machtübernahme der Nazis. Herman Sörgel versuchte, seine Pläne systemkompatibel zu machen. Trotzdem teilt ihm die Staatskanzlei in Berlin 1935 mit, dass Deutschland kein Interesse an Atlantropa habe. Sörgel macht unverdrossen weiter. Lange Zeit bleibt der Sonderling mit dem Monokel ungestört, 1942 allerdings verhängt das Regime ein Publikationsverbot gegen ihn.

Das verhilft der Idee nach dem Krieg noch einmal zu einer kurzen Blüte. Herman Sörgel gründet das Atlantropa-Institut und beginnt erneut mit seinem Werbetouren durchs Land. Doch auf dem Weg zu einem Vortrag gleich nebenan in der Münchner Prinzregentenstraße wird der passionierte Radfahrer von einem Auto angefahren. Es ist der erste Weihnachtsfeiertag des Jahres 1952, Sörgel hat ein Vierteljahrhundert für seine Idee gekämpft und nichts erreicht. Denn mit ihm stirbt auch die Idee von Atlantropa - Sörgels letzte Arbeiten, in denen er Stauseen für den Kongo plante, gingen wahrscheinlich ebenso verloren wie die Archive seines Atlantropa-Instituts.

www.morgenwelt.de

Dienstag, 2. April 2019

Verwaltungsgespräch: Ein Dialog für die Tonne


Das sieht auf dieser Wiese immer aus wie Sau! Wir brauchen zusätzliche Müllkübel.

Gute Idee! Die müssen wir aber auf ein festes Fundament stellen, sonst schmeißen die uns die Dinger ständig um.

Ja, feste Fundamente sind gut. Die gießen wir richtig sicher in den Rasen, zwanzig Zentimeter tief, dürfte reichen. Okay, nein, lass und 25 machen.

25 klingt super. Und dann so einen Mast dahinter, wo wir die Kübel festketten können.

Richtig fest, genau. Und was nehmen wir für Kübel?

Habe ich schon bestellt, so große, schwarze. Die bekleben wir dann mit lustig gemalten Bildern von städtischen Künstlern, die städtische Motive malen.

Großartiger Einfall. Hast du schon bestellt? Die Kübel?

Ja, zwei Dutzend Sulo-120 Liter, klasse Dinger, ganz stabil. Fahrbar, aus speziell entwickeltem hochmolekularem Niederdruckpolyäthylen, verrottungsfest, frost-, hitze-, chemikalienbeständig.

Die sind aber aus Plastik, oder?

Ähm, ja. Schon irgendwie. Wieso?

Weil die da grillen, die grillen da, dauernd.

Naja, Grillen. Ich meine, die sind hitzebeständig.

Und wenn da einer Glut reinschmeißt? Meinste, das gilt dann noch mit dem hitzebeständig?

Könnte, naja, ich hoffe doch. Außerdem…

Was außerdem?

Außerdem werfen die da keine Glut rein, ganz sicher nicht. Das sieht doch jeder, dass die Tonnen aus Plastezeug sind. Das will doch keiner, dass es da brennt. Denkste nicht? Das verklebt doch dann die ganzen schönen Fundamente. Und die klasse Festschnallmasten gehen kaputt.

Und die künstlerischen Bilder mit Stadtmotive.

Ja, die auch.

Das wäre traurig.

Ganz traurig wäre das.

Ganz traurig.


Sonntag, 17. März 2019

Kahlschlag auf der Peißnitz: Baum-Mord auf Raten


Es ist der Traum vom reinen Wald wie ganz früher, einer Natur ohne "Fremdgehölze", auch wenn die wie der amerikanische Eschen-Ahorn (Acer negundo) schon seit 300 Jahren in Deutschland wächst. Als Neophyt geranntmarkt, steht er auf der "Schwarzen Liste" der Gewächse wie die Silber-Weide und die Schwarz-Pappel verdrängt, deren deutsche Standgeschichte noch länger währt.

Gegen diese "Invasion" (hallelife) hilft nach Meinung von Experten die sogenannte "Ringelung" am besten. Dabei wird dem Baum ein mehrere Zentimeter breiter Streifen der Rinde am unteren Teil des Stammes ringförmig abgeschnitzt. So soll, das zumindest ist der feste Glaube der Ringler, dem geringelten Baum der Saftstrom abgeschnittenn, so dass der Transport von Nährstoffen von den Wurzeln in Äste und Zweige und Blättter gestoppt wird.

Vor vier Jahren begann eine große Ringelaktion auf der unter Naturschutz stehenden Nordspitze der Peißnitzinsel, auf der seit einigen Jahren auch wieder mehrere Biber heimisch sind. Wie die Pläne zur Schotterung der Waldwege gehört auch das gezielte Absterbenlassen von Bäumen zur Umsetzung städtischer Pläne, sogenannte "invasive Neothyten" mit Hilfe hochrangiger Helfer aus der Politik zu bekämpfen, weil sie heimischen Pflanzen und damit auch Tieren die Lebensgrundlage entzögen.

In der Theorie reicht es, die in der DDR ihrer pflegeleichten Wuchsfreudigkeit achtlos angepflanzten Bäume ausgiebig zu ringeln, um sie binnen dreier Jahre in Totholz zu verwandeln. Mit dem aufwendigen Verfahren soll vermieden werden, dass gefällter Eschen-Ahorn bereits im zweiten Jahr Stockausschläge bildet, die dazu führen, dass mehr Eschen-Ahorn wächst statt weniger. Geringelte Bäume hingegen sind nach drei Jahren abgestorben, kahles Stämme, die nur noch abgesägt und abtransportiert werden müssen.

Wenn sie nicht in der Praxis selbst andere Absichten erkennen lassen, wie das die geringelten Bäume auf der Nordspitze tun. Statt zu sterben und damit Raum zu schaffen, in dem sich "die naturnahe Aue" (Koordinationsstelle invasive Neophyten in Schutzgebieten Sachsen-Anhalts) wiederherstellen lässt, weigern sich die Geringelten, beim Kahlschlag mitzumachen. Mit Erfolg: Auch in diesem Jahr schlagen die totgeweihten Ringelbäume auf der Nordspitze wieder zuverlässig aus, ebenso wie ihre bereits vor noch längerer Zeit geringelten Artgenossen am Ufer der Wilden Saale (Foto Mitte).

Samstag, 9. März 2019

Lost Places: Der Rätselpalast von Dreżewo


Dreżewo ist eine kleine Stadt, eigentlich ein Dorf, nur ein Dutzend Kilometer von der belebten polnischen Ostseeküste mit ihren frisch polierten Urlaubsstädten entfernt. Gerade hier, im Niemandsland, das kaum jemals ein Tourist erreicht, wartet eine Sensation für Freunde zerfallender Großarchitektur: Das Herrenhaus in Dreżew, einst auf Initiative des Wirtschaftsberaters von Schlutów aus Stettin errichtet, damals für bescheiden gehalten, heute aber wie ein riesiges Schloss aufragend aus einer Gegend, in der sonst nur schlichte Hütten stehen.


Die erste Erwähnung der traurigen kleinen Siedlung, in deren Mitte das gewaltige Bauwerk prangt, stammt aus dem Jahr 1287, als Fürst Bogusław das gesamte Dorf einem Frauenkloster in Trzebiatów übergab. Später gehörte das Dorf der Familie von Karnitz, im Jahr 1740, als der letzte erwachsene Eigentümer starb, übernahm dann eine Familie namens von Woedtke das Anwesen, das an einen Kapitän von Schmeling verkauft wurde, der es wiederum an die Witwe des Kaufmanns Becker aus Kolobrzeg weitergab. Niemand hatte Glück mit dem Gut, jeder gab es, so scheint es, möglichst schnell weiter. Dreżewo gehörte als nächstes der Frau des Kaufmanns Kaufmann und danach erbte es die Familie von Fleming. Ab 1828 befand sich das Gut dann in den Händen von Heinrich von Elbe, der es schließlich 1875 an Eduard von Bonin verkaufte. 

Damit begann die bunteste, aber auch rätselhafteste Zeit: Bonin unterhielt enge Geschäftsbeziehungen mit dem Vater der spanischen Adelsfamilie de Val Florida. Girona de Val Florida kam sogar nach Drezewo, wo sie eine Affäre mit dem jungen von Bonin gepflegt haben soll, der allerdings schon mit einer französischen Gräfin verlobt war - Angelica Vermandois.

Als die 1890 nach Drezew kam, brach im Schloss ein Feuer aus, und ihre Rivalin Girona de Val Florida starb in den Flammen. Der Palast wurde danach im neugotischen Stil umgebaut, doch Glück und Zufriedenheit wollten nicht einziehen.



Nach dem Krieg griff ihn sich der polnische Staat, der ein Gestüt im weitläufigen Gelände gründete. Das ging pleite und verschwand, dafür kam nach dem Zusammenbruch des Sozialismus ein Geschäftsmann namens Stanisław Paszyński, der die weitläufige Flur pachtete, um Windparks anzulegen. Gironas Fluch wirkte, die Pläne wurden nie umgesetzt, und das Herrenhaus zerfiel langsam.

Bis die Spanier kamen und neue Hoffnung mitbrachten. Im Juli 2006 wurde das sagenhafte 302 Hektar große Anwesen von Hiszpan Ricardo Crespo Fuster gekauft, einem spanischen Geschäftsmann, der hier ein Hotel und einen Golfplatz mit Freizeitzentrum errichten wollte. Er tat es jedoch nicht, und der Palast wurde zusammen mit einem wunderschönen, 7,5 Hektar großen Park zu einer mit Unkraut überwachsen Ruine. Die inzwischen den ganz besonderen Zustand sehenswerten Verfalls erreicht hat.

Sonntag, 24. Februar 2019

Industriedenkmal Gravo Druck: Letzter Aufruf Abrissbirne


Als „Industriehalle mit Freifläche in 06114 Halle, Reilstr.“ wurde es im vergangenen Jahr bei einer Auktion zum Kauf angeboten. Startgebot: 5 Euro. Nicht viel Geld für eine Grundstücksfläche in bester Lage, direkt am Reileck, mehr als 3000 Quadratmeter groß und mit großer Geschichte versehen.

Aber die früheren Produktionsgebäude des VEB Gravo Druck Halle  präsentieren sich nach mehr als einem Vierteljahrhundert Leerstand zwar bunt bemalt mit allerlei Graffiti. Doch vom löchrigen, teilweise eingebrochenen Dach bis zu schwer einsturzgefährdeten Zwischendecken, Brandschäden und ausgebrochenen Fenstern in einem geradezu erbärmlichen Zustand.


Ein Denkmal ist das Haus aus dem Jahr 1936 dennoch, sechs Etagen mitteldeutscher Industriegeschichte, die bislang nur einige Nebengebäude und den früher an der Fassade prangenden Schriftzug „Gravo Druck“ eingebüßt haben, an deren Stelle sich jetzt ein Parkplatz befindet.


1889 hatte der Unternehmer Carl Warnecke in Halle die Lithographische Kunstanstalt, Buch- und Steindruckerei gegründet, die später aus der Kleinen Ulrichstraße in die heutige Ludwig-Wucherer-Straße zog. In der DDR wurde die Firma enteignet und zum volkseigenen Großunternehmen mit nahezu 250 Mitarbeitern gemacht, die Verpackungsmaterial, Plakate, Werbeschriften und Postkarten produzierten – unter anderem für Abnehmer im sogenannten NSW, also dem nichtsozialistischen Ausland. Globalisierung im DDR-Maßstab. Die Rohstoffe für Etiketten und Verpackungen für westdeutsche Markenartikel kamen aus dem Westen. Die Fertigprodukte verschwanden wieder dorthin.

Ironie der Geschichte: Das Geschäft lief, so lange der „Graphische Volksbetrieb“ (daher Gravo) in der DDR produzierte, die kaum Werbung kannte. Doch kaum war die Planwirtschaft am Ende, geriet auch die ehrwürdige Druckfabrik in Nöte. Der Jahresabschlussbericht 1990 der inzwischen mit dem Handelsregistereintrag HRB-08-896 zur GmbH mit einem Stammkapital von 3 360 000,- DM umfirmierten Treuhand-Tochter listete schon Außenstände von mehr als zwei Millionen D-Mark auf. 1992 war die Kasse endgültig leer, Gravo Druck, zu DDR-Zeiten Schauplatz des DEFA-Films "Das verhexte Fischerdorf", geriet in ein Insolvenzverfahren, in dessen Folge die Gebäude leergeräumt und verlassen wurden, dem Verfall frontal preisgegeben.

Die Idee von Hühnermanhattan-Betreiber Gabriel Machemer, in den weitläufigen Räumlichkeiten nicht nur das Hühnermanhattan, sondern dazu noch weitere sozio-kulturelle Projekte unterzubringen, fand vor zehn Jahren keine Unterstützung. Inzwischen ist nun zu spät, noch irgendetwas am Industriedenkmal am Reileck zu retten: Bei einer Zwangsversteigerung ging das Gelände jetzt an einen Käufer aus Leipzig, der für die Ruine in allerbester Lage 1.151.000 Euro zahlt.

Noch eine ehrwürdige Leiche im Stadtbild: Das Julius-Kühn-Haus am Steintor



Samstag, 15. Dezember 2018

Lautes Leben und ein stiller Tod: Vor zehn Jahren starb André Greiner-Pol von Freygang





Es gibt ein Foto von André Greiner-Pohl, auf dem er ganz oben in der Berliner Zions-Kirche steht, den linken Fuß gegen das Geländer der Kanzel gestemmt, die Augen geschlossen, vor dem Bauch eine Gitarre, die er weltvergessen spielt. Das Foto stammt aus den 80er Jahren. André Greine-Pohl war ein Ausgestoßener, ein Mann, der einerseits Legende war, andererseits überhaupt nicht existierte: Staatsfeind und Heiliger, Säufer und Narr, Opfer und Täter. 

Die Aufnäher sahen ganz toll aus, und sie garantierten zumindest eine lange Nacht auf der Wache. "Freygang lebt" stand auf dem Stück Stoff, das öffentlich zu tragen nur die Mutigsten wagten in der DDR. Freygang, das war André Greiner-Pohl weswegen das Bildnis des Sängers und Gitarristen wildmähnig über dem Slogan prangte. Greiner-Pohl hatte Auftrittsverbot. Freygang keine Spielgenehmigung. Weder gab es Platten von der Band noch Rundfunkproduktionen, kein Radiomoderator sprach je ihren Namen aus, und keine Zeitung erwähnte sie. Dennoch pilgerten im Jahre 1987 mehrere tausend Leute zu einem unangemeldeten Konzert in einem winzigen Nest an der polnischen Grenze. 


Andere Bands schafften es nach dem Ende der DDR, ihr Leben und Wirken im DDR-Untergrund per Talkshow-Auftritt und CD-Sampler zu vermarkten. 
André Greiner-Pohl, 1952 geboren und nach einer Elektrikerlehre bald entschlossen, ein Künstlerleben zu führen, war dieses Talent nicht gegeben. Bis zu seinem Tod hat der Sohn des DDR-Komponisten Greiner-Pohl den Untergrund nicht verlassen, trotzig buchte seine Band Freygang ihre Konzerte selbst, noch immer erschienen ihre CDs auf dem eigenen Label Flint Records und der unabhängige Buschfunk-Versand sorgt für den Vertrieb. 

Bequem hat es 
André Greiner-Pohl nie gemocht. Scheint die DDR in manch anderer Künstlerbiografie ein recht langweiliges Land gewesen zu sein, so liest sich der Lebenslauf des Kult-Gitarristen wie ein Krimi. Schon Mitte der 70er Jahre geriet der Hobbymusiker, der sich als Modell und Kleindarsteller durchschlug, ins Visier der Stasi. Ein Freund hatte beschlossen, mit Hilfe eines US-Soldaten illegal nach Westberlin abzuhauen. Dazu wollte er die Uniform des Amerikaners anziehen und einfach durch die Grenzbefestigungen spazieren. 

Ohne André Greiner-Pohl ging das nicht: Er hatte eine Wohnung in der Nähe, in der das Umziehen vonstatten gehen sollte, und ein Auto, um den falschen Ami zur Grenze zu fahren, hatte er auch. 
Das Ende vom Lied wurde im gefürchteten Knast von Rummelsburg gespielt. Der Kumpel war erwischt worden, Greiner-Pohl wurde von der Staatsicherheit abgeholt, verhört und zur Zusammenarbeit gezwungen. In der Akte unter dem Decknamen "Benjamin Karo" finden sich allerdings mehr Berichte über ihn als von ihm, der seinen Führungsoffizier wissen ließ, dass er die "Bonzokratie" der DDR verabscheute.

Schon 1968, fanden die Spitzel heraus, sei dem Komponistensohn in der Schule eine Westzeitung abgenommen worden. Auch habe der kleine André stets Westfernsehen anschauen dürfen, später hätten sich bei ihm regelmäßig politisch negative Jugendliche versammelt, ließ ein eifriger Hausmeister die Stasi-Männer wissen. So einen darf man nicht öffentlich musizieren lassen. Ohne offizielle Spielerlaubnis avancierten Freygang dennoch zu den Puhdys des DDR-Rockuntergrunds. Neben eigenen Songs spielten André Greiner-Pohl und seine wechselnden Mitmusiker vor allem Ton, Steine, Scherben nach - mehr wild als perfekt, mehr schräg als schön. 

Es gab keine Platten von seiner Band, kein Radiomoderator sprach je ihren Namen aus und keine Zeitung erwähnte sie. 1987 strömten dennoch mehr als zehntausend Fans zu einem Open-Air-Konzert, um Greiner-Pol "Ich bin ein Mörder" singen zu hören. Im Sommer 1986 wurde Greiner-Pohl von der Bühne weg verhaftet. "Der Blues muss bewaffnet sein", glaubte Greiner-Pol, "sonst glaubt dir kein Schwein". Im Revolutionswinter 89/90 machte der Musiker ernst, er gründete die Kult- und Kulturstätte "Tacheles" mit und trat mit seiner eigenen Partei Wydoks zur Wahl an. Ohne Erfolg natürlich. 

Es blieb die Musik. Wilde Klänge, zu denen Greiner-Pohl, Bassistin Tatjana Besson, Keyboarder Frank Trötsch, Gitarrist Egon Kenner und Trommler Ronald Vorpahl Mythen schredderten. Lieder hießen "Skysegeljack" und "Vier Panzersoldaten und ein Hund",  Freygang, einst der lebende Beweis, dass Rock in der DDR nicht gleichbedeutend mit angepasstem Puhdy-Pop sein musste, zwangen die Extreme in eine Rille.

Kurz vor Weihnachten vor zehn Jahren starb André Greiner-Pohl an einem Herzinfarkt, der ihn im Schlaf überraschte. Er wurde nur 56 Jahre alt.

Montag, 10. Dezember 2018

Halle, ehrlichste Stadt: Das Fahrradwunder vom Franzosenweg


Normalerweise dürfte dieses Fahrrad dort nicht stehen. Nicht dort und nirgendwo sonst, denn schließlich ist Halle die Fahrraddiebstahl-Hauptstadt Sachsen-Anhalts: Knapp 4 000 Räder wurden 2017 an der Saale gestohlen - nur knapp 500 Fahrraddiebstähle waren es im Jahr 2011. Dabei gehen nach wie vor die wenigsten Diebstahlsopfer zur Polizei, weil deren Aufklärungsrate unterirdisch ist. In nicht einmal jedem zwölften Fall wird ein Fahrraddieb erwischt, mehr als 90 Prozent aller Diebstähle bleiben unaufgeklärt. Wer Anzeige erstattet, erhält in der Regel schon nach wenigen Tagen ein Standardschreiben der Staatsanwaltschaft: Es habe leider kein Täter ermittelt werden können. Die Ermittlungen seien eingestellt.


Und nun dieses Rad, wie ein Hohn auf die Statistik und den Ruf der Saalestadt als Klau-Hochburg. Seit Anfang Juni, also ist mehr als sechs Monaten steht es im Franzosenweg, ein Damenrad, konservatives Modell, tiefer Einstieg, leicht hässliches Dunkelrot, Doppelrahmen, eher belastbar als schick, aber fahrtüchtig, abgesehen von einem Platten am Hinterrad.

Das Fahrrad ist nicht angeschlossen, nicht einmal an sich selbst. Jeder Passant könnte es nehmen und wegschieben - normalerweise werden auch solche Räder gnadenlos aus Kellern gezerrt, von Ständern vor Kneipen oder Freibadzäunen geschnitten. Manchmal dauert es keine fünf Bier und das Rad, mit dem der Gaststättenbesucher gekommen ist, fehlt auf dem Nachhauseweg. Manchmal halten nicht einmal verschlossene Haus- und Kellertüren "organisierte Banden" (Polizei) davon ab, gleich ein Dutzend Räder aus einem Fahrradraum zu schleppen.

Wie ein trotziges Mahnmal gegen das Vorurteil, Halle sei für Fahrradbesitzer eine teure Stadt, steht nun das ehemals edle Winora-Rad da, inzwischen nicht mehr unauffällig gelehnt an eine Hauswand, sondern an die Außenmauer der alten Uni-Klinik, wo Studentinnen und Studenten, aber auch andere Passanten das Angebot gar nicht übersehen können. Dennoch hält es sich, mitten in der Stadt, die nach einer Statistik eines Vergleichsportals bundesweit auf Rang 3 rangiert, wenn es um die Spitzenränge beim Fahrradklau geht.

Eine Erklärung gibt es nicht. Das Wunderfahrrad vom Franzosenweg, es hat den Sommer überstanden, den Herbst und wenn alles gut geht, steht es vielleicht nach dem Winter immer noch da.

Oder nun auch nicht. Dann aber liegt es womöglich nur an diesem Text hier.


Samstag, 8. Dezember 2018

Post­kon­trolle: Wie Behörden im Westen die Post aus der DDR überwachten


Gerade erst wieder rücken die Stasi-Machenschaften beim innerdeutschen Brief- und Postverkehr ins Visier. Systematisch habe die DDR-Stasi Westpakete ausgeraubt, berichtet der letzte DDR-Postminister im MDR-Magazin "Umschau". Die geraubten Waren seien dann unter anderem in der SED-Bonzen-Siedlung Wandlitz verkauft worden. Kontrolliert wurde sowieso alles - allerdings eben nicht nur im Osten, wo die für die Postkontrolle zuständige Stasi-Abteilung M in jeder Hauptpostfiliale saß, geheime Bereich in den Bahnhöfen hatte und rund um die Uhr die Briefe der DDR-Bürger ausspionierte.

Weniger bekannt ist, dass die DDR nicht allein so handelte. Auch die Behörden in der Bundesrepublik nutzten im Kalten Krieg jede Möglichkeit, die Kommunikation ihrer Bürger zu kontrollieren, wie der Freiburger Historiker Josef Foschepoth in seinem Buch Überwachtes Deutschland: Post- und Telefonüberwachung in der alten Bundesrepublik beschreibt. "Die DDR war das am besten überwachte Land in Europa, vielleicht auch weltweit", sagt Josef Foschepoth. Denn nicht nur die DDR-Stasi durchleuchtete die Post auf dem Weg nach dem Westen. Nein, kaum dort angekommen, kümmerten sich auch die Sicherheitsorgane der Bundesrepublik um Pakete, Päckchen und Briefe.

Im ehemaligen Bahnpostamt in Hamburg etwa wurden jahrzehntelang Briefe und Pakete aus der DDR aufgerissen und durchsucht. In einem Raum arbeiteten nach einem Bericht des Fernsehsenders 3Sat drei bis vier Postbeamte und ein Zöllner. Solche Überwachungsstellen habe es "eigentlich in jedem größeren Postamt gegeben", beschreibt Foschepoth. Und das gleich doppelt: Nicht nur die bundesdeutschen Behörden überwachten die deutsch-deutsche Post, sondern nebenan befanden sich weitere Überwachungsräume, in denen Mitarbeiter der Besatzungsmächte nach ihren Regeln kontrollierten.

Große so genannte "Aussonderungsstellen" für verdächtige Sendungen befanden sich in Hamburg, Hannover, Bebra, Bad Hersfeld und Hof. Über diese "zweite Westgrenze" wie es der Forscher nennt, gelangte keine Post aus der DDR unkontrolliert. Schon in den Zügen aus der DDR hätten Postbeamte vorsortiert, es wurden Postkarten gelesen und Sendungen abgetastet.

Rechtliche Grundlagen dafür gab es nicht, wie Foschepoth betont. Kanzler Konrad Adenauer habe den Alliierten diese Vorbehaltsrechte zur Überwachung des Post- und Fernmeldeverkehrs eingeräumt. In den offiziellen Verträgen aber blieb dies unerwähnt.



Samstag, 17. November 2018

AKA Elektrik und Biox Ultra: Warum die DDR Werbung abschaltete


Wer ihn damals jeden Abend sah, kann die Melodie noch heute mitsingen. „Baden mit Badusan, Badusan, Badusan“! Oder auch „AKA Elektrik, in jedem Haus zu Hause“. Viel mehr hatten die sogenannten "Verbrauchertipps" im DDR-Fernsehen nicht zu bieten - aber die beiden Werbespots, die natürlich nicht so heißen durften, haben Ewigkeitscharakter für die Generationen, für die sie die erste Begegnung mit Werbung waren.

In den 60ern hatte die DDR angefangen, mit dem Aufbau des Sozialismus im Land auch Werbung zu machen. Zwischen 1959 und 1976 wurden rund 4 000 Werbesendungen im DDR-Fernsehen ausgestrahlt. Wenig im Vergleich zum Westen, viel aber für einen Staat der Bückwirtschaft, in dem sich begehrte Waren nur über Beziehungen besorgen ließen.

In einer funktionierenden Planwirtschaft hätte planmäßig für nichts Werbung gemacht werden müssen, weil jederzeit planmäßig und bedarfsgerecht produziert worden wäre. Die Praxis allerdings  sah anders aus: "Tausend Tele-Tips", die am Vorabend ausgestrahlte Fernsehwerbesendung,  sollte Schluss machen mit dem Verstecken der "beachtlichen neuen Erzeugnisse des Siebenjahresplanes in einem verhängten Schaufenster", das das SED-Organ Neues Deutschland kritisiert hatte. Während politisch mit Slogans wie "Chemie gibt Brot, Wohlstand und Schönheit" Reklame für den Sozialismus gemacht wurde, sollte Werbung für Küchenmaschinen, Mopeds und Kaffeefilter zeigen, wie modern die DDR ist und wie gut es ihren Bürgern geht.


So kam der Minol-Pirol in die Welt, es gab eine "HO-Frühjahrsmode", Kofferradios vom VEB Stern-Radio Rochlitz und Berlin-Kosmetik, "Biox Ultra - die gute Zahnpasta" und "Esda - der Qualitätsstrumpf" wurden neben dem "Wartburg - ein zuverlässiger Wagen" angepriesen, obwohl der ohnehin nur auf Vorbestellung zu haben war. Laut eigenem Statut wollte das Werbefernsehen "auf Leitbilder orientieren, die dem entwickelten gesellschaftlichen System des Sozialismus entsprechen". Der Schriftsteller Uwe Johnson beobachtete diese Bemühungen von Westberlin aus und schrieb 1964 im Tagesspiegel: "Es werden aber tatsächlich Waren angepriesen, Seifen, Suppen, Sorten, und erstaunlicherweise mit den bekannten Mitteln der Übertreibung und anderer dreister Rhetorik."

Alles wie überall, nur aus heutiger Sicht unbeholfen und daher sympathischer. "Mein Mann und Fewa-flüssig, die beiden sind Gold wert", sagt eine Hausfrau, die mit demselben Spruch und anderem Markennamen auch in der ARD hätte auftreten können.

Die Werber fingen sich damit Kritik ein, zumal sie meist Ladenhüter bewerben mussten, die auch mit Werbung niemand haben wollte. Eier zum Beispiel, die immer beworben wurden, wenn es zu viele gab. 1972 kam dann ein Spot für einen  Geschirrspülautomaten heraus, eine Revolution der DDR-Küchen, die in einer Überflutungswelle endete. Der Spot verschwand. "AKA Elektrik" blieb, die Abkürzung stand für: "Aktiv auf dem Markt - Konzentriert in der Handelstätigkeit - Aktuell im Angebot".

Mitte der Siebzigerjahre war plötzlich Schluss mit „AKA Elektrik, in jedem Haus zu Hause“  und dem  legendären Unterleibswasser "Yvette Intim", das "nach Meinung namhafter Frauenärzte" eigentlich auch "jeder Mann" verwenden sollte. Die Werbesendung „TTT“ endete kommentarlos, indem sie aus dem Programm flog.  Zuvor hatten die Minister der DR-Regierung ganz demokratisch beschlossen, dass Werbung Quatsch sei, weil ohnehin nichts Neues mehr auf den Markt kam.

Erst Mitte der 70er-Jahre bemerkten die zuständigen Entscheidungsträger, dass da kaum noch etwas zu bewerben war und beendeten den 17-jährigen Feldversuch. Da half es auch nicht, dass wenigstens ein 1965 produzierter Spot dem Ideal der sozialistischen Fernsehwerbung schon recht nahe gekommen war. Mann und Frau sitzen am gedeckten Tisch: "Weißwein ist so recht das Getränk unserer Zeit. Für unseren Optimismus. Weißwein für glückliche Menschen, die sich gemeinsam über Vollbrachtes freuen."

Sonntag, 21. Oktober 2018

Breshnew, Che und Honecker: Die Rolex-Revolutionäre


Gerade steckt die Berliner SPD-Politikerin Sawsa Chebli in einem veritablen Shitstorm von rechts, weil sie eine Rolex Datejust für 7000 Euro trägt. Dabei hat das bei linken Politikern eine lange Tradition. Am Arm trugen Erich Honecker und Leonid Breshnew, Mao und Fidel Castro am liebsten aus gerechnet diese sehr kapitalistische Uhr.


Nikita Chruschtschow scherte ein wenig aus. Der Mann, der Stalin als Führer der Sowjetunion nachfolgte, entschied sich für den rechten Arm, um seine Uhr zu tragen, weil er glaubte, dass Armbanduhren die Zirkulation des Blutkreislaufs stören. Eine Abweichung von der sozialistischen Norm, die prominenten Führern der Linken den linken Arm für die Uhr vorzuschreiben schien. Und noch eine. Chrutschschow bevorzugte eine Uhr aus sowjetischer Produktion. Viele andere seiner kommunistischen Führungskollegen dagegen setzen auf Produkte einer ganz besonderen und sehr kapitalistischen Firma.

Die Liebe zum Luxus  


Fidel Castro und Che Guevara, Erich Honecker und Leonid Breshnew, sie alle trugen ihre Uhr links, als hätten sie das so miteinander verabredet. Und noch erstaunlicher: Genau wie der rumänische Machthaber Nicolae Ceausescu, der chinesische Revolutionsführer Mao Zedung und sein libyscher Kollege Muhammar Gaddafi entschieden sie sich für Uhren der 1905 vom Kulmbacher Uhrmacher Hans Wilsdorf in Genf gegründeten Edel-Uhrenschmiede Rolex.

Genosse Rolex. Ein größerer Widerspruch zwischen behauptetem Anspruch und Wirklichkeit ist kaum denkbar. Rolex-Uhren gelten bis heute als Statussymbole ohne jedes Understatement: Modelle wie die von Che Guevara anfangs bevorzugten Modelle sind klobig und sie glänzen golden oder silbern, eine drehbare Lünette strahlt zweifarbig und statt auf Lederarmbänder setzt der größte Luxusuhrenhersteller der Welt auf dicke Kettengliederbänder. Rolex steht nicht für Eleganz und Feingeist, sondern für Protz und Prahlerei. Technisch sind die Uhren aus der Schweiz zuverlässig. Geschmacklich aber ein Fall für Rüpel-Rapper, neureiche Sportler und überbezahlte Schauspieler.

Unter 4 500 Euro ist heute keine Rolex-Uhr zu haben, doch auch in der Zeit des Kalten Krieges waren die Schweizer Edeluhren nicht billiger. Fidel Castro trug dennoch gleich zwei - eine Rolex Day-Date, eingestellt auf Kuba-Zeit. Und eine Submariner, eingestellt auf Moskauer Zeit. Die behielt Castro auch um, als er Chruschtschow 1963 in Moskau besuchte. Bilder zeigen den Kubaner an einem Tisch im Kreml sitzend, Chruschtschow gegenüber. Castro hat eine Zigarre im Mund und zwei Rolex am Handgelenk.

Die Liebesaffäre des Revolutionärs mit Rolex hatte wohl schon vor der Revolution begonnen. Als seine Kämpfer dann Havanna einnahmen, ließ der Maximo Lider alle Uhren im kubanischen Rolex-Hauptquartier requirieren. Später beschenkte er Mitkämpfer mit der Beute: Che bekam erst eine Omega Seamaster geschenkt - Wert etwa 10 000 Euro. Später kam eine Rolex GMT Master dazu, heute 25 000 Euro wert.

War es die Geschichte von Rolex, die untrennbar mit dem Pioniergeist des Firmengründers Hans Wilsdorf, dei Guevara faszinierte? 1905, im Alter von 24 Jahren, hatte der in London ein Unternehmen gegründet, das auf den Vertrieb von hochwertigen Uhren spezialisiert war. Wilsdorf aber träumte von einer Uhr, die am Handgelenk getragen werden kann. Die gab es damals, aber sie waren nie genau, dafür aber äußerst empfindlich. Wildorf entwarf dann ein Modell, dasdurch Eleganz und Genauigkeit bestechen sollte. Um die Zuverlässigkeit seiner Armbanduhren unter Beweis zu stellen, rüstete er sie mit kleinen, höchst präzisen Uhrwerken aus, die von einer Schweizer Uhrenmanufaktur in Biel hergestellt wurden. Ein Erfolg, der 1920 dazu führte, dass Rolex seinen Sitz in die Schweiz verlegte.

Rolex-Mania im Ostblock  


Es ist nicht bekannt, ob es Castro war, der die Rolex-Manie in den Ostblock brachte und ob ihn dabei der Gedanke bewegte, dass die Uhren der Marke aus einem neutralen Land kamen.  Vielleicht aber faszinierte den gebürtigen Argentinier auch der Gedanke, dieselbe Uhr zun tragen wie  Albert Einstein, Audrey Hepburn und Charlton Heston, denn Che Guevara verstand sich nicht nur als Revolutionär, sondern als Fackelträger der Weltrevolution. Als er nach Jahren als Geburtshelfer des Aufbaus in Kuba als Anführer seiner eigenen Rebellion der Entrechteten nach Bolivien ging, tat er das ausdrücklich in der Erwartung, dass die Massen sich auf sein Signal hin erheben werden, um den Kapitalismus auf seinem Heimatkontinent hinwegzufegen.

Die Rolex-Sammlung war immer dabei, auch bei Fidel Castro, dem Maximo Lider Kubas, der auch in sachen Rolex richtig dick auftrug. Castro trug nicht eine, sondern gleich zwei Modelle der Genfer Firma, beide am linken Arm. Der Legende nach soll eine Day-Date die Zeit in Havanna, eine Submariner die in Moskau angezeigt haben.

Klar aber ist: Unter den offiziell anspruchlos lebenden Führern der sozialistischen Welt galten teure Uhren stets als lässliche Sünde. Lenin brachte sich aus dem Exil einen Chronometer der Manufaktur Moser mit. Sein Nachfolger Stalin besaß eine Sammlung aus Taschenuhren von Tissot und Cartier. Und Chinas Führer Mao Zedung ließ in die Datumsanzeige seiner Date Just chinesische Zahlen schreiben, um immer up to date zu sein.

In der Führungsetage des sozialistischen Weltreiches war keine andere edle Uhrenmarke so verbreitet wie Rolex. Leonid Breschnew liebte nicht nur schnelle Autos und Ray-Ban-Sonnenbrillen aus den USA, er machte auch die gelbgoldene Rolex Datejust - ein Modell, wie es jetzt Sawsan Chebli trägt - zum Standard für Revolutionäre. Erich Honecker hatte bald eine Uhr vom selben Modell. Als er Breschnew 1979 zur Feier des 30. Jahrestages der DDR empfing, umarmten sich zwei Markenbotschafter: Sowohl Honecker als auch Breschnew trugen eine Rolex Datejust in Gold. 

Saddam Hussein, der Machthaber im Irak, bevorzugte dagegen eine Rolex Day-Date im Wert von 100.000 britischen Pfund, die er nach einer Erzählung seines Protokollchefs eines Tages bei einer Geliebten liegenließ. Als sie ihm sein Mitarbeiter hinterhertrug, zeigte der enigmatische Herrscher, dass es ihm nicht auf persönlichen Besitz ankam. Er schenkte dem treuen Gefolgsmann das Fundstück.

DDR-Staatschef Erich Honecker, der in der Politbürosiedlung Wandlitz in einem vom Staat zur Verfügung gestellten Haus wohnte, das ihm möbliert zur Verfügung gestellt und über fast 30 Jahre nie mit neuen Möbeln ausgestattet wurde, achtete stets darauf, nicht mit derteuren Uhr am Handgelenk fotografiert zu werden. Honecker war sich durchaus bewusst, dass es ein schlechtes Licht auf ihn und seine Herrschaft werfen würde, bekämen die Untertaten mit, dass er Wasser predigt und Wein trinkt. 

Wasser und Wein


Auch seine Yacht mied er, obgleich sie einst der Stolz der DDR-Führung hatte sein sollen. Die "Ostseeland" arn eigens für die DDR-Staatsspitze auf der Peene-Werft in Wolgast umgebaut worden - aus einem Minenräumschiff wurde für 15 Millionen DDR-Mark ein Kreuzfahrtschiff. Erich Honecker aber nutzte die Yacht nur selten - nicht nur, weil es ihm peinlich war, sondern auch, weil er unter Seekrankheit litt.

Allenfalls, wenn es Staatsgästen zu imponieren galt, wie dem rumänischen Diktator Nicolae Ceaucescu oder dem kubanischen Staatsführer Fidel Castro, begab er sich an Bord. Unter zweifelhaften Bedingungen: Das Schiff war nicht nur mit gepanzerten Bullaugen und Luftfiltern gegen chemische Attacken ausgerüstet - jede der 16 Kabinen, außer der Honeckers, konnte abgehört werden. 

Als sie Jahre nach dem Ende der DDR versteigert wurde, zwischendurch war die Yacht in den Besitz einer Reederei mit Sitz auf Malta gelangt, später dann lag sie in den Niederlanden gesichtet, anschließend auf einer schwedischen Werft und schließlich in Dänemark, befand sich das Schiff immer noch im Originalzustand. Die Einrichtung entsprach dem Standard, den die DDR-Führung für luxuriös hielt - kleinbürgerlicher Schick, kombiniert mit der technischen Ausstattung der 70er Jahre, als die DDR kurzzeitig glaubte, ein weltweit führender Industriestaat werden zu können.

Passende Zeitmesser


Die edlen Zeitmesser von Rolex passen zu diesem Anspruch, aber sie passten eben nie zu den nach außen bescheiden lebenden Staatsführer,n der kommunistischen Staaten. Allerdings bekamen sowohl Honekcer als auch Breschnew ihre Rolex-Uhren offenbar von Staatsgästen geschenkt, die um seine Vorliebe für westliche Statussymbole wussten. Honecker konnte später dank der Geschäftstüchtigkeit seines Devisenbeschaffers Alexander Schalck-Golodkowski zukaufen. Und ab 1987 gab es sogar in einem DDR-Rolex-Shop Uhren zu erstehen, die vom Hersteller sogar mit dem von Rolex für die DDR vergebenen Ländercode 301 graviert worden waren.

In einem eigenen Laden neben der Rezeption des Grand Hotels in der Berliner Friedrichstraße wurden in der Endzeit der DDR von einem Rolex-Verkaufsagenten im staatlichen Auftrag Rolex-Uhren an Gäste aus dem Westen verkauft. Alle bekamen in die offiziellen Begleitpapiere einen Stempel des Grand Hotels, wie der Uhren-Blogger Walter Castillo herausgefunden hat.

Neben der Rolex Datejust in Stahl-Gold-Ausführung mit Jubileeband war auch ein massives Goldmodell im Angebot, das wohl im Dezember 1989 einen letzten Käufer fand. Danach löste sich das Schalck-Imperium Kommerzielle Koordinierung auf und der Rolex-Laden verschwand mit der Republik, die sich von ihm Rettung aus ihren finanziellen Engpässen versprochen hatte.

Nicht der einzige Liebhaber  


Der einzige Rolex-Träger der DDR war Erich Honecker allerdings nicht. Manfred Buder, Kapitän des DDR-Eishockey-Nationalteams, hatte 1961 bei der Eishockey-WM 1961 in Genf eine Rolex Oyster mit der Registriernummer D64656 als Präsent erhalten, eingepackt in eine Schatulle, die dem Genfer Eishockeystation nachgebildet war. Vor zweieinhalb Jahren landete das kaum getragene Einzelstück bei einem Auktionshaus, das es für 4 000 Euro an den Mann brachte.

Wo Erich Honeckers Rolex geblieben ist, ist hingegen ebenso unklar wie der Verbleib von Castros und Breshnews Edeluhren-Sammlung. Che Guevara soll zumindest eine seiner Rolex getragen haben, als er am 9. Oktober 1967 um 13.10 Uhr im bolivianischen Dschungel hingerichtet wurde. 

Von da an verliert sich die Spur dieser Revolutionsuhr, nicht aber die Spur von Rolex in der Geschichte der Diktatoren, Alleinherrscher und Revolutionäre: Heute trägt der nordkoreanische Machthaber Kim Jong-un eine Rolex, der chinesische staats- und Parteichef Xi schwört auf die Schweizer Uhr und auch IS-Chef Abu Bakr al-Baghdad zeigte sich auf Fotos schon mit Rolex. 

Am rechten Arm, denn so schreibt es der Koran vor.


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Freitag, 21. September 2018

Dean Reed: Genosse Cowboy und der rätselhafte Tod


Als Dean Reed vor 32 Jahren starb, war er fast vergessen. Sein Tod hat seitdem für Spekulationen gesorgt - obwohl der Sänger, der heute 80 Jahre alt werden würde,  freiwillig aus dem Leben geschieden war. Er hatte die Ranch in Texas gegen ein Seegrundstück nahe Berlin getauscht, den Erfolg in den amerikanischen Billboard-Charts gegen Auftritte in der FDJ-Sendung "rund", den Jubel des Madison-Square-Garden gegen den Applaus der Menschen im Arbeiterklubhaus Bitterfeld.

Dean Reed, dessen Leiche ein aufmerksamer Wasserschutzpolizist am 17. Juni 1986 am Schilfgürtel in der Nähe des Badestrandes südlich des Zeltplatzes Nummer 2 am Zeuthener See entdeckte, ließ Zeit seines Lebens keinen Zweifel daran, auf welcher Seite er stehen wollte. Der Sohn eines Mathelehrers, aufgewachsen auf einer Hühnerfarm in Weath Ridge unweit von Denver/Colorado, sah sich als Sänger des besseren, des moralisch sauberen Amerika. Reed war an der Seite der "fortschrittlichen Menschen" unterwegs, die Welt zu einem besseren Ort zu machen. Sein seltsames Schicksal nahm 1971 seinen Anfang, als der attraktive US-Schauspieler Ehrengast beim Dokumentarfilmfest in Leipzig war - und sich dort für die junge Wiebke erwärmt. Es muss Liebe auf den ersten Blick gewesen sein, denn schon ein Jahr später heiratet das Paar.

Für den aus Colorado stammenden Sänger, Schauspieler, Friedenskämpfer, Rebell und Frauenschwarm  ändert sich damit das ganze Leben. Dean Reed lebt ab 1972 "als singender Cowboy der DDR" im Arbeiter- und Bauernstaat. Hier wird er viele Jahre später auch sterben - und sein mutmaßlicher Freitod im Jahr 1986 wird noch viel länger geheimnisvolle Gerüchte nähren, die Staatssicherheit habe den Star ermordet.

Dabei war Dean Cyril Reed, mit zehn Jahren auf Wunsch des Vaters an einer Kadettenakademie eingeschrieben, überhaupt nur zufällig Popstar geworden. Als er nach dem Abschluss an der Highschool quer durch die USA fuhr, vermittelte ihm ein Tramper, den er mitgenommen hatte, den Kontakt zum 

Er hatte die Ranch in Texas gegen ein Seegrundstück nahe Berlin getauscht, den Erfolg in den amerikanischen Billboard-Charts gegen Auftritte in der FDJ-Sendung "rund", den Jubel des Madison-Square-Garden gegen den Applaus der Menschen im Arbeiterklubhaus Bitterfeld. Bei den Weltfestspielen in der DDR fühlt er sich geliebt wie daheim in den USA, als alles begann. 

Reed, dessen Leiche ein aufmerksamer Wasserschutzpolizist am 17. Juni 1986 am Schilfgürtel in der Nähe des Badestrandes südlich des Zeltplatzes Nummer 2 am Zeuthener See entdeckt, ließ Zeit seines Lebens keinen Zweifel daran, auf welcher Seite er stehen wollte. Der Sohn eines Mathelehrers, aufgewachsen auf einer Hühnerfarm in Weath Ridge unweit von Denver im US-Bundestaat Colorado, sah sich als Sänger des besseren, des moralisch sauberen Amerika. Reed war an der Seite der "fortschrittlichen Menschen" unterwegs, die Welt zu einem besseren Ort zu machen. Er war kein Kommunist, aber als Sozialist hätte man ihn in den USA durchaus einordnen können.

Vor allem in Südamerika lieben die Menschen den "Magnificent Gringo", der jedem offen entgegentritt, nicht belehrt, sondern sich lieber belehren lässt. Reed hört zu, er zeigt sich als empathischer Mensch, der an Ungerechtigkeiten leidet, für die sein Heimatland aus seiner Sicht die Verantwortung trägt. Vor aller Augen wird aus dem naiven Country-Sänger ein politisch denkender Künstler, der seinen eigenen Kopf hat. In Peru schreibt Dean Reed seiner Regierung einen Brief, in dem er gegen amerikanische Kernwaffentest protestiert, er freundet sich mit linken Gewerkschaftern an und fährt als Delegierter zum Weltfriedenskongress nach Helsinki.

Der Sänger des anderen Amerika

Danach ist das Leben des jungen Stars
 nicht mehr dasselbe. Er besucht die Sowjetunion und darf dort sogar auf Tournee gehen. Während die Fans in den USA ihn vergessen haben, liegen sie ihm zwischen Moskau und Perm zu Füßen. Reed ist im Osten Ersatz für Beatles und Stones. Schließlich verschlägt es ihn in die DDR, wo er einen Film über Chile vorstellt und sich Hals über Kopf in Wiebke verliebt. 

Es ist der letzte Wendepunkt im Leben des Genossen Cowboy, der in den 13 Jahren bis zu seinem rätselhaften Freitod für die einen zum roten Elvis und für die anderen zum roten Tuch wird. Den DDR-Mächtigen gilt der Seitenwechsler als Glücksfall. Der Amerikaner ist für die DDR ein Propagandacoup. Er 
wird direkt von der Abteilung Agitation des SED-Zentralkomitees betreut und lebt in der DDR ein Leben, das mit der DDR nicht viel zu tun hat. Reed gehört zu den oberen Zehntausend im Arbeiter- und Bauernstaat. Er genießt zahlreiche Privilegien, er kann reisen, er hat Zugang zu raren Waren, an denen es sonst überall mangelt in der Mangelwirtschaft des Sozialismus, der sich selbst als gerechte, klassenlose Gesellschaft lobt.

Der Paradiesvogel im grauen DDR-Kulturbetrieb dreht Filme und spielt Platten ein, besucht Kubas Revolutionsführer Fidel Castro und Palästinenserchef Jassir Arafat. Er dreht das große Rad im kleinen Staat und avanciert nach Ansicht des "People's Magazine" zum "größten Star der Popmusik von Berliner Mauer bis Sibirien". Der Sunny-Boy sonnt sich in seinem Ruf und prominente Revolutionäre suchen seine Nähe. Er bekundet, dass er "im Chile der Unidad Popular eine zweite Heimat gefunden" habe. "Und dieses wunderschöne Land mit seinen wunderbaren Menschen ist mir auch heute noch Heimat. Denn die Zeit der faschistischen Herrschaft über Chile wird vor der Geschichte nur eine Episode bleiben. Aber jedes Gespräch, das ich dort hatte, jeder Händedruck, den ich getauscht habe, jedes Lächeln, das mir zuteil geworden ist - all das ist mir unvergesslich geblieben", schwärmt er.  

Seitenwechsler als Symbol


Bald ist der Seitenwechsler mit dem chilenischen Präsidenten Salvador Allende und mit Palästinenserführer Jassir Arafat befreundet, er protestierte gegen die US-Regierung, gegen Diktaturen und den Vietnamkrieg, verbindet das aber mit Exotik des Countrymusim singenden Amerikaners im DDR-Fernsehen und Star in Defa-Filmen, in denen er etwa im Indianerfilm "Blustbrüder" einen desillusionierten US-Soldaten spielt, der sich nach einem Massaker der US-Kavallerie an einem unschuldigen indigenen Stamm die Barthaare einzeln herausreißt, um wie sein Freund, ein Stammeshäuptling, Indianer zu werden.

Der junge Amerikaner, erstmals aufgefallen, als es ihm gelingt, ein 110-Meilen-Rennen gegen ein Maultier zu gewinnen, weshalb er Probeaufnahmen machen darf, die ihm auf einen Schlag einen lukrativen Sieben-Jahres-Vertrag einbringen, ist wieder ein Star, aber kein kleiner mehr wie daheim, sondern ein großer.

Das wollte  er von Anfang an und anfangs ließ es sc auch gut an. Mit Songs wie "Summer Romance" entert er die US-Hitparaden, bald hagelt es Filmangebote und Touranfragen aus dem Ausland. Dean Reed, von Fans umschwärmt und von den Frauen vergöttert, schwebt durch die frühen Jahre seiner Karriere: Das Leben ist ein Traum, die Welt viel größer, als es von Wheat Ridge aus den Anschein hatte.

Am Ende großer Tage


Doch dann neigen die großen Tage sich dem Ende zu. Zwar findet Dean Reed nach der Trennung von seiner ersten DDR-Frau in der Schauspielerin Renate Blume schnell eine neue große Liebe. Mit der Sommerkino-Klamotte "Sing, Cowboy, Sing" gelingt ihm sogar ein echter Kassenknaller. Der Exotenbonus aber, den der Kommunist mit US-Pass in den 70ern noch genoss, hat sich verbraucht. In den 80ern ist Reed für viele DDR-Bürger nur ein staatsnaher Stetson-Träger, der keine Ahnung vom wirklichen Leben in seiner Wahlheimat hat. Sein Protest gegen die US-Regierung, gegen Diktaturen und den Vietnamkrieg, das Foto mit der Gitarre in der einen und einer Kalaschnikow in der anderen Hand, sie gelten den normalen DDR-Bürgern als Zeichen nicht für Rebellentum, sondern für Opportunismus.

Privat ist Dean Reed auch nicht immer fein. Er hat Geliebte neben seinen Ehefrauen, beim ihnen genießt er die Reste seines Ruhmes.  So lange es ihm selbst gefällt. Als eine von ihnen ihm lästig wird, wirft er aus dem Haus. Die Frau versteht  die Welt nicht mehr, wie sie im Film "Der rote Elvis" erzählt : "Ich dachte, ich spinne - der große Kämpfer für Frieden und Gerechtigkeit in aller Welt schmeißt eine Frau einfach so aus dem Haus."

Er versteht es doch


Der Amerikaner versteht das alles nicht. Und er versteht es doch.  Denn er merkt zunehmend, dass auch in der DDR einiges im Argen liegt. So faucht er 1982 Volkspolizisten laut Protokoll der Beamten an, als sie ihn wegen einer Geschwindigkeitsübertretung anhalten: "Die Staatslimousinen, die mich gerade mit 160 km/h überholt haben, schreibt ihr nicht auf. Das ist ja wie ein faschistischer Staat hier. Ich habe das langsam wie die meisten der 17 Millionen in diesem Land bis hierher satt!"

Fast klingt er da wieder wie der junge Mann, der, am 1. September 1970 vor dem Konsulat der USA in der chilenischen Hauptstadt Santiago die amerikanishe Flagge wäscht. Eine Symbolhandlung, die Reed so begründet: "Die Flagge der USA ist befleckt mit dem Blut von Tausenden vietnamesischer Frauen und Kinder, die bei lebendigem Leibe von dem Napalm verbrannt worden sind, das von amerikanischen Aggressionsflugzeugen aus dem einzigen Grund abgeworfen worden ist, weil das vietnamesische Volk in Frieden und Freiheit, in Unabhängigkeit und mit dem Recht auf Selbstbestimmung zu leben wünscht." Auch sei die Flagge der USA "befleckt mit dem Blut der Schwarzen Bürger der Vereinigten Staaten, die von einer Polizei des Völkermords aus dem einzigen Grund in ihren Betten ermordet worden sind, weil sie in Würde und mit den vollen Bürgerrechten eines Bürgers der Vereinigten Staaten zu leben wünschen."

Der Flaggenwäscher


Die Flagge der USA, gewaschen vor den "Völkern der Welt", das gefällt Dean Reed , der "Blut und Qual von Millionen Menschen in vielen Ländern Südamerikas, Afrikas und Asiens, die gezwungen sind, in Elend und Ungerechtigkeit zu leben, weil die Regierung der Vereinigten Staaten die Diktaturen unterstützt" als seine eigene Verantwortung wahrnimmt. 

Die Liebe der Menschen in der DDR ist flüchtig, Und als sie fort ist, gewinnt er sie nicht zurück. Reeds Platten liegen wie Blei in den Läden. Neue Filmprojekte werden ihm zwar noch angeboten, aber nicht mehr verwirklicht. Dem Mann, der seiner Umwelt ganz amerikanisch stets beweisen wollte, dass er der Beste ist, tut das weh. Dean Reed beginnt zu trinken. Parallel streckt er seine Fühler zu alten Freunden nach Amerika aus, um vorzufühlen, wie es denn wäre, wenn er zurückkäme.

Anfang Juni 1986 erleidet er einen Herzanfall. Kurze Zeit darauf droht er nach einem Streit mit seiner Frau, sich umbringen zu wollen. An einem Tag im Juni 1986 verschwindet er plötzlich. Seine Witwe erinnert sich: Es ist ein Donnerstag, dieser 11. Juni, als Reed sich abends ins Auto setzt, angeblich um nach Babelsberg zu fahren. "Er packte seine Tasche und sagte, er gehe zu den Menschen, die ihn lieben. Dabei gab er jedoch kein konkretes Reiseziel an", berichtigte seine Frau später.  

Nie irgendwo angekommen


Wohin auch immer, nirgendwo ist Dean Reed je angekommen. Am Ufer des Zeuthener Sees bei Berlin wird Dean Reed wenige Tage später tot gefunden, in seinem Lada findet die Polizei erst vier Tage darauf einen 15-seitigen Abschiedsbrief: "Mein Tod hat nichts mit Politik zu tun", schreibt Reed darin, "aber ich kann keinen Weg finden aus meinen Problemen." Dennoch verschwindet das 15-seitige Schrfeiben bis zum Ende der DDR in den Stasi-Akten. 

Aber der Tod war ein Politikum allerersten Ranges. Honecker persönlich, den Reed im Brief ausdrücklich grüßt, gab die Parole vom Unglücksfall aus. Im Westen tauchte die Vermutung auf, die Stasi könnte den Künstler beseitigt haben, weil er plante, in die USA zurückzukehren. Bis heute halten sich Mutmaßungen, der Abschiedsbrief könne von der Stasi selbst verfasst worden sein. 

Reeds Urne wurde erst 1991 in die USA überführt.

Donnerstag, 23. August 2018

Gerhard Gundermann: Der tiefe Fall von "Grigori"

Er wollte damals nichts mehr sagen. Gar nichts. Er wollte auch nicht, dass noch etwas geschrieben wird. "Lasst mich doch in Ruhe", meckerte Gerhard Gundermann damals, 1995,, "ich hab' genug am Hals wegen dieser Kiste." Die Kiste, das ist Gundermanns Vergangenheit. Mit elf Jahren Verspätung kehrte sie zurück: "Gundi", der singende Baggerfahrer, der in den neuen Bundesländern als eine Art Sprachrohr ostdeutschen Selbstbewußtseins galt, war zwischen 1976 und 1984 nicht nur Texter und Komponist für den FDJ-Singeklub "Brigade Feuerstein" gewesen. Sondern nebenbei auch noch der "IM Grigori" der Staatssicherheit.

Als Grigori gab Gundermann Briefe von Freunden ans MfS weiter. Er meldete Singeklub-Kollegen, die sich von einer Westtournee Funkgeräte mitbrachten. Und er teilte dem "Organ" alles mit, was er über die intimen Kontakte einer Bekannten zu einem französischen Bauarbeiter wusste. Gundermann war ein guter Spitzel. Der IM sei "ehrlich und zuverlässig", lobte sein Führungsoffizier, seine Berichte wurden als "umfassend und objektiv" geschätzt. Das MfS belobigt den "Kämpfer Grigori" mit der "Arthur-Becker-Medaille" und einer Obstschale, wie in Andreas Dresens neuem Film "Gundermann" zu sehen ist..

Alles wie immer


Und nun steht er da: Im blauweiß gestreiften Fleischerhemd wie immer, die Augen hinter der großen Goldrandbrille versteckt wie immer, und alle paar Minuten mit der Nase schniefend. Wie immer.

Nur die Leute beobachteten ihn seitdem reservierter, schien ihm. Aber das könne Einbildung sein. Viele wüssten es ja noch gar nicht. Denen sagte er es dann selber: "Ich habe mit dem MfS geredet", schnüffelte Gerhard Gundermann im Konzert gleich nach dem ersten Lied ins Mikrophon, "und dazu stehe ich." Jetzt, wo die Akte nun mal "raus" sei, wie Gundermann es nennt, wolle er "offensiv damit umgehen". Die Fans hier in Berlin, wo Gundermann den ersten Auftritt nach der "Kiste" hatte, klatschten solidarisch.

Die Karriere des Sängers aber, der hauptberuflich nach wie vor als Förderbrückenführer in einem Tagebau bei Cottbus arbeitet und in Ostdeutschland nicht zuletzt dieser Tatsache wegen als moralische Institution galt, war zu Ende. Alle Türen, die dem Vierzigjährigen gerade noch weit offenzustehen schienen, waren plötzlich zugeschlagen. Die große Plattenfirma, bei der Gundermann einen lukrativen Vertrag hatte unterschreiben sollen, zog ihr Angebot zurück als brenne es lichterloh.

Alle ziehen sich zurück


Aus einem neuen Verlagsdeal wurde auch nichts. Und Radio Brandenburg, bis dahin so etwas wie Gundis Haussender, richtete ihn genüsslich hin. Sie spielten das Stück "Ich mache meinen Frieden", denn da singt Gundermann: "Wer mich angeschissen hat / will ich nicht mehr wissen." Und  dann "Sieglinde", die Nummer, in der Gundermann einer verräterischen Freundin zu flotten Rockrhythmen verzeiht: "Sie sagen / Du hast mich belauscht / doch außer Dir hat mir nie einer zugehört / und schneller als das Wasser rauscht / hab' ich dir meine paar Geheimnisse diktiert". Dazu zwei, drei Zitate aus der Akte - das gab einen schönen Widerspruch zwischen Poesie und Petzbericht.

Auch Vivi Eikelberg, Chefin des Berliner Managementbüros Eikelberg's, das damals unter anderem Heinz Rudolf Kunze und Hermann van Veen vertrat, konnte für Gundermann nichts mehr tun. "Nach dieser Sache hat Gerhard keine Zukunft mehr im Westen", bedauert die Managerin, die mit dem "hochtalentierten Texter und Komponisten" eigentlich schon handelseinig war. Das mit der Stasi, das hatte Gundermann ihr gleich gesagt. "Aber mehr so nebenbei", erinnert sich Vivi Eikelberg. Es sei auch alles ganz harmlos gewesen.

Inzwischen hat auch die Managerin die Akte "Grigori" gelesen und hat ihre Meinung ändern müssen: "Er hat ja doch Sachen getan, die man kaum entschuldigen kann." Nun ja. Zum Glück war der Vertrag noch nicht unterschrieben, die Platte noch nicht produziert. Anderenfalls, Vivi Eikelberg kennt das Geschäft, wäre es schlimmer gekommen: "Wir machen eine Platte, gehen auf Promoreise, und pünktlich packt irgendwer die Akte auf den Tisch."


Hätte ja geredet


Ein späterer Zeitpunkt wäre noch schlimmer gewesen, dachte auch Klaus Koch. Koch ist Inhaber von Gundermanns Plattenfirma Buschfunk. "Er hätte nicht so lange schweigen dürfen", meint der Produzent. Wenn der Gundi gleich in die Offensive gegangen wäre? Vielleicht hätte das was geändert? Gelegenheiten gab es. Neulich zum Beispiel, als er diesen Auftritt beim ZDF-Talk zum Thema "Stasi-Akten - Deckel drauf?" hatte. Gundi musste bloß singen. Geredet hat er nicht.

Warum auch? "Wenn mich einer gefragt hat", sagt Gundermann, "habe ich's ja immer zugegeben." Im übrigen hat Gerhard Gundermann beim Stichwort "Stasi" stets zuerst an seine Opfergeschichte gedacht. Sechs Jahre unterm Brennglas. Parteiausschluss, Auftrittsverbot, Westreisesperre.

Das abgehörte Telefon. Erst später ist ihm eingefallen, dass da noch was war. Muss etwa zu der Zeit gewesen sein, als die Rundfunkmoderatoren Bertram und Kuttner in dicken Schlagzeilen als "Inoffizielle" geoutet wurden. "Ab dem Moment war der Gundi kein Mensch mehr", erinnert sich seine Frau Conny. "Du musst vor die Leute gehen, du musst das erklären", redete sie ihrem Mann zu. Doch da war der versprochene Verlagsvertrag, der große Plattendeal und die nächste Tour. Und überhaupt. Was erklären? Und wie? "Hätte ich etwa zwischen zwei Stücken sagen sollen: Ich war auch dabei - und nun machen wir mal wieder Musik?"


Akte komplett abgetippt


Mittlerweile hat Gundermann seine Akte Wort für Wort in seinen Computer getippt, "um das mal im Zusammenhang lesen zu können". Er hat nun doch seine Opferakte beantragt, in der Hoffnung, man könne "damit alles ein bisschen relativieren". Die Gauck-Behörde hat ihn bisher bloß vertröstet. Ein, zwei Jahre könne das schon dauern mit der Akteneinsicht. Ein, zwei Jahre, schätzt Vivi Eikelberg vom Managementbüro, werde es wohl auch dauern, bis "ein bißchen Gras drübergewachsen ist" und man es noch mal versuchen könne. Wenn überhaupt.

Bis dahin klappert Gundermann seine "Opfer" ab. Einer hat ihn zwar bei sich zu Hause empfangen, aber dann einfach nicht mit ihm geredet. Ein anderer gestand, die letzten Jahre immer Angst gehabt zu haben, Gundermann könne seinen Namen in seiner Opferakte finden.

Der dritte, vor siebzehn Jahren von seinem Singeklub-Kollegen Grigori bezichtigt, illegal Funkgeräte in die DDR geschmuggelt zu haben, hat bloß gelacht. Der Mann managt heute die Gruppe Keimzeit, Gundermanns Ostrock-Kollegen.

Die Funkgeräte, ist ihm jetzt eingefallen, hat er immer noch. Die haben nie richtig funktioniert.

Gundermann im Maulbeerbaum


Sonntag, 5. August 2018

DDR-Geschichte: Honeckers vergessener Aufstand gegen Moskau



An den 16. April 1983 erinnert sich Egon Krenz noch ganz genau. Damals wird der Chef der DDR-Jugendorganisation FDJ aus dem "Großen Haus" angerufen, wie die FDJ-Funktionäre unter sich den Sitz des SED-Zentralkomitees nennen. Am Apparat: Erich Honecker, höflich wie immer, weiß Krenz heute noch. "Komm doch bitte gleich mal rüber", habe der Generalsekretär und Staatschef gesagt.

Anfang eines geheimen Aufstandes


Es ist der Anfang eines Aufstandes, der bis heute geheim geblieben ist. Krenz, damals mit Mitte 40 der jüngste Großfunktionär der DDR und damit automatisch hochgehandelt für die Nachfolge des 25 Jahre älteren Staats- und Parteichefs Honecker, glaubt zuerst an ein Personalgespräch. Wird aber in den folgenden Stunden zum eigenen Erstaunen Honeckers geheimer China-Botschafter.

Eine Mission in den Haarrissen der Blockpolitik, wie Krenz in seinem Buch "China - wie ich es sehe" (Edition Ost, 160 Seiten 12,99 Euro)  beschreibt. Seit sich die Sowjetunion und China nach Stalins Tod überworfen haben, weil dessen Nachfolger Nikita Chruschtschow und Chinas Parteiführer Mao Zedong im Streit um die Führung der kommunistischen Weltbewegung immer härter aneinandergerieten, hält auch die DDR strikte Distanz zum Regime in Peking, obwohl das die DDR als einer der ersten Staaten anerkannt hatte. Dankbar kein aber gibt es nicht in der Weltpolitik.

Denn der große Bruder in Moskau erzwingt Gefolgschaft, China ist weit weg, der russische Rock näher als die chinesische Hose. So kommt es 1963 bei einem SED-Parteitag während der Rede des als Gast geladenen Chinesen Wu Xiuquan zu demonstrativen Tumulten. SED-Delegierte versuchen, den Gast mit Lärm und Getöse zu zwingen, seine als sowjetfeindlich begriffene Rede zu beenden. Wu antwortet danach kalt: Er habe nun ja die "Zivilisation" der deutschen Genossen kennengelernt.


Neuanfang ohne Moskau


20 Jahre danach ist Mao, der Massenmörder und selbsternannte Prophet des großen Sprungs zum Kommunismus, tot. Und Erich Honecker unzufrieden damit, dass die sowjetische Führung dennoch nie versucht hat, so Krenz, "eine große sozialistische Gemeinschaft vom chinesischen Meer im Osten bis an die Elbe und Werra im Westen zu bilden". der DDR-Staats- und Parteichef sieht in genau so einer Allianz eine Möglichkeit - vielleicht die letzte - den schwindenden Einfluss der selbsternannten sozialistischen Ländern auf die Weltpolitik zu stärken und den stagnierenden Ausbau des sozialistischen Weltsystems wieder in Fahrt zu bringen.

Aus Honeckers Sicht ergibt sich eine Gelegenheit zu einem ersten Schritt daraus, dass mit Hu Yaobang ein Mann die Führung der KP Chinas übernommen hat, den Honecker noch aus seiner Zeit an der Spitze der FDJ kennt. Yaobang sei ein Freund aus Jugendzeiten, erzählt er Krenz, den er, Honecker aber nicht direkt kontaktieren könne, ohne den Zorn Moskaus zu erregen.

Einsatz Krenz, Ball über die Bande. Der FDJ-Chef wird beauftragt, mit dem Chef einer chinesischen Zeitung, der sich in der DDR aufhält, zu sprechen, um diesem mitzuteilen, dass die DDR großes Interesse an guten Beziehungen zu Peking habe. Der Mann werde diese Botschaft dann an Hu Yaobang weitergeben, Moskau zwar schäumen, aber "wenn man dich dafür kritisiert", gibt Honecker Krenz mit, "kann ich das auf deine Unerfahrenheit schieben."


Honeckers Manöver gegen Gorbatschow


Das Manöver glückt. Es beginnt ein "intensiver Delegationsaustausch zwischen Berlin und Peking", wie Krenz es nennt. Die erhoffte Annäherung zwischen Moskau und den chinesischen Brüdern allerdings gelingt weder unter Juri Andropow noch unter Nachfolger Michael Gorbatschow, für den DDR-Abgesandte wie Wirtschaftschef Gerhard Schürer sogar direkte Botschaften entgegennehmen. Das Verhältnis aber bleibt angespannt, Gorbatschow lässt alle Avancen unbeantwortet. Für Egon Krenz endet sein chinesisches Abenteuer im Desaster: 1989 besucht der Hoffnungsträger der SED-Reformer China und danach lobt er das Massaker vom Tian'anmenplatz als Beitrag zur "Wiederherstellung der Ordnung".

Noch vor Antritt der Nachfolge Honeckers ist der Kronprinz verbrannt.