Mittwoch, 18. Oktober 2017

Ken Follett: Unter Got­tes­krie­gern


Mit 69 Jahren hat der walisische Auflagenmillionär Ken Follett den dritten Teil seiner vor 30 Jahren begonnenen Jahrhundertsaga um die Säulen der Erde geschrieben.


Es geschah mitten in einer epochalen Zeitenwende, dass der walisische Thrillerautor Ken Follett aus dem Glied trat. Der 40-Jährige, geboren in Cardiff und berühmt geworden mit dem Bestseller "Die Nadel", legte 1989/1990 ein Buch vor, das ganz anders war als alles, was er bis dahin geschrieben hatte. Nichts weniger als "Die Säulen der Erde" wollte das gleichnamige 1 300-Seiten-Werk beschreiben, dessen Handlung im Jahr 1135 beginnt und ein knappes halbes Jahrhundert später endet.

Ein großes Wagnis, denn die Geschichte um den Baumeister Tom Builder und die Entstehung der - fiktiven - Stadt Kingsbridge und ihrer Kathedrale bediente alles, nur nicht Folletts Stammpublikum. Ein großer Wurf dennoch, wie 26 Millionen verkaufte Bücher beweisen. Vor zehn Jahren ist der streng religiös erzogene Fabrikant von Thrillern wie "Roter Adler" dann noch einmal zurückgekehrt in die mittelalterliche Welt von Kingsbridge, um die Nachkommen seiner ursprünglichen Helden zu besuchen. Auch "Die Tore der Welt" wurde ein Welterfolg, sodass Follett nun mit nur zehn Jahren Abstand "Das Fundament der Ewigkeit" folgen lässt. 

Per Schnelldurchlauf sind 200 weitere Jahre ins Land gegangen. Die Erben der Tom Builders, Edmund Woolers und der Grafen von Shiring leben jetzt im Spannungsfeld einer neuen Zeit, die zerrissen wird vom blutigen Glaubenskrieg zwischen Katholiken und Protestanten. Ned Willard, Sohn einer anfangs erfolgreichen Handelsfrau aus Kingsbridge, gerät mitten hinein in diese mörderische Ära, in der die europäischen Königshäuser mal gegen- und mal miteinander um die Vorherrschaft auf dem Kontinent streiten, wobei nie ganz klar ist, ob ihnen die Religion dabei Antrieb oder gern genutzte Waffe ist. 


Ken Follett, zuletzt mit seiner epischen "Century"-Trilogie der Porträtmaler des 20. Jahrhunderts, mischt auch hier wahre Ereignisse und historisch verbürgte Personen mit ausgedachten Figuren wie Ned Willard, seiner Jugendliebe Margery Fitzgerald und dem skrupellosen Spion Pierre Aumande. Ziel ist immer, ein Bild wirklicher Ereignisse zu zeichnen, von denen heute, nicht einmal 500 Jahre später, niemand mehr auch nur das Geringste weiß. 


Erbittert und gnadenlos schlachteten Franzosen damals Franzosen, Engländer zündeten Engländer an, Spanier ermordeten nicht nur zehntausende Holländer, sondern sie versuchten auch, das unter Königin Elisabeth vom wahren Glauben der römischen Kirche abgefallene England zu erobern. Feuer und Schwert für den falschen Glauben. Den Tod für jeden, der nicht abschwor. 


Gotteskrieger auf beiden Seiten, gelenkt von machtgierigen Adelsgeschlechtern wie den Guise, den Stuarts, den Bourbonen und den Tudors, für die das ganze Leben ein "Game of Thrones" ist. Es verliert der, der zu viele Skrupel hat und zu wenige Männer unter Waffen. 


Oh, nein. Früher war nicht alles besser. Das Europa, in das Ken Follett seine Leser entführt, ist für die meisten seiner Bewohner ein trister, von religiöser Intoleranz beherrschter Erdteil, auf dem Abweichungen umgehend grausam bestraft und Konflikte mit brutaler Härte ausgetragen werden. Folletts eigentliches Thema, auch hier wieder in eine Handlung eingebettet, die es schwer macht, den 1 160-Seiten-Band aus der Hand zu legen, ist die Freiheit des Individuums in den Grenzen seiner Zeit. Dass Königin Elisabeth Katholiken nicht hinrichten lässt wie ihre Vorgängerin Maria I., die protestantische Bischöfe nach Ketzergesetzen auf dem Scheiterhaufen verbrennen ließ, gilt schon als Fortschritt in den dunklen Tagen Mitte des vergangenen Jahrtausends. 


Europa ist, was den Adel und die mächtigen Handelshäuser betrifft, fast schon globalisiert, eine Gemeinschaft mit offenen Grenzen und länderüberschreitendem Handel. Die einfachen Menschen aber leben nicht nur in sklavischer Abhängigkeit von ihren Feudalherren, sondern auch unfrei in dem, was sie denken und glauben dürfen. Erst im jahrzehntelangen Krieg zwischen den Christen hier und den Christen da, der allein in der Bartholomäusnacht von Frankreich anno 1572 bis zu 15 000 Opfer forderte, wird die Religionsfreiheit erkämpft, die Follett als die Freiheit nennt, die Europa den Weg aus der Gewaltherrschaft in die Demokratie wies. 


Der Preis aber ist auch hier, in der an Familiensagen wie "Dallas" oder "Denver Clan" angelehnten populären Darstellung durch den Meister der authentischen Erfindung hoch. Es wird geliebt, aber meist unglücklich. Es wird gehasst, verraten, intrigiert, geboren, gelitten und gestorben. Alle handelnden Figuren fahren die Achterbahn der Gefühle hoch und wieder runter, während die Zeitläufte um sie herum in Blut, Elend und Tränen ertrinken. Ned Willard, um dessen Lebensweg herum Ken Follett diesen bemerkenswert heutigen dritten Band seiner Jahrhundert-Trilogie gebaut hat, schaut am Ende zufrieden zurück. Aber ob er wirklich glücklich ist? 


Samstag, 14. Oktober 2017

Ex-Stasi-Vizechef Werner Großmann: Keinen Millimeter zurückweichen


Ex-Stasi-Vizechef Werner Großmann beharrt auf seiner Sicht der Dinge. Denn am Ende geht es darum, Geschichte zu schreiben.


Geschehen ist sie schon längst, unverrückbar stehen die Ereignisse in der Historie. Aber wie sie zu deuten sind, das wird gerade festgelegt, von heute aus für immer, das weiß auch Werner Großmann, bis 1989 der Vize-Chef des Ministeriums für Staatssicherheit der DDR. Und aus genau dem Grund lässt der 88-Jährige auch nicht nach: Mit "Der Überzeugungstäter" (edition ost) hat der einstige Generaloberst gerade noch einmal ein Buch vorgelegt, in dem er seine Sicht auf die Staatssicherheit vor dem Hintergrund seiner Biografie schildert.

Nicht der erste Versuch des aus der Nähe von Pirna stammenden Sohnes eines Zimmermanns, aber vielleicht der letzte. Großmann gehört wie sein Vorgänger als Chef der Auslandsspionage Markus Wolf, wie Günter Schabowski und der letzte NVA-Vize Fritz Streletz zur Zwischengeneration der DDR-Führungsriege. Im Dritten Reich zur Schule gegangen, landet Großmann noch beim Volkssturm, von dem er umgehend abhaut, als sich die Gelegenheit ergibt. Großmanns sind eine Handwerkerfamilie, aber als der Vater aus der Gefangenschaft zurückkehrt, schließt er sich der KPD an. Am selben Tag tritt auch Sohn Werner bei, er ist gerade 17, aber auf der Suche nach einem Neuanfang für Deutschland und für sich selbst. Über die SED-Jugendorganisation FDJ landet er in einer Funktionärslaufbahn, die Führung entdeckt ihn als vielversprechenden „Kader“ und wählt ihn schließlich aus, die im Aufbau befindlichen „bewaffneten Organe“ zu verstärken.

Für Großmann, bis Oktober 1990 einer der ganz großen Unbekannten des ostdeutschen Geheimdienstes, ein Lebensweg, den er bis heute mit aller Überzeugung vertritt. Bei der FDJ verkehrten nicht nur Gleichaltrige, sondern auch Gleichgesinnte, begründet er seine Begeisterung für den Aufbruch in eine neue Zeit. Bauingenieur oder Lehrer habe er werden wollen, doch als dann jemand aus der Zentrale in Berlin auftaucht und ihn für eine nicht näher bezeichnete Schule werben will, lockt die Hauptstadt.

Großmann sagt Ja und ist auf einmal Mitarbeiter des „Außenpolitischen Nachrichtendienstes“ wie die spätere Hauptverwaltung Aufklärung (HVA) anfangs noch heißt. Aus der Sicht des Mannes, der der letzte Chef des vor allem in den 70er und 80er Jahren weltweit gefürchteten Spionagedienstes von Markus Wolf sein wird, ist das ein Job wie viele andere auch. Großmann, alten Fotos zufolge schon in seinen jungen Jahren ein fleischiger, robust wirkender Typ, hat nie etwas mitbekommen von illegalen Methoden, von der Erpressung von Zuträgern, von Machtkämpfen im Parteiapparat oder Mordplänen, die gegen Abtrünnige wie den MfS-Oberleutnant Werner Stiller oder den Fußballer Lutz Eigendorf geschmiedet worden sein sollen. „Gerüchte, mehr nicht“, sagt er. Es habe weder ein Mordkommando aus Offizieren gegeben, noch Pläne, den „Verräter“ Stiller mit Gewalt zurück in die DDR zu holen.

Überhaupt stellt Werner Großmann das MfS als ziemlich normale Behörde dar, etwas neurotisch, weil unentwegt in Angst, unterwandert zu werden. Aber selbst die Auslandsabenteuer seiner HVA erklärt der gebürtige Sachse mit der großen Systemauseinandersetzung. Die andere Seite sei nie besser gewesen, man selbst aber immer in besserer Absicht. Warum sich also Asche aufs Haupt streuen? Es geht schließlich darum Geschichte zu schreiben.

Sonntag, 1. Oktober 2017

Freddie Mercury: Wiedergeboren in Vincenza



Als Freddie Mercury im Jahr 1991 in London starb, zumindest für seine Fans plötzlich und unerwartet, wurde im italienischen Vincenza Giuseppe Malinconico geboren. Ein Zufall nur, natürlich. Aber wenn Malinconico heute mit seiner Band Break Free auf der Bühne steht, dann ist der Italiener mehr als einer der unzähligen anderen Sänger, die sich mal mit mehr, mal mit weniger Erfolg mühen, so auszusehen und zu klingen wie Farrokh Bulsara alias Freddie Mercury, zu Lebzeiten einer der besten wenn nicht, alles in allem der beste Sänger aller Rockbands.

Giuseppe Malinconico ist Freddie Mercury. Er geht so. Er steht so. Er trägt die gelbe Uniformjacke. Den Schnauzer. Das Unterhemd. Und er singt so. Zusammen mit Drummer Kim Marino, Bassist Sebastiano Zanotta und Gitarrist Paul Brigante übertrifft die Queen-Show der vier Italiener sogar das, was Brian May und Roger Taylor gerade als großen Queen-Film "Bohemian Rhapsody" mit Rami Malek in der Titelrolle inszenieren.

Bis ins Detail stimmt, was und wie Malinconico singt und spielt. Der 26-Jährige, ein kleiner Mann, der im Gespräch sehr bescheiden wirkt, macht aus den unsterblichen Queen-Hymnen kein Karaoke-Festival mit Blitz und Donner wie andere Queen-Cover-Formationen. Er klingt bis in die Stimmfärbung und ins Timbre wie das große Vorbild, dessen Lieder er schon mit fünf Jahren nachsang - zu einer Zeit also, als Queen für Hitparaden und Hipster kein Thema war.

Inzwischen ist das wieder anders. „Ich will kein Rockstar sein“, hat Mercury einmal gesagt, „ich will eine Legende werden!“ Bands wie Break Free zeigen, dass er es geschafft hat. Die von der ernsthaften Rock-Kritik selbst in den Tagen ihrer größten Erfolge nie anerkannte Band mit ihrem hedonistischen Sänger ist aufgerückt in die Ahnengalerie der Gegenkultur. Beatles, Stones, Led Zeppelin, Queen. Mercury, der von sich sagte „Exzess ist Teil meiner Natur. Langeweile ist eine Krankheit“, wäre stolz auf sich.

Und auf Giuseppe Malinconico, der mit Break Free nicht nur nachmacht, was Queen vorgegeben haben, sondern mit einem sinfonischen Queen-Programm sogar dorthin gehen, wo die echten Queen nie gewesen sind.

Mittwoch, 20. September 2017

Bundestagswahlkampf: Parolen am Rande der Wählerbeleidigung

Wenn nicht noch ein Wunder geschieht, wird Karamba Diaby am Ende sein Mandat verloren haben. Der Hallenser, der vor vier Jahren als erster schwarzer Bundestagsabgeordneter deutschlandweit Schlagzeilen machte, zahlt damit die Rechnung für einen SPD-Wahlkampf, der vom ersten Tag an unter keinem guten Stern stand. Katrin Budde, die Verliererin der Landtagswahl von 2016, bekam den zweiten Platz auf der Landesliste der SPD zugewiesen, augenscheinlich aus Dankbarkeit dafür, dass sie nach dem Wahldesaster vom März relativ schnell und still Platz für einen unvorbelasteten Nachfolger gemacht hatte.

Karamba Diaby aber kämpfte nicht einmal um Platz 2, der angesichts der Wahlergebnisse auch nur halbe Sicherheit für einen Wiedereinzug ins Parlament versprach. Stattdessen Parteidisziplin, weiter so, einfach mal hoffen.

Eine Strategie, mit der alle Bundestagsparteien am kommenden Sonntag noch einmal durchs Ziel gehen zu können hoffen. Als hätten sie alle vergessen, welchen fürchterlichen Denkzettel ihnen Sachsen-Anhalts Wähler vor anderthalb Jahren ausgestellt hatten, setzen sie durchweg erneut auf eine fast schon beleidigende Arroganz, für die ihre Wahlplakate exemplarisch stehen. "Erfolgreich", "sozial", "gerecht", "links, was sonst", "Kinder", "Zukunft, Fortschritt", "Kohle oder Klima", "es ist Zeit" und "Karamba", so und ähnlich steht es überall zu lesen.

Parolen am Rande der Wählerbeleidigung, nicht nur inhaltsleer, sondern peinlich bemüht, so etwas wie Inhalte gar nicht erst anzudeuten. Die Linke etwa plakatiert "Kinder vor Armut schützen", sagt aber nicht wie. Die FDP beklagt "Nichtstun ist kein Wirtschaftskonzept", verrät ihres aber auch nicht. Die Grünen ahnen: "Integration muss man umsetzen, nicht aussitzen". Die CDU in Halle schickt einen Christoph Bernstiel "für Sie in den Bundestag". Nicht, um dort irgendeine bestimmte Politik zu machen. Bei der SPD prangt Martin Schulz auf den Plakaten, die Zeile dazu lautet einfach nur "Martin Schulz". Die MLPD behauptet "Widerstand ist links". Und bildet dazu eine rechte Faust ab.


Es wirkt, als würden alle gerade so noch das tun, was sie tun, weil sie es eben tun müssen. Es gibt keine Leidenschaft, keinen Esprit, keine Überraschungen auf den Pappträgern, die für die meisten Wähler das einzig sichtbare Vorzeichen der Bundestagswahl sind. Was sie sehen, sind zwei-, drei- oder höchstens vierfarbige Plattitüden, ganze Straßenzüge tapeziert mit erdrückender Gedankenarmut und gestalterischer Einfalt. Überall prangen Schlagworte wie "Respekt", "Nähe", "Klima",  "Frieden" und Kinder", dazu gesellen sich austauschbare Slogans wie "der Treibstoff der Zukunft ist Mut" (FDP), "die Zukunft, für die wir kämpfen" (Linke), "die Zukunft braucht Ideen und einen, der sie durchsetzt" (SPD), "die Zukunft wird aus Mut gemacht" (Bündnis 90 Grüne) und "für ein Deutschland, in dem wir gut und gerne leben" (CDU). In der Zukunft natürlich.

Vielleicht weil es sonst keiner tut, bescheinigt sich die linke Spitzenkandidatin Sahra Wagenknecht einfach selbst "Glaubwürdigkeit". Der FDP-Spitzenkandidat, stylisch ins Bild gesetzt von Rammstein-Fotograf und Eagles-Videoregisseur Olaf Heine, verspricht "digital first". Die AfD zitiert den Gregor Gysi von 1994: Wähln Sie uns. Traun Sie sich. Sieht ja keiner.

Geht überhaupt mehr weniger Inhalt? Die CDU zitiert das "Respekt" von den Linken-Plakaten und plakatiert auch "Respekt". Die AfD zitiert das "Kinder" der Linken.  Die SPD hält mit "Mehr Gerechtigkeit" dagegen. Den Begriff, den die Linke nach eigenen Angaben "glaubwürdig" verkörpert. Die CDU zeigt eine kaum noch wiedererkennbare Photoshop-Bearbeitung des Gesichtes der Kanzlerin. "Erfolgreich für Deutschland" steht daneben.

Es ist wie in dem Kinderspiel mit dem Gruselgesang. "Dreh' dich nicht um, denn der Plumpsack geht um! Wer sich umdreht oder lacht, kriegt den Buckel schwarz gemacht." Nur dass hier nicht der Plumpsack umgeht, sondern der alte Elefant von der Landtagswahl, von dem immer noch nicht gesprochen und dem auf Wahlplakaten schon gar nicht widersprochen werden darf.

Ganze Straßenzüge liegen so unter dem Parolengewitter einer einzigen Partei. Die will "Grenzen schützen", "keinen Familiennachzug", "keine Eurorettung um jeden Preis", "mehr Polizei", einen Stopp von Schulschließungen, Bikinis statt Burkas und zwei Dutzend anderer Sachen. Konkret. Einfach. Unmissverständlich. Unverwechselbar.

Und niemand stellt sich den Populisten, niemand widerspricht den einfachen Botschaften und versucht wenigstens, den Plumpsack zu entzaubern. Es wird schon noch mal so gehen. Ein blaues Auge lässt sich doch ertragen. Das vom letzten Jahr ist ja schon fast verheilt.




Donnerstag, 14. September 2017

Atomkrieg: Der stille Tod des Retters der Welt


Er lebte ohne großen Ruhm, er starb arm und völlig unbemerkt, bis jetzt, sechs Monate nach seinem Tod,
eine Traueranzeige eines deutschen Freundes das Ende des Mannes öffentlich machte, der die Welt am 26. September 1983 vor dem atomaren Untergang rettete.

Oberstleutnant Stanislaw Petrow erklärte selbst später, man habe ihn und seine Genossen auf Tempo gedrillt. "Dass jemand nachdachte, war in diesem System nicht vorgesehen." Petrow, der 77 Jahre alt wurde, war so gesehen ein Fehler im System, ein Mann am falschen Platz, ein Rädchen, das nicht funktionierte wie es funktionieren sollte. Petrow, das kaputte Teilchen, hat damit die ganze Welt vor einem atomaren Schlagabtausch bewahrt.

Es war der 26. September 1983, als der studierte Radioelektroniker Dienst als Chef in der Kommandozentrale der sowjetischen Satellitenüberwachung hatte. Oberstleutnant Petrow saß vor dem Vorwarnsystem, das sich melden sollte, wenn die USA versuchten, einen Erstschlag mit nuklearen Interkontinentalraketen auf die UdSSR auszuführen. Die programmierte Reaktion war klar: Noch ehe die US-Sprengköpfe einschlügen, sollte Petrow die eigenen Atomraketen der Sowjetunion starten.

Plötzlich heult schrill die Sirene auf. Signaltafeln informieren zudem, dass ein US-Raketenstart "höchste Glaubwürdigkeit" habe. Petrow mag das aus einem Gefühl heraus nicht glauben. Dreißig Minuten bleiben, bis das Geschoss einschlagen wird. Petrow denkt nach, unter Zeitdruck. Er glaubt nicht an den Angriff, für den aber doch alle Hinweise sprechen. Er meldet seinem Vorgesetzten: Fehlalarm.

Eine einsame Entscheidung, die den Erdball vor dem nuklearen Holocaust rettet, dem Retter aber Ärger einbringt. Weil seine Entscheidung richtig war, bleibt Petrow unbehelligt. Doch weil er während der Minuten, in denen er entschieden hatte, kein Protokoll führte, blieb eine Ordensverleihung aus. Obwohl sich später herausstellt, dass das Frühwarnsystem Sonnenreflexionen auf Wolken in der Nähe der Malmstrom Air Force Base in Montana für Raketenstarts gehalten hatte.

Was bleibt ist, was nicht geschehen ist: Ohne die heute weitgehend vergessene Tat des Offiziers der der sowjetischen Luftverteidigungsstreitkräfte läge Europa heute noch in Trümmern.



Dienstag, 12. September 2017

Wahlkampf 2017: Das große Missverständnis



Unten die SPD-Anhänger mit ihren "Jetzt-wirds-Schulz"-Pappen. Daneben die Wutbürger unter Plakaten, auf denen Thälmann zu sehen ist, von dem behauptet wird, er würde AfD wählen. Herbst 2017, Wahlkampf in Heutschland, der Außenminister im blauen Hemd und ohne Krawatte vor einem Publikum, das nicht einfach nur gespalten, sondern gedrittelt ist. Hier die Fans. Dort die Neutralen. Und ganz laut die Protestler, die keinen Auftritt eines Politikers der "Altparteien" auslassen. Aber in Halle in diesem Wahljahr im Grunde genommen nur Sigmar Gabriel bekommen.

Der ehemalige SPD-Chef, im Amt des Außenminister zu einer schlanken Ausgabe seiner selbst geschrumpft, die elder statesman-mäßige Souveränität ausstrahlt, macht es seinen Gegnern leicht, in ihm einen der verhassten abgehobenen Durchreisenden aus der Berliner Republik zu sehen. Ins Pfeifen und "Arbeiterverräter"-Rufen hinein belehrt der studierte Lehrer ersteinmal über Thälmann, den Nahverkehrsstreik in Preussen und die Kumpanei zwischen KPD und NSDAP, der seine Partei, seinerzeit "die letzte demokratische" (Gabriel) zum Opfer fiel.

Das kommt gut an, selbst bei den alten Genossen direkt vor der Bühne, die einst stolz das rote Halstuch trugen und nun erfahren, dass Thälmann nicht gewesen ist, was man ihnen zeitlebens erzählt hat. Besser kann eine Rede, die zur Wahl der SPD auffordert, gar nicht anfangen. Zumal Sigmar Gabriel auch nicht den Fehler von Angela Merkel macht und denen, die vor der Bühne schreien, seine Meinung vorenthält. Ganz im Gegenteil.

Der höchste Diplomat Deutschlands ist heute als Kämpfer hier, ein Kerl, der klare Kante zeigt, wo es nach Lage der Dinge außerhalb der Landesliste seiner Partei sowieso nichts zu gewinnen gibt. "Sie können schreien, so viel Sie wollen", teilt er nach unten mit, "das Mikro ist immer lauter als ihr Pfeiffen." Er könne auch länger reden als andere schreien. "Wenn Sie wirklich glauben, dass mich das stört, dann kennen Sie mich schlecht." Er habe "mehr Luft als Sie - Sie haben allerdings mehr Luft in dem was Sie sagen."

Ein Moment, in dem das Missverständnis offenbar wird, das in diesen Tagen zwischen Regierten und Regierenden herrscht: Keiner mag zuhören. Jeder ist der Meinung, am Ende reiche es völlig, den anderen niedergebrüllt oder per Verstärkeranlage zum Schweigen gebracht zu haben. Meinungsstreit per Lungenvolumen. "Arbeiterverräter", ruft es unten. "Ich hoffe, Sie gehen wenigstens arbeiten", sagt Gabriel.

Es gewinnt, wer länger durchhält, nicht nur im Großen, sondern auch im Kleinen: Am Rande der Veranstaltung pöbeln Links und Rechts einander an, dass es fast schon nach Weimar riecht. Zum Selbstschutz filmen sich dabei stets beide Seiten, was zu neuen Pflaumereien führt, weil keine der beiden Seiten von der anderen gefilmt werden will.

Oh, Deutschland. "Wir stehen ja auch hier, damit Sie da unten protestieren können", sagt Sigmar Gabriel, ehe er warnt, dass das in einer Gesellschaft, "die diese Leute wollen", nicht mehr möglich sein werde. Zaghafter Applaus und dann "kommen wir mal zu dem, was uns beschäftigt". Das ist eine Wahlkampfrede im Plauderton, weiter dauerhaft überlagert von Pfeifen und Geschrei.

Nach einer halben Stunde verwarnt die Polizei einen besonders hartnäckig brüllenden Protestierer. Eine Minute später wird er von fünf Beamten davongetragen. Sigmar Gabriel stutzt und stoppt. Er könnte jetzt einen Punkt machen, wenn er fragen würde: "Halt, wo bringen Sie den Mann hin?" Und noch mal in Erinnerung brächte: "Wir stehen ja auch hier, damit Sie da unten protestieren können".

Doch stattdessen sagt Sigmar Gabriel: "Die Polizei wird wissen, was er gemacht hat". Und: "Sowas kommt von sowas".

SpiegelTV über ostdeutsche Wutbürger



Samstag, 9. September 2017

Möve-Bike: Fast wie Fliegen


150 Jahre nach der Erfindung des Tretlagers revolutionieren zwei Tüftler aus Thüringen das Fahrrad mit ihrem Cyfly-Antrieb. Hightech spart Körperkraft und macht das geschichtsträchtige Möve-Bike aus Mühlhausen zu einer Sensation.


Als die Kiste, heute unter dem Namen „Bernd, das Brot“ ein Teil der Firmengeschichte, zum ersten Mal vor ihm lag, war Tobias Spröte skeptisch. „Ein Tüftler aus Leipzig hatte uns mit der Idee infiziert“, sagt der 37-Jährige, der mit einem Partner zusammen gerade beschlossen hatte, die alte Möve-Bike-Tradition seiner Heimatstadt Mühlhausen wiederzubeleben. „Möve war neben Diamant und Mifa einer der großen Fahrradhersteller der DDR“, beschreibt Spröte, dessen Großvater für die Firma gearbeitet hatte. Anfang der 60er aber kam das Aus, als die DDR-Führung beschloss, „dass zwei Fahrradmarken reichen“.

Wie es der Zufall will: Der 86-jährige Erfinder aus Sachsen hatte als Kind auf einem Möve-Rad Fahrradfahren gelernt und legte Spröte, inzwischen Chef eines Ingenieurbüros in Mühlhausen, deshalb seine Pläne vor, die seit 150 Jahren übliche Bauweise einer Fahrradtretkurbel zu revolutionieren. „Der Zahnkranz ist nicht mehr rund, sondern exzentrisch“, beschreibt Chefentwickler Marcus Rochlitzer, „dadurch verkürzen sich die Phasen, in denen das Bein keinen Druck auf die Pedale ausübt.“ Was technisch klingt, probierten die beiden Ingenieure Rochlitzer und Spröte mit eben jenem ersten, unförmigen Prototyp „Bernd, das Brot“ aus. „Das war ein Riesenkasten, in dem wir das Prinzip in der Praxis getestet haben.“

Bernd das Brot funktioniert


Es funktioniert. Ohne die toten Phasen der Trittbewegung liefert ein Radfahrer seinem Bike bis zu einem Drittel mehr Leistung, die direkt in die Vorwärtsbewegung fließen kann. „Unser Problem war nur, dass wir ja einen Antrieb bauen mussten, der auch unter Alltagsbedingungen funktioniert“, erklärt Marcus Rochlitzer.

Ein schweres Stück Arbeit für das Ingenieurbüro, das hauptsächlich für die Automobilindustrie arbeitet. Aber gerade weil sich der neue Fahrradantrieb anfangs nach Kräften dagegen wehrte, zu einem wirklichen Produkt zu werden, lassen die Frauen und Männer um Rochlitzer und Spröte nicht nach. „Wir haben manchmal dagesessen und nicht weitergewusst“, gibt der gebürtige Mühlhäuser Spröte zu. Und Rochlitzer, der aus einem Dorf in der Nähe von Eisenach stammt, umreißt das Grundproblem: „Im Maschinenbau gibt es hochpräzise Bauteile oder fürchterlich schwere, wir aber brauchten leider etwas genau dazwischen.“

In einer Kaffeepause, als die ganze Truppe einmal mehr verzweifelt vor der großen Wandtafel sitzt und über den dort bis heute vermerkten Kraftfluss-Formeln brütet, gelingt der Durchbruch. „Der Gedanke, dass ein unendlich langes Pendel den Radius eines Kreises als Linie zieht, änderte alles.“ Der aus dem Ideenblitz entwickelte Cyfly-Antrieb staucht den Trittkreis, indem er an den Totpunkten aus- und einfährt. „Cyfly ist wie ein Uhrwerk mit verschiedenen Zahnrädern, die den Tritt besser ausnutzen“, erklärt Tobias Spröte. Fahrer spüren es sofort: Das Rad kommt zackiger in Gang, der Kraftaufwand ist niedriger. Fast wie Fliegen fühlt sich das an. Das Kunststück dabei ist, den Zusatzaufwand an Zahnrädern so gering zu halten, dass nicht Extragewicht den Effizienzgewinn auffrisst.

Fünf Jahre zur Revolution


Fast fünf Jahre hat es die Möve-Macher und ihr zwölfköpfiges Entwicklerteam gekostet, bis das System in Zusammenarbeit mit Biomechanikern der Uni Leipzig, den Kugellagerspezialisten von Schaeffler und Getriebeexperten der Eisenacher Mitec GmbH serienreif war.

Bei 16 Kilo sind sie jetzt, das sind anderthalb mehr als bei einem Rad von der Stange. „Man merkt vom Mehrgewicht nichts, die Wirkung des Antriebs aber ist zu spüren“, sagt Spröte. Nebenbei sammelten die beiden Gründer Start-up-Preise, Investorenmillionen und bei einem US-Gastaufenthalt für Jungunternehmer gute Tipps von Anlageprofis. „Wir sollten unseren Antrieb an große Hersteller lizensieren“, erinnert sich Rochlitzer, „das bringe schneller Umsatz und höhere Gewinne.“

Mit Mifa nebenan in Sangerhausen haben sie dann tatsächlich auch mal gesprochen. Aber je tiefer der Einblick in die Mechanismen des Fahrradgeschäfts, desto größer die Ernüchterung bei den Newcomern. „Da geht es um viel und billig“, sagt Spröte. Der Acht-Dollar-Rahmen aus Taiwan, bisschen Blech gebogen und ein paar Löcher rein, winkt er ab. „Dann geht das für 300 Euro über den Ladentisch.“ Aber auf die Art würde es nichts mit dem innovativen neuen Rad in der stolzen Möve-Tradition, von dem die Mühlhäuser träumen. „Gibt man die Lizenz weg“, sagt Tobias Spröte, „schrauben die den Cyfly einfach an irgendeinen Rahmen dran.“

Ein Produkt mit Leidenschaft


Rochlitzer und Spröte, beide von Haus Konstruktionssystematiker, wollten ein Produkt mit Leidenschaft, ein Fahrrad, „an dem alles stimmt, weil es so passt, wie wir uns das vorstellen“. Ein Fahrrad, perfekt wie ein iPhone oder eine Tesla-Limousine, stimmig bis ins letzte Detail. Also gehen sie mit Möve Bikes den anderen Weg: selber machen, damit „die Kontrolle bei uns liegt“.

Produziert wird im Moment in einer Werkstatt im Erdgeschoss des Firmengebäudes, ein paar Dutzend Räder schafft die Manufaktur pro Woche. Nächstes Jahr steht der Umzug in eine große Halle auf einem ehemaligen Kasernengelände an, wo dann im Zellenprinzip Cyflys montiert werden; geplant sind 1 000 bis 2 000 im Jahr. „95 Prozent der Teile sind Made in Germany, das meiste kommt sogar aus Thüringen und Sachsen“, erklärt Tobias Spröte. Steht die neue Fahrradfabrik, soll auch die Rahmenfertigung aus Tschechien nach Mühlhausen geholt werden. Möve solle nicht nur für einen neuen innovativen Antrieb stehen, sagt Spröte, „sondern auch für den Anspruch, viele andere Kleinigkeiten am Rad besser zu machen - und das in höchster Verarbeitungsqualität“. Verkauft wird über den Fachhandel, aber mit einem neuen Konzept, das Spröte und Rochlitzer aus der Autobranche entlehnt haben.

Wie viel Spaß die beiden Männer hinter der wiederbelebten Möve-Marke an ihrem Baby haben, ist nicht zu übersehen. Der Lack, die Verschraubungen, die Bowdenzüge - das erste Möve-Modell „Franklin“ ist ein Augenschmaus. Marcus Rochlitzer schwärmt schon davon, mit der nächsten Generation „noch mal in die Ingenieurtrickkiste zu greifen und Carbon für den Antrieb zu verwenden“. Und Tobias Spröte sieht im Cyfly heute schon mehr als eine Alternative für enttäuschte E-Bike-Fahrer. „Viele sind da genervt vom Kettenblattverschleiß, von schwachen Batterien und hohem Gewicht.“ Andere suchten gerade im Elektro-Hype nach einer Rückkehr zum ursprünglichen Radfahren, nur eben mit höherer Effizienz. „Das ist genau unser Thema, smartere Räder, vielleicht dann später auch mal kombiniert mit einem Elektroantrieb.“

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