Freitag, 9. Dezember 2016

Thälmann-Insel: Ein Stückchen deutsche Karibik


Fidel Castro ist tot und begraben, ein Mythos aber, der den Maximo Lider mit der früheren DDR verbindet, hält sich gnadenlos: Dass Kuba der DDR Anfang der 70er Jahre eine Insel geschenkt habe. Die, betrachte man es genauer, bis heute Deutschland gehöre.

Auf dem Bild vom Festakt, bei dem die DDR das Eiland geschenkt bekam, zeigt Erich Honecker dieses schmale Lächeln, das bei ihm von großer Freude kündete. Hinten an der Wand hängt Lenin, vor dem DDR-Staatschef wedelt Fidel Castro gerade mit dem Finger auf einer Karte herum. Da liegt sie, die Karibikinsel, die jetzt der DDR gehört! Es ist der 19. Juni 1972 und eben ist eine der schönsten Lügenstorys der Internetära geboren worden.

Zu verdanken ist das dem halleschen Maler Gabriel Machemer. Der stolperte eines Tages über die Geschichte der Verleihung des Namens "Ernst Thälmann" an die winzige Insel. Beim Internet-Lexikon Wikipedia verfasste Machemer daraufhin einen Eintrag dazu, in dem er Castros Erlass zur Namensvergabe zu einer Schenkungsurkunde erklärte. "Eine eigene Karibikinsel für die DDR?", fragte der Künstler.

Eine bezaubernde Idee, die Kreise zog. Bald diskutierte das Netz, ob Deutschland nun ein Stückchen eigene Karibik habe - schließlich müsse die Insel ja mit der Vereinigung Eigentum des größeren Deutschlands geworden sein. 2001 gründete sich dann sogar die Initiative Thälmann-Insel. Motto: "Wir wollen unsere Insel zurück". Zeitungen schrieben über die Gebietsansprüche Deutschlands an Kuba, Verschwörungstheoretiker raunten begeistert: "Wem gehört die Ernst-Thälmann-Insel?".

Das Auswärtige Amt musste reagieren. Bei der Widmung der Insel "handelte es sich um einen symbolischen Akt, der nichts mit Besitzverhältnissen zu tun hat", hieß es diplomatisch. Den Eifer der Inselfans vermochte das kaum zu bremsen: Immer wieder taucht die "DDR-Karibikinsel" seitdem aus dem Meldungsmeer auf. Selbst als sich der Urheber endlich zu seiner kleinen Geschichtsfälschung bekannt hatte, blieb die Umbenennung für viele eine "Schenkung".

So ist das im Netz. Einmal in der Welt, hält jede Lüge ewig.

Mittwoch, 7. Dezember 2016

Pearl Harbour: Ein Überfall mit langer Vor­ge­schichte

Der Zweite Weltkrieg dauerte in Asien nicht nur länger, er hatte auch früher begonnen. Schon im Juli 1937 begannen die Japaner mit ihrem Versuch, China zu erobern. Bis zum 26. November 1941 gelang das nicht, weil die Chinesen unter Chiang Kai-shek energischen Widerstand leisteten, später auch von US-Truppen unterstützt, auch wenn die nicht offiziell zum US-Militär gehören.
Gegen Japan, das mit Deutschland und Italien verbündet ist, arbeitete die Zeit.

Schon im Januar 1941 hatte der Admiral Isoroku Yamamoto seine Regierung in einer Studie gewarnt, dass Japans einzige Chance auf eine Eroberung zusätzlicher Rohstoffquellen in einer offensiven Strategie liege. In allen Planspielen war die japanische Marine zuvor unterlegen gewesen, so dass Yamamoto empfahl, mit einem unangekündigten Schlag gegen die US-Flotte gleich zu Kriegsbeginn deren Moral zu zerstören und sich selbst Zeit zu verschaffen, Südostasien mit seinen Rohstoffquellen in Besitz zu nehmen.

Abgesichert durch einen Nichtangriffspakt mit der Sowjetunion und einen nach 1940 festgefahrenen Konflikt mit China, verhandelten die Japaner ernsthaft mit den USA über eine Friedensvereinbarung für den Pazifikraum. Doch als das von Deutschland abhängige Vichy-Regime in Frankreich den Japanern die Erlaubnis gab, Französisch-Indochina zu besetzen, schlugen die USA alle Angebote Tokios aus, etwa die Unabhängigkeit der Philippinen zu garantieren und verhängten Wirtschaftssanktionen. Auf der anderen Seite weigerte sich Japan, China zu räumen.

Ein Patt, in das mit der Übergabe der sogenannten Hull-Note durch US-Außenminister Cordell Hull an den japanischen Botschafter Nomura am 26. November vor 75 Jahren verhängnisvolle Bewegung kam. Die Japaner werteten das amerikanische Papier als Ultimatum. Der japanische Angriffsverband Kido Butai lief noch am selben Tag mit Zielrichtung Pearl Harbor aus. Admiral Isoroku Yamamoto kommandierte sieben Flugzeugträger mit 474 Kampfflugzeugen, dazu kamen zwei Schlachtschiffe, drei Kreuzer und 16 Zerstörer.

Zur Tarnung verhandelten japanische Diplomaten weiter, doch für die japanische Regierung war der Krieg inzwischen der einzige denkbare Ausweg aus dem Dilemma, durch den mittlerweile in Europa tobenden Krieg von der Rohstoffzufuhr abgeschnitten zu sein. Am 7. Dezember, 6.10 Uhr morgens, starteten die Kampfflieger von ihren Schiffen.

Um 7.55 Uhr fielen die ersten Bomben. Aus dem Krieg wurde ein Weltkrieg.

Freitag, 2. Dezember 2016

Conny Ochs: Ein Reisender in Sachen großes Gefühl



Mit seiner Band Baby Universal ist der Hallenser Cornelius Ochs seit mehr als einem Jahrzehnt eine der wichtigsten, bekanntesten und erfolgreichsten Figuren der Rockmusik in der Region. Zuletzt legte die Lieblingsband von Kult-Regisseur Quentin Tarantino mit "Slow Shelter" ein Meisterwerk vor, das den Mix aus Brit-Pop und Hard-Rock um Folkelemente erweiterte. Seitdem hält sich die Band bedeckt, Ochs selbst tourt hingegen europaweit mit seinem neuen Solo-Album "Future Fables".

Zwölf Songs hat der Hallenser mit der unverwechselbaren Stimme im Kabumm-Studio in Golzow eingespielt, alle zwölf orientieren sich mehr an seinen gemeinsamen akustischen Alben mit der US-Doom-Legende Scott "Wino" Weinrich (St. Vitus) als am treibenden elektrischen Sound seiner Band.

Lieder mit Herz, Lieder mit Seele sind das, vom Auftakt mit dem auf zwei Gitarren hereinschleichenden "Hole" bis zum Finale mit der dunklen Klavierballade "Make some room". Conny Ochs singt flehentlich, er flüstert, zeigt aber bei "Killer" auch, dass er Nirvana ebensogut kann.

Fantastische Songkunst, der Sachsen-Anhalt, der Osten und ganz Deutschland spätestens seit den gemeinsamen Tourneen mit Scott Weinreich zu klein geworden ist. Seine zwischen Mark Lanegan, Lou Reed und Nick Drake pendelnde Musik, mit dem Debüt "Raw Love Songs" entworfen, mit "Black Happy" vervollkommnet und mit "Future Fables" nun für erste vollendet, wird überall verstanden.

Wie ein moderner Troubadour zieht Ochs durch Europa, um die Welt, er spielt in Quedlinburg und Venedig, in der Schweiz und Tschechien. Und erstmals seit Jahren trat er jetzt auch wieder in seiner Heimatstadt auf, in der kleinen Kneipe "Fliese", die der frühere Baby-Schlagzeiger Carsten Rottweiler betreibt, sang Ochs Lieder aus dem neuen Album, aus seinen früheren Werken und auch einige Stücke von den Babys. Schlecht beleuchtet, gut aufgelegt und am Ende völlig erschöpft. Ein Heimspiel, locker gewonnen.

Direkt zum Künstler:
www.connyochs.com

Sonntag, 27. November 2016

Fidel Castro in Halle: Als der Maximo Lider ins Schwimmbecken sprang


Die Wimpelkette zog sich von Halle-Neustadt bis nach Buna. DDR-Fähnchen und Kuba-Fähnchen, immer abwechselnd, von eigens beauftragten Trupps mit Kranwagen an die Laternen gebunden. So begrüßte der Bezirk Halle im Juni 1972 Kubas Revolutionsführer Fidel Castro. Der selbsternannte "Maximo Lider" kam in Begleitung von Staatschef Erich Honecker, der erst ein Jahr zuvor seinen Vorgänger Walter Ulbricht gestürzt hatte. Honecker wollte Weltoffenheit zeigen, eine eigene Duftmarke setzen und außenpolitisch Lockerheit beweisen.

Castro, ein beinharter Diktator, zugleich aber auch ein sturer Verächter diplomatischer Gepflogenheiten, kam da gerade recht. Seine Visite hatte die DDR-Staatsführung mit großem Pomp inszeniert: So fuhren DDR-Staatschef Erich Honecker und Fidel Castro in einer offenen Limousine von Halle nach Leuna. An den Straßen entlang der Strecke hatten Junge Pioniere, Mitglieder von FDJ und Angestellte der Großbetriebe Aufstellung genommen, um den hohen Besuch jubelnd zu begrüßen. In Leuna marschierten zu Ehren von Castro Kampfgruppenformationen auf und vor den Toren der Leuna-Werke riefen angeblich 80 000 Kundgebungsteilnehmer „Kuba-si“.

Castro wurde zum Kampfgruppen-Bataillonskommandeur ehrenhalber ernannt und bekam ein Gewehr geschenkt, mit dem Leuna-Arbeiter in den 20er Jahren „gegen die Henkersknechte des deutschen Imperialismus gekämpft“ hatten.

Zusammen mit Honecker unternahm Castro eine Rundfahrt durch Halle-Neustadt. Beide ließe sich auch dort von aufmarschierten Arbeitern feiern. „So weit das Auge reicht, ist die Straße dicht von Menschen umlagert“, hieß es danach in der „Freiheit“, „sie alle tragen Spruchbänder und Porträts von Fidel Castro und Erich Honecker, Blumen und viele Tausende Fähnchen“.

Beim Besuch der Schwimmhalle in Halle-Neustadt sprang Castro protokollwidrig ins Becken und schwamm ein paar Bahnen. Das war dann aber doch zu locker für die DDR: Der Vorfall wurde öffentlich totgeschwiegen.

Nachruf auf Fidel Castro

Sonntag, 20. November 2016

Russlands Kampf gegen die Raucher


Flughäfen sind weltweit längst schon keine Orte für Raucher mehr. In Katar werden sie in tiefe Katakomben verbannt, in denen sich das Anstecken einer eigenen Kippe wegen der herrschenden Luftqualität völlig erübrigt. In Peking liegen die Raucherinseln so versteckt, dass die Zeit zwischen Landung und Weiterflug leicht auf der Suche verbracht werden kann. Alle Feuerzeuge werden bei der Einreise konfisziert, Reisende können ihre Kippen anschließend nur noch mit Hilfe bizarrer Anzündautomaten anstecken, die an die Wände der gut versteckten Raucherverschläge montiert sind.

Nur Russland ist noch konsequenter. Wie einst Michael Gorbatschow, der den alkoholverliebten Sowjetmenschen zu abstinenter Tugend erziehen wollte, hat sich auch Wladimir Putin der Bekämpfung aller bei Russen beliebten Drogen verschrieben. Moskaus Flughafen Scheremetjewo hat deshalb weder nahöstliche Qualmkeller noch ist er ein chinesisches Raucherratelabyrinth. Hier herrscht vielmehr ein knallhartes Rauchverbot: Keine Kabinen. Keine Verschläge, nichts.

Nur ist der Russe von heute ist nicht mehr der folgsame Genosse von früher. Er nimmt die obrigkeitliche Vorgabe zu seiner Gesundhaltung deshalb unbekümmert wie einst Gorbatschows Wodkaverbot. Und begibt sich zum Rauchen kurzerhand dorthin, wo die meisten Raucher ihre erste Kippe inhaliert haben: Aufs Klo.

Hier, wo der Architekt die Rauchmelder vergessen hat, bildet er dann mit Leidensgenossen aus aller Welt Notgemeinschaften, die sich spontan selbst organisieren. Der Franzose steht Schmiere, der Deutsche, der Italiener und der Russe qualmen um die Wette.

Wegweisend für die Welt.

Dienstag, 15. November 2016

Neues vom System Magdeburg

Ein dominanter Bau am besten Platz der Stadt erfüllte den Wunsch der halleschen Stadtväter nach einer endlich gefüllten Baugrube. 

Auf einmal ist der Wirtschaftsminister weg. Jörg Felgner, ehemals rechte Hand des langjährigen Finanzministers Jens Bullerjahn, stürzt am Ende über einen Vertrag über 80.000 Euro, die irgendwie und vielleicht ohne Grund über die Investitionsbank des Landes beim halleschen Wirtschaftsforschungsinstitut ISW gelandet sein sollen. 80.000 Euro. Ein Taschengeld angesichts der Summen, die in der Ära Bullerjahn unter den Augen der Öffentlichkeit ganz öffentlich über den Tisch geschoben wurden.

Aber Felgner, der Mann ohne Hausmacht in der SPD, ist nicht Bullerjahn, der in seiner Amtszeit nicht nur sein Ministerium, sondern auch die Partei im Stil eines absoluten Herrschers führte. Mit Widerspruch oder gar öffentlicher Kritik musste der Mann aus dem Mansfeld nie leben, auch, weil auf der anderen Seite beim Koalitionspartner CDU ähnliche Verhältnisse herrschten. Man tat sich nichts und man tat sich schon gar nicht weh, denn das gemeinsame Interesse war, im Amt zu bleiben.

Da mochte von außen auch Kritik kommen - etwa am irrwitzigen Bau eines Finanzamtes in bester Innenstadtlage in Halle. Dort, wo sich kein Privatunternehmen einen Neubau leisten konnte, pflanzte das Land, das Zeit seiner Existenz nie mehr als 70 Prozent seiner Ausgaben aus eigenen Einnahmen hat bestreiten können, einen "feinen Neubau" (Steuerzahlerbund) hin.

Für insgesamt 66,9 Millionen Euro gibt es 8.590 Quadratmeter Nutzfläche mit Platz für 440 Mitarbeiter, verglaste Lichthöfe, Empfangsfoyer, Konferenz-und Schulungsräume, Tiefgarage und vier Aufzugsanlagen, deren Finanzierung über die nächsten 25 Jahre gestreckt wird, auf dass der Prachtbau den derzeit rund 21 Milliarden Euro betragenden Schuldenberg des Landes nicht allzu auffällig erhöhe. Das ganze Unternehmen als Teil eines Plans, der die Anzahl der Standorte der Finanzämter reduziert und den Landeshaushalt während der Laufzeit der Rückzahlung der Baukosten um 50 Millionen Euro entlasten soll.

Am Ende herausgekommen sind - Stand jetzt - 16,9 Millionen Mehrkosten. Ein Sparplan nach Magdeburger Zuschnitt.

Laute Kritik aber, die den im September 2010 recht plötzlich geborenen Neubauplan - zuvor hatten ein Umzug in ein anderes Gebäude für 20 Millionen Euro und eine Sanierung des bisherigen Behördensitzes für 15 Millionen als Alternativen gegolten - hätte ins Wackeln bringen können, gab es nicht. Auch nicht an der "europaweiten Ausschreibung", deren Bedingungen nach Angaben des Steuerzahlerbundes "so gesetzt waren, dass nur ein Bewerber die Anforderungen auch erfüllen konnte".

Es war die Baufirma, die häufig baut, wenn zwischen Stendal und Zeitz Großprojekte zu stemmen sind. Sachsen-Anhalt ist ein kleines Land mit kurzen Drähten, über die ein Interessenausgleich schnell und informell stattfindet. Hat der Norden sich gegen allerlei rechtliche Widerstände ein neues Stadion besorgt, dann darf der Süden auch eins haben, auch wenn der damalige Rechnungshof-Chef Ralf Seibicke kleinteilig kritisierte, dass eine Anweisung des Innenministerium an das Landesverwaltungsamt, jegliche Bedenken gegen eine Genehmigung des Stadionneubaus fallen zu lassen, rechtlich zweifelhaft war. Dass Halles strukturelles Defizit von 50 Millionen Euro einen teilweise städtisch finanzierten Neubau rechtlich eigentlich unmöglich mache. Dass das Sozialministerium als damals zuständige Aufsichtsbehörde für Fördermittel im Sportbereich die Fördermittelvergabe ohne Wirtschaftlichkeitsprüfung an die Investitionsbank übertragen und diese wiederum einen Zuwendungsbescheid ausgereicht habe, obwohl die Finanzierung des Gesamtprojekts "nicht gesichert" war.

Recht ist biegsam, wo niemand auf seine strikte Einhaltung pocht. SPD-Innenstaatssekretär Rüdiger Erben, heute Mitglied der SPD-Landtagsfraktion, ging seinerzeit auf die Bedenken der Beamten in der Stadionsache ein. Und er schrieb dem Chef des Landesverwaltungsamtes: "Sehr geehrter Herr Leimbach, zu der offenen Frage des Einflusses der Genehmigungsfähigkeit des Haushaltes 2010 der Stadt Halle auf die noch abzugebende kommunalaufsichtliche Stellungnahme informiere ich sie dahingehend, dass eine Verbindung nicht herzustellen ist."

Das war nie geheim. Doch es hat sich immer versendet. Finanzminister Bullerjahn stand mit breiter Brust vor seinem Projekt. Und sagte: "Die Kritik muss die Politik jetzt aushalten." Sein Ministerpräsident Reiner Haseloff mischte sich gar nicht ein. In der leidigen Dessauer Fördermittelaffäre, unter der die CDU zu leiden hatte, hatte sich sein Finanzminister schließlich auch nie zu Wort gemeldet.

So funktionierte Sachsen-Anhalt über Jahrzehnte. CDU und SPD regierten miteinander, sie schufen sich mit der Investitionsbank ein Vehikel, das half, Förderrichtlinien kreativ zu interpretieren. Würden später Probleme auftreten, wäre die Investitionsbank in der Pflicht, die zwar dem Land gehört, aber längst nicht so viel Auskunft geben muss wie eine Landesbehörde. Kein System Bullerjahn, wie es jetzt überall heißt. Sondern ein System Magdeburg.

Erst mit dem Abgang Bullerjahns und der SPD-Landeschefin Katrin Budde geriet die betonierte Stabilität dieses Magdeburger Systems ins Wanken. Auf einmal ploppten Skandale wie die Wahlfälscheraffäre um den Landtagschef Hardy Peter Güssau nicht mehr nur einfach auf, sondern sie führten zu personellen Konsequenzen. Auf einmal ließ sich die im Sommer aufploppende Gutachtenaffäre nicht mehr durch langgestreckte Untersuchungsausschusstätigkeit beilegen. Die Regierungsparteien der letzten Legislaturperiode wirkten irritiert, konsterniert, innerlich noch auf der Suche nach einem neuen Gleichgewicht.

Das haben sie bisher noch nicht gefunden, denn die neue Realität, in der die AfD jedes Moment der Schwäche nutzt, um öffentlich auf Punktejagd zu gehen, hat nur noch wenig zu tun mit dem gemütlichen Staatswesen, das bis zum Frühjahr im Stil eines fröhlichen Fürstentumes regiert wurde.

Aber viel Zeit bleibt nicht mehr.

MZ-Kommentar: Die Regierung soll endlich tun, wofür sie gewählt wurde

Wolf Biermann: Das Glück des preu­ßischen ​Ika­rus

Wolf und Pamela Biermann. Foto: Thorsten Jander
Wallraff dreht das Autoradio lauter. Biermann schiebt den Kopf nach vorn. Lauscht. Die Stimme des Nachrichtensprechers verkündet gerade das Todesurteil, mitten auf der Autobahn Köln - Bochum: Die Regierung der DDR habe beschlossen, dem Sänger Wolf Biermann die Wiedereinreise nicht zu gestatten. "Mir war", das Erschrecken ist dem Liedermacher eingebrannt ins Hirn, "als würde ich meiner eigenen Hinrichtung zuhören." Gewundert habe ihn nur, "dass mein Kopf weiter dachte."

Wolf Biermann hat nichts vergessen seitdem. Entspannt sitzt er auf der Ledercouch im großen, hellen Wohnzimmer seines Hamburger Hauses, rezitiert plattdeutsche Verse vom kleinen Johann und der großen Welt im halleschen Dialekt seiner Oma Meume. Und rekapituliert nebenher Geschichte in winzigen Details.

Das Auto damals war zum Beispiel der 200er Mercedes irgendeines Gewerkschaftsmannes, die Reifen runderneuert. Die Besatzung unterwegs vom Kölner Konzert des DDR-Dissidenten zum zweiten Tour-Termin in Bochum. Und Biermann, Sohn einer Maschinenstrickerin und eines in Auschwitz ermordeten Hafenarbeiters, trug Steine in der Tasche, die er mit Günther Wallraff gesammelt hatte, um sie Freunden daheim in Ost-Berlin zu schenken. "Wunderbare Kiesel, schöner als jeder Diamant", sagt er, "denn es waren Steine vom Rheinufer - von einem Ort, an den ich nie zu gelangen hoffen durfte."

Und doch hatte die DDR ihren Staatsfeind Nummer eins ziehen lassen. Nach zwölf Jahren Hausarrest. Nach zwölf Jahren, in denen Biermann Auftritte nur in den eigenen vier Wänden absolvieren und Schallplatten nur im Westen veröffentlichen konnte. Biermann war glücklich. "Es waren die schönsten Tage meines Lebens", sagt er über jene Novemberwoche des Jahres 1976 nach seinem Kölner Konzert. "Schließlich hatte ich diese unglaubliche Balanciernummer wohlbehalten überstanden." Das Publikum gut unterhalten, die Freunde daheim nicht enttäuscht und die SED-Bonzen kritisiert, ohne sie zu sehr zu schmähen. "Ich war wirklich der Meinung, ich käme gut wieder nach Hause."

Vaters Vermächtnis

Welch ein Irrtum. Mit der Ausweisung ist Wolf Biermann "verwirrt, eingeschüchtert, voller Lebensangst." Die blassen Augen schauen blicklos auf den abgewetzten braunen Ledersessel in der Ecke, auf dem früher Robert Havemann und Margot Honecker saßen, wenn sie zu Besuch waren. Das T-Shirt spannt über muskulösen Oberarmen. Biermann, Sohn des von den Nazis ermordeten Dagobert Biermann, als Feind vertrieben aus dem gelobten Land des Kommunismus! In das er doch im Sommer 1953 gezogen war, um mitzuhelfen, eine bessere Gesellschaft aufzubauen. Es streicht kein Lächeln um die Mundwinkel, schwingt kein verspätetes Klugsein mit. "Ich glühte ja nicht einmal für die Weltrevolution, nein, sie war für mich eine Aufgabe wie Luftholen." Ein Vermächtnis des Vaters, den er ein einziges Mal gesehen hat bei einem Besuch im Lager. Ein Auftrag der Mutter, die in der Pause in der Fabrik Marx las und in der DDR die Erfüllung eines Traums sah.

Kurz nach Stalins Tod geht Biermann in die DDR. "Zum Glück schickten sie mich dort aufs Internat in die Ackerbauernstadt Gadebusch, so dass ich von den Arbeiteraufständen nichts mitbekam." Ein Glück, denn, jetzt senkt der Sänger die Stimme, "hätte ich gesehen, wie sie in Berlin streikende Arbeiter niederwalzen, hätte ich mich damals schon auf die Seite der Ermordeten gestellt, nicht auf die Seite der Mörder."

So aber hockt er am Ende der Welt, der Heimleiter allein stellt das Radio ein, und der 17-Jährige "ist so schön dumm, dass er nicht dumm bleiben muss". Ein bloßer Zufall, aber einer, ohne den aus dem kleinen Wolf nicht der böse Biermann geworden wäre, der Sänger, Dissident und Nationalpreisträger, ganz sicher. "Ungebildet, schlecht ausgerüstet wäre ich gewesen." Darüber lässt sich lange sinnen. Wie über all die Momente, in denen Weichen gestellt und Wege beschritten wurden, an deren Ende der Mann mit dem ergrauenden Seehundsbart steht: 1,67 Meter Formulierungslust in schwarzen Jeans, mit schmalen Hüften und kurzen, festen Fingern.

Halb sechs morgens sei seine Mutter in die Fabrik gegangen. "Da saß ich kleiner Kerl allein in der Wohnung, bis meine Tante Lotte mich um sieben abholte." Der kleine Wolf sitzt nicht nur, er singt sich die Seele aus dem Leib: "Ich weiß heute nicht mehr, ob aus Angst oder Freude." Die Begabung ist entdeckt, den "kleinen Sänger" nennt ihn bald die ganze Nachbarschaft. Dass er aber später lernt, Klavier zu spielen, sagt Biermann, hatte nur mit diesen Lucky Strikes zu tun. Die Stimme, mit der Biermann seinen Geschichten zuweilen freudig krähend Pointen aufsetzt, wird dunkel und schwer, als er die Geschichte vom Onkel erzählt, der im Freihafen einen ganzen Sack Zigaretten dieser Marke stiehlt, um seinem Neffen ein Klavier kaufen zu können. "Und das in der größten Elendszeit - ich bekomme noch heute einen Glücksstich ins Herz, wenn ich irgendwo eine Packung Lucky Strikes liegen sehe."

So ist es immer gewesen, in diesem Leben "nah an der Rampe der Weltgeschichte", wie er es nennt. Eine winzige Wendung, eine andere Zeit, ein anderer Ort. Biermann, als polternder Querkopf gefürchtet, ist ein nachdenklicher Mensch, der sich über eines sehr sicher ist: Es hätte gut auch alles ganz anders kommen können. Etwa damals, als ihn die Stasi in Gadebusch als Spitzel werben will. Und er dem Führungsoffizier an die Kehle geht, weil "der mich einen Agenten genannt und mich damit schwer in meiner bolschewistischen Ritterehre gekränkt hatte." Agent! Er! Dagoberts Sohn! "Wenn der mir erzählt hätte, Genosse Wolf, die Revolution braucht dich, Mensch, da hätte ich sofort unterschrieben."

Berlin sei Dank

Biermann, der gern Stalin und Churchill zitiert, ist sich im Klaren, dass er häufig Glück gehabt hat. Etwa als er beginnt, Wirtschaftswissenschaften zu studieren und nicht auf die Hochschule nach Magdeburg, sondern nach Berlin geschickt wird. "Nur dort konnte ich in den Sog des Brecht-Theaters geraten." Oder als er - längst mit einem Bann belegt - immer wieder "lebende Freunde und tote Götter" findet, die ihm Kraft geben, "wenn nicht mehr ich die Angst hatte, sondern die Angst mich".

Das Bild vom harten preußischen Ikarus, der Stasi-Spitzeln ausdauernd zürnt und unbeirrt von Zweifeln einen eigensinnigen Weg geht, es klirrt auseinander vor der Realität in der freundlichen Stube ohne Gardinen, nur ein paar Straßen entfernt von dem Kanal, durch den seine Mutter ihn kurz vor Kriegsende schwimmend vor den Bomben rettete. Es komme ihm mehr denn je darauf an, lebendige Widersprüche darzustellen, "einfach das Wenige, was ich wirklich rausgekriegt habe, weiterzusagen." Die kleinen "eindimensionalen Piesel", das Parteiengezänk, die meisten schnellschäumenden Diskussionen dieser Tage, sie bewegen ihn kaum. Ebenso wenig die Typen, die ihm seine eigene Geschichte erzählen wollen, samt Affäre mit Margot und Mauscheln mit der SED.

Biermann, ein begeisterter Tischtennisspieler mit starker Rückhand, ist im Alter milder geworden, aber nicht viel. Der vermeintlich ewig polternde Gerechtigkeitsfanatiker entpuppt sich als milder Denker, der ganz ohne Zorn zurückschaut, gelehnt ins abgeschabte Ledersofa. Wie es war, war es gut. Alles andere zu sagen, hieße "klüger sein zu wollen als ich bin". Oder, Biermann kann auch poltrig-proletarisch: "Ich kann nicht höher springen als der Arsch kommt."

Der Gedanke amüsiert ihn nun doch. Er lässt ein kockerndes Lachen hören. "Wenn sie mich damals nach Magdeburg geschickt hätten", bläst er die Backen auf. Keine Bekanntschaft mit Brecht, mit Helene Weigel, mit dem Berliner Ensemble und Havemann. Keine Liedermacherei. Keine Chauseestraße 65. Kein Hausarrest. 


"Vielleicht wäre ich ein Kombinatsdirektor geworden!" Oder ein mittlerer Wirtschaftsfunktionär mit wutgeballter Faust in der Tasche. "Ich würde heute ein bisschen Gitarre für den Hausgebrauch spielen, das war's." Mit drei Akkorden durchs ganze Leben, das Lied vom kleinen Johann und der großen Welt auf den Lippen, plattdeutsch, ein bisschen hallesch eingefärbt. Jeder Mensch ist ein Roman, an dessen Seiten viele schreiben. 

Wolf Biermann sächselt fröhlich: "Fehlte nicht viel", sagt er.