Donnerstag, 6. Juli 2017

Styx: Reise in die Ewigkeit


Im 45. Jahr nach ihrer Gründung kehrt die US-Band Styx mit dem Album „The Mission“ aus einer Jahrzehnte währenden Pause zurück.

Styx, das ist der Todesfluss, der an der Grenze zwischen der Welt der Lebenden und dem Totenreich Hades fließt. Styx, das ist aber auch eine Rockband, die eben den Beweis antritt, dass ewiges Leben möglich ist: „The Mission“ ist nach 14 Jahren Pause das erste neue Album der Band, die Ende der 70er bis Anfang der 80er Jahre weltweit riesige Erfolge feierte. Und es ist ein Album, an dem mit James Young nur noch eines der Gründungs- oder langjährigen Originalmitglieder mitgewirkt hat.

Natürlich, auch Tommy Shaw ist da, der Gitarrist, der in den erfolgreichsten Jahren zwischen 1975 und 1984 an heute längst klassischen Alben wie „The Grand Illusion“ und „Paradise Theater“ mitgewirkt hatte. Und Bassist Chuck Panozzo spielt auch wieder mit. Aber weder Sänger und Mitgründer Dennis DeYoung noch Chucks Bruder John Panozzo zählen noch zur 1990 von James Young wiedergegründeten Truppe, zu der Tommy Shaw erst zurückkehrte, als DeYoung und Chuck Panozzo sie erneut verlassen hatten.

Rock’n’Roll-Zirkus der Superstar-Art, für die die Band aus Chicago schon immer stand. Als in England schon die Punk-Revolution kochte, spielten die fünf Musiker aus Illinois zusammen mit Supertramp, Saga, dem Electric Light Orchestra und Fleetwood Mac die Lordsiegelbewahrer der großen Rockkunst. Songs wie das Folk-Stück „Boat On A River“ vom Album „Cornerstone“ aus dem Jahr 1979 und die 1983 zum dauerpräsenten Hit avancierende Single „Mr. Roboto“ etablierten Styx in der Liga der Arena-Bands jener Tage, die mit hoher musikalischer Könnerschaft eine perfekte Rockmusik ohne Leidenschaft und Seele spielten.

Theatralisch, fantasiebegabt, immer auf der Suche nach der großen Pose und dem Lied, das das ganze Leben erklärt und die Hörer tief in der Seele packt, so klingen Styx auch heute noch. James Young, der inzwischen auch Sänger der Band ist, wird vom alten Kollegen Tommy Shaw unterstützt, dazu kommen mit Bassist Ricky Phillips, Schlagzeuger Todd Sucherman und Keyboarder Lawrence Gowan drei Mitmusiker, die den klassischen Styx-Sound täuschend echt nachzustellen verstehen.

Alles da, was das Fanherz begehrt: Die Hardrock-Gitarren, die dreistimmigen Chöre, zu denen Tommy Shaw, Lawrence Gowan und James Young immer wieder zusammenfinden, der Synthesizer-Schaum, der über allem liegt, aber auch Boogie-Woogie-Strecken wie in „Hundred Million Miles from Home“. Und wie damals auf „Paradise Theater“, das auch von der DDR-Plattenfirma Amiga veröffentlicht wurde, gibt es wieder eine durchgehende Geschichte, die die 14 meist überraschend kurzen Lieder miteinander verbindet.

Eine Reise zum Mars bildet die Kulisse für das späte musikalische Abenteuer, in das sich Young & Co. gewohnt fingerfertig und fantasiebegabt stürzen: An Bord des Raumschiffs Khedive schlüpfen Shaw, Young und Gowan in die Rollen der Crew, die im Auftrag des - von Tommy Shaw ausgedachten - Global Space Exploration Program unterwegs durch die Weiten des Weltalls ist.

Eine harmonische Reise, auf der die Band zeigt, dass sie in allen Stilrichtungen beschlagen ist. Ein wenig Prog-Rock wird mit Anleihen bei Yes-Psychedelika gemischt, „The Greater Good“ hört sich an wie eine verschollene Queen-Hymne und „Time may bend“ erinnert an das unvergessene „Snowblind“ vom „Paradise Theater“-Album. Klänge, so blank und glänzend wie eine echte Marsrakete, bereit zum Flug in die Ewigkeit.


Dienstag, 4. Juli 2017

Separatisten in Nordamerika

Ein Jahr hatten sie sich vorbereitet, eine eigene Armee gegründet und eigenes Geld herausgegeben. Am 4. Juli 1776 war es dann soweit. Der Kontinentalkongress, in dem Delegierte aus den 13 britischen Kolonien Nordamerikas sich zusammengefunden hatten, um die Behandlung der Amerikaner durch die Briten als Bürger zweiter Klasse zu beenden, verabschiedete die Unabhängigkeitserklärung als Dokument des eigenen Willens, sich vom Mutterland in der alten Welt zu lösen und einen eigenen Staat aus der Taufe zu heben.

Thomas Jefferson, Sohn eines Pflanzers und studierter Jurist, hatte die Erklärung geschrieben, mit der sich die Untertanen des englischen Königshauses selbst ermächtigten, ihre Untertanenschaft zu kündigen. Der König, so heißt es da, habe eine Reihe von Rechtsbrüchen begangen, seine Macht missbraucht, Krieg gegen die eigene Bevölkerung in den Kolonien begonnen, die Rechtsprechung behindert und die Bürokratie vergrößert, so dass seinen einst treuen Bürgern das Recht zuwachse, „die staatlichen Bindungen an das Mutterland zu lösen“. Im Namen der Kolonien unterzeichneten 56 Delegierte das Dokument, das damit ihrer Ansicht nach Rechtskraft erlangte.

In London sah man das anders. Seit Monaten schon führten Truppen der Kolonisten und Einheiten des Königs Krieg miteinander, der sich nun verschärfte. Britische Einheiten griffen New York an, die amerikanische Front auf Long Island brach zusammen. Die geschlagenen Reste seiner Einheiten konnte George Washington nach Brooklyn zurückziehen, später flüchtete seine Kontinentalarmee nach Manhattan. Das Kriegsglück wendete sich erst Monate später wieder. Weitere fünf Jahre kämpfen Amerikaner und Briten, schließlich aber auch Franzosen und Spanier weiter gegeneinander, ehe die Briten nach der Belagerung von Yorktown in Virginia kapitulieren und Großbritannien die Unabhängigkeit der Kolonien anerkennen muss.

Mehr vom Independence Day in der Neuen Zürcher

Samstag, 1. Juli 2017

Damals in Leuna: Erinnerung an Helmut Kohl

Helmut Kohl war nicht nur der Vater der Einheit und der Mann, der sich in Halle gegen Eierwerfer wehrte, sondern auch der Politiker, der über den kleinen Dienstweg nach Paris dafür sorfte, dass in Leuna heute noch Chemie existiert. Nichts Genaues weiß man nicht, aber Zeitzeugen, die ganz nah an den Ereignissen teilhatten, erinnern sich an Lustreisen nach Paris, an vom Gastgeber spendierte leichte Mädchen und Unmengen Alkohol. dann war es soweit, der französische Staatskonzern Elf Aquitaine rettet Leuna. Wie und warum, welches Geld wohin floß und welche Gegenleistungen versprochen wurden, ist bis heute unbekannt. Aber der frühere Tagesthemen-Moderator Ulrich Wickert liegt mit den in seinem Thriller "Der nützliche Freund" entworfenen Theorien womöglich nicht allzuweit weg von der Wahrheit.

Das ist das eine, auch von Untersuchungsausschüssen nicht geklärt. Das andere ist, wie es damals von unten aussah. Und zwar so*.

Der Wind ist eisig hier draußen. Graue Regenschauer hängen über dem Baufeld, auf dem eine einsame Planierraupe ihre Kreise zieht. Die Gleisverlegearbeiten der Reichsbahn gleich nebenan sind gegen den Bauplatz, auf dem in knapp zwei Jahren die größte Einzelinvestition in den neuen Bundesländern entstehen soll, eine richtige Großbaustelle. Leuna, Minuten nach der Nachricht aus Berlin, daß Treuhandanstalt und das französische Elf Aquitaine den Streit um den Neubau der Leuna-Raffinerie mit einem Kompromiß beigelegt haben. Jetzt steht fest: Die 4,3 Milliarden Mark teure Raffinerie wird gebaut.

Doch nirgendwo Jubel, nirgendwo Begeisterung. „Mich selber betrifft doch das Ganze ja gar nicht", denkt Kioskbesitzerin Ursel Schröder, die ihren Wagen gleich gegenüber dem Werkszaun geparkt hat. Aber vielleicht, hofft sie, kämen dann ja mehr Gäste zum Essen. Andere Hoffnungen? Nein, andere Hoffnungen verknüpfe sie nicht mit dem Projekt. Ähnlich denken viele. „Für mich ist es sowieso zu spät", sagen die Älteren, „ob das noch was nützt, bin ich mir nicht sicher", befürchten die Jungen. Leuna, zu DDR-Zeiten noch Arbeitsplatz von mehr als 30 000 Chemiewerkern, hat in den letzten vier Jahren zuviel durchgemacht, als daß hier noch jemand spontan in Euphorie ausbrechen würde - „bloß weil irgendwer mal wieder verkündet, daß jetzt alles gut wird". Dasselbe, sagt ein knochiger Arbeiter an der Bushaltestelle, habe man schon viel zu oft gehört: „Und immer war es Verarsche".

Eher sachlich sehen es andere. Der Leunaer Dezernent für Hauptverwaltung, Georg Schicht, hat zwar durchgesetzt, daß, seit die Ungewißheit um die Raffinerie in den letzten Tagen überhandnahm, die Kommune um das Werk auch die Treuhandmitteilungen gefaxt bekommt - diesmal aber wollte es Schicht möglichst schnell wissen. „Den ganzen Tag", erzählt er, „habe ich am Radio gehangen". Bis die Nachricht kam. „Mir fiel ein Stein von Herzen", freut er sich, „nicht nur wegen der mindestens 8 000 Arbeitsplätze, die jetzt sicher sind." Er spricht von der Freifläche, die längst als Wohngebiet verplant ist. 150 Wohnungen sollen dort entstehen. „Aber da existiert doch nur ein Interesse, wenn die Leunaer Arbeit haben." Und es geht um das Gewerbegebiet am Rande von Leuna. „Wissen Sie", macht Schicht eine Rechnung auf, „wir wollen schon in Kürze die ersten Gewerke heranholen."

Zulieferer, Dienstleistungen, Mittelstand. „Hoffentlich klappt das, denn wir sind doch auch auf die Gewerbesteuer angewiesen." Radio gehört hat auch Uwe Thomas. „Denn natürlich ist jede Investition wichtig", meint der Tankwart, der die Minol-Tankstelle direkt vor dem Werkstor betreibt, gestellt, wie werden die Leute ausgesucht - „keiner weiß was, keiner sagt was." Sicher sind sich die Beschäftigten in der Raffinerie nur über eines: „Wir sind jetzt 1 200 Leute in der alten Raffinerie, unddie bauen sicher keine neue, um genausoviel Menschen zu beschäftigten. Also, sagen sie, werden „wohl viele die Tasche packen müssen, wenn die alte Raffinerie zumacht".

Aber wenigstens habe so einige eine halbwegs sichere Perspektive. „Wir hoffen nur, daß es nicht so wird, daß die Letzten, die hier das Licht ausmachen, dann keinen Platz mehr im neuen Werk finden."

*Text vom März 1994

Samstag, 24. Juni 2017

Kraftklub: Die Axt aus dem Osten


Im fünften Jahr nach ihrem Debütalbum schlägt die Erfolgsband aus Chemnitz auf „Keine Nacht für Niemand“ neue Töne an.

Links der Neubaublock aus alten Zeiten, daneben der Philosophenkopf, den die Einheimischen kurz „Nüschel“ nennen. Und davor die fünf Herren mit K, in weißen Polo-Shirts wie immer,  rote Hosenträger festgeschnallt und auf einer improvisierten Bühne versammelt. „Spring aus dem Fenster für mich“, singt Felix Brunner, der bei der Chemnitzer Rockband Kraftklub am Mikrophon steht und auch beim neuen Hit der fünf Sachsen zeigt, wie Ironie geht.

Natürlich singt die Menge, die zum Spontankonzert der Lokalhelden in die Brückenstraße gekommen ist, begeistert mit. Und natürlich ist es nicht wirklich ein Spontankonzert, das Felix Brunner, sein Bruder Till am Bass, die Gitarristen Karl Schumann und Steffen Israel und Drummer Max Marschk hier aufführen. Nein, Kraftklub feiern mit solchen Auftritten auf Straßen, in Hinterhöfen oder auf einem Lkw ihr neues, inzwischen drittes Album „Keine Nacht für Niemand“.

Raketenstart in Sachsen


Das muss so sein, denn Kraftklub sind fünf Jahre und drei Alben nach  ihrem Raketenstart aus Sachsen an die Spitze der Charts ein Top-Thema. Das Quintett spielt in einer Hit-Liga mit den Toten Hosen, Rammstein und dem Rostocker Rapper Marteria, spielt in ausverkauften Arenen und bekommt Einladungen zu den angesagtesten Festivals.

Daran war 2009, als der damals noch als Rapper auftretende Felix Brunner sich der Rockband seines Bruder Till anschloss, nicht zu denken. Die beiden Söhne des Künstlerehepaares Ina und Jan Kummer, das zu DDR-Zeiten mit der Avantgardegruppe AG Geige Furore gemacht hatte, zielten  eigentlich auch gar nicht auf den großen Pop-Markt. „Adonis Maximus“, die erste offizielle Veröffentlichung, vermählte Rap und Rock und unwiderstehliche Tanzbeats und ätzte böse gegen rundgelutschte Schlagerstars.  Mit der Anti-Metropolenhymne „Ich will nicht nach Berlin“ war es dann eben doch passiert. 20 Jahre nach den Prinzen hatte Sachsen wieder eine Top-Ten-Band.

Die sieht nun rot.  War das Debüt „Mit K“ noch ganz weiß gehalten, der Nachfolger „In Schwarz“ dann wie ein Negativbild ganz schwarz, so leuchtet der Streichholzaugen-Titel von „Keine Nacht für Niemand“ blutrot. Ein Zeichen, denn Kraftklub haben ihren musikalischen Horizont im dritten Anlauf entscheidend erweitert. Zu Punk und Hip Hop, Metal, TexMex und Glam-Rock-Riffs kommen diesmal Streicher, Beatles-Harmonien und  augenzwinkernde Verneigungen vor  Helden der Kraftklub-Musiker. Einer davon ist Sven Regener, Sänger und  Kopf der Band Element of Crime, deren fast zehn Jahre alter Song „Am Ende denk’  ich immer nur an dich“ hier nicht nur zitiert, sondern von Regener selbst mitgesungen wird.


Nachtvorstellung der Verrückten


Nicht der einzige Gast in dieser Nachtvorstellung der Verrückten, deren Titel auf das 45 Jahre alte Scherben-Album „Keine Macht für Niemand“ anspielt. Auch Wu-Tang-Clan Rapper Ol’ Dirty Bastard, die Britpopper Blur, Depeche Mode, die  Kumpels von Deichkind und Die Ärzte werden zitiert.

Und nachgemacht:  In „Dein Lied“, einer Ballade, in der ein enttäuschter Liebender seiner  Verflossenen hinterherheult,  heißt es provokativ „Du verdammte Hure, das ist dein Lied“. Geht gar nicht, schallte es augenblicklich von den Tugendwächtern der Popkultur, denen der Rollensong eindeutig zu weit ging, künstlerische Freiheit hin oder her. Felix Brunner hat die Vorwürfe ironisch gekontert. „Muss man bei seinen Texten immer eine Gebrauchsanweisung mitliefern?“, fragt er. Für ihn sei der Einsatz des Streichorchesters in einem Punksong mehr Provokation als die Verwendung eines Wortes, das ein betrogener Liebhaber durchaus auch im echten Leben verwenden könnte.

Erledigt. Mit dem Selbstbewusstsein seiner 27 Jahre räumt der gerade so noch in der DDR geborene Kraftklub-Texter die Vorwürfe so beiläufig ab wie seinerzeit die Kritik an der Kraftklub-Uniform aus Baseballjacken und Polo-Shirts. Kraftklub, die anfangs nie politisch sein wollten, sich später aber ganz entschieden gegen die Rock-Kollegen von Frei.Wild positionierten, sind heute die Axt aus dem Osten, die die Einsicht in die Notwendigkeit politischer Korrektheit grinsend in Stücke schlägt.

Rock kann nicht den Konsens suchen, wenn er richtig rocken will. Und ein Liedtext ist nicht immer das Seelenbild des Mannes, der ihn singt.

Kraftklub: Keine Nacht für Niemand, Vertigo Berlin