Freitag, 21. September 2018

Dean Reed: Genosse Cowboy und der rätselhafte Tod


Als Dean Reed vor 32 Jahren starb, war er fast vergessen. Sein Tod hat seitdem für Spekulationen gesorgt - obwohl der Sänger, der heute 80 Jahre alt werden würde,  freiwillig aus dem Leben geschieden war. Er hatte die Ranch in Texas gegen ein Seegrundstück nahe Berlin getauscht, den Erfolg in den amerikanischen Billboard-Charts gegen Auftritte in der FDJ-Sendung "rund", den Jubel des Madison-Square-Garden gegen den Applaus der Menschen im Arbeiterklubhaus Bitterfeld.

Dean Reed, dessen Leiche ein aufmerksamer Wasserschutzpolizist am 17. Juni 1986 am Schilfgürtel in der Nähe des Badestrandes südlich des Zeltplatzes Nummer 2 am Zeuthener See entdeckte, ließ Zeit seines Lebens keinen Zweifel daran, auf welcher Seite er stehen wollte. Der Sohn eines Mathelehrers, aufgewachsen auf einer Hühnerfarm in Weath Ridge unweit von Denver/Colorado, sah sich als Sänger des besseren, des moralisch sauberen Amerika. Reed war an der Seite der "fortschrittlichen Menschen" unterwegs, die Welt zu einem besseren Ort zu machen. Sein seltsames Schicksal nahm 1971 seinen Anfang, als der attraktive US-Schauspieler Ehrengast beim Dokumentarfilmfest in Leipzig war - und sich dort für die junge Wiebke erwärmt. Es muss Liebe auf den ersten Blick gewesen sein, denn schon ein Jahr später heiratet das Paar.

Für den aus Colorado stammenden Sänger, Schauspieler, Friedenskämpfer, Rebell und Frauenschwarm  ändert sich damit das ganze Leben. Dean Reed lebt ab 1972 "als singender Cowboy der DDR" im Arbeiter- und Bauernstaat. Hier wird er viele Jahre später auch sterben - und sein mutmaßlicher Freitod im Jahr 1986 wird noch viel länger geheimnisvolle Gerüchte nähren, die Staatssicherheit habe den Star ermordet.

Dabei war Dean Cyril Reed, mit zehn Jahren auf Wunsch des Vaters an einer Kadettenakademie eingeschrieben, überhaupt nur zufällig Popstar geworden. Als er nach dem Abschluss an der Highschool quer durch die USA fuhr, vermittelte ihm ein Tramper, den er mitgenommen hatte, den Kontakt zum 

Er hatte die Ranch in Texas gegen ein Seegrundstück nahe Berlin getauscht, den Erfolg in den amerikanischen Billboard-Charts gegen Auftritte in der FDJ-Sendung "rund", den Jubel des Madison-Square-Garden gegen den Applaus der Menschen im Arbeiterklubhaus Bitterfeld. Bei den Weltfestspielen in der DDR fühlt er sich geliebt wie daheim in den USA, als alles begann. 

Reed, dessen Leiche ein aufmerksamer Wasserschutzpolizist am 17. Juni 1986 am Schilfgürtel in der Nähe des Badestrandes südlich des Zeltplatzes Nummer 2 am Zeuthener See entdeckt, ließ Zeit seines Lebens keinen Zweifel daran, auf welcher Seite er stehen wollte. Der Sohn eines Mathelehrers, aufgewachsen auf einer Hühnerfarm in Weath Ridge unweit von Denver im US-Bundestaat Colorado, sah sich als Sänger des besseren, des moralisch sauberen Amerika. Reed war an der Seite der "fortschrittlichen Menschen" unterwegs, die Welt zu einem besseren Ort zu machen. Er war kein Kommunist, aber als Sozialist hätte man ihn in den USA durchaus einordnen können.

Vor allem in Südamerika lieben die Menschen den "Magnificent Gringo", der jedem offen entgegentritt, nicht belehrt, sondern sich lieber belehren lässt. Reed hört zu, er zeigt sich als empathischer Mensch, der an Ungerechtigkeiten leidet, für die sein Heimatland aus seiner Sicht die Verantwortung trägt. Vor aller Augen wird aus dem naiven Country-Sänger ein politisch denkender Künstler, der seinen eigenen Kopf hat. In Peru schreibt Dean Reed seiner Regierung einen Brief, in dem er gegen amerikanische Kernwaffentest protestiert, er freundet sich mit linken Gewerkschaftern an und fährt als Delegierter zum Weltfriedenskongress nach Helsinki.

Der Sänger des anderen Amerika

Danach ist das Leben des jungen Stars
 nicht mehr dasselbe. Er besucht die Sowjetunion und darf dort sogar auf Tournee gehen. Während die Fans in den USA ihn vergessen haben, liegen sie ihm zwischen Moskau und Perm zu Füßen. Reed ist im Osten Ersatz für Beatles und Stones. Schließlich verschlägt es ihn in die DDR, wo er einen Film über Chile vorstellt und sich Hals über Kopf in Wiebke verliebt. 

Es ist der letzte Wendepunkt im Leben des Genossen Cowboy, der in den 13 Jahren bis zu seinem rätselhaften Freitod für die einen zum roten Elvis und für die anderen zum roten Tuch wird. Den DDR-Mächtigen gilt der Seitenwechsler als Glücksfall. Der Amerikaner ist für die DDR ein Propagandacoup. Er 
wird direkt von der Abteilung Agitation des SED-Zentralkomitees betreut und lebt in der DDR ein Leben, das mit der DDR nicht viel zu tun hat. Reed gehört zu den oberen Zehntausend im Arbeiter- und Bauernstaat. Er genießt zahlreiche Privilegien, er kann reisen, er hat Zugang zu raren Waren, an denen es sonst überall mangelt in der Mangelwirtschaft des Sozialismus, der sich selbst als gerechte, klassenlose Gesellschaft lobt.

Der Paradiesvogel im grauen DDR-Kulturbetrieb dreht Filme und spielt Platten ein, besucht Kubas Revolutionsführer Fidel Castro und Palästinenserchef Jassir Arafat. Er dreht das große Rad im kleinen Staat und avanciert nach Ansicht des "People's Magazine" zum "größten Star der Popmusik von Berliner Mauer bis Sibirien". Der Sunny-Boy sonnt sich in seinem Ruf und prominente Revolutionäre suchen seine Nähe. Er bekundet, dass er "im Chile der Unidad Popular eine zweite Heimat gefunden" habe. "Und dieses wunderschöne Land mit seinen wunderbaren Menschen ist mir auch heute noch Heimat. Denn die Zeit der faschistischen Herrschaft über Chile wird vor der Geschichte nur eine Episode bleiben. Aber jedes Gespräch, das ich dort hatte, jeder Händedruck, den ich getauscht habe, jedes Lächeln, das mir zuteil geworden ist - all das ist mir unvergesslich geblieben", schwärmt er.  

Seitenwechsler als Symbol


Bald ist der Seitenwechsler mit dem chilenischen Präsidenten Salvador Allende und mit Palästinenserführer Jassir Arafat befreundet, er protestierte gegen die US-Regierung, gegen Diktaturen und den Vietnamkrieg, verbindet das aber mit Exotik des Countrymusim singenden Amerikaners im DDR-Fernsehen und Star in Defa-Filmen, in denen er etwa im Indianerfilm "Blustbrüder" einen desillusionierten US-Soldaten spielt, der sich nach einem Massaker der US-Kavallerie an einem unschuldigen indigenen Stamm die Barthaare einzeln herausreißt, um wie sein Freund, ein Stammeshäuptling, Indianer zu werden.

Der junge Amerikaner, erstmals aufgefallen, als es ihm gelingt, ein 110-Meilen-Rennen gegen ein Maultier zu gewinnen, weshalb er Probeaufnahmen machen darf, die ihm auf einen Schlag einen lukrativen Sieben-Jahres-Vertrag einbringen, ist wieder ein Star, aber kein kleiner mehr wie daheim, sondern ein großer.

Das wollte  er von Anfang an und anfangs ließ es sc auch gut an. Mit Songs wie "Summer Romance" entert er die US-Hitparaden, bald hagelt es Filmangebote und Touranfragen aus dem Ausland. Dean Reed, von Fans umschwärmt und von den Frauen vergöttert, schwebt durch die frühen Jahre seiner Karriere: Das Leben ist ein Traum, die Welt viel größer, als es von Wheat Ridge aus den Anschein hatte.

Am Ende großer Tage


Doch dann neigen die großen Tage sich dem Ende zu. Zwar findet Dean Reed nach der Trennung von seiner ersten DDR-Frau in der Schauspielerin Renate Blume schnell eine neue große Liebe. Mit der Sommerkino-Klamotte "Sing, Cowboy, Sing" gelingt ihm sogar ein echter Kassenknaller. Der Exotenbonus aber, den der Kommunist mit US-Pass in den 70ern noch genoss, hat sich verbraucht. In den 80ern ist Reed für viele DDR-Bürger nur ein staatsnaher Stetson-Träger, der keine Ahnung vom wirklichen Leben in seiner Wahlheimat hat. Sein Protest gegen die US-Regierung, gegen Diktaturen und den Vietnamkrieg, das Foto mit der Gitarre in der einen und einer Kalaschnikow in der anderen Hand, sie gelten den normalen DDR-Bürgern als Zeichen nicht für Rebellentum, sondern für Opportunismus.

Privat ist Dean Reed auch nicht immer fein. Er hat Geliebte neben seinen Ehefrauen, beim ihnen genießt er die Reste seines Ruhmes.  So lange es ihm selbst gefällt. Als eine von ihnen ihm lästig wird, wirft er aus dem Haus. Die Frau versteht  die Welt nicht mehr, wie sie im Film "Der rote Elvis" erzählt : "Ich dachte, ich spinne - der große Kämpfer für Frieden und Gerechtigkeit in aller Welt schmeißt eine Frau einfach so aus dem Haus."

Er versteht es doch


Der Amerikaner versteht das alles nicht. Und er versteht es doch.  Denn er merkt zunehmend, dass auch in der DDR einiges im Argen liegt. So faucht er 1982 Volkspolizisten laut Protokoll der Beamten an, als sie ihn wegen einer Geschwindigkeitsübertretung anhalten: "Die Staatslimousinen, die mich gerade mit 160 km/h überholt haben, schreibt ihr nicht auf. Das ist ja wie ein faschistischer Staat hier. Ich habe das langsam wie die meisten der 17 Millionen in diesem Land bis hierher satt!"

Fast klingt er da wieder wie der junge Mann, der, am 1. September 1970 vor dem Konsulat der USA in der chilenischen Hauptstadt Santiago die amerikanishe Flagge wäscht. Eine Symbolhandlung, die Reed so begründet: "Die Flagge der USA ist befleckt mit dem Blut von Tausenden vietnamesischer Frauen und Kinder, die bei lebendigem Leibe von dem Napalm verbrannt worden sind, das von amerikanischen Aggressionsflugzeugen aus dem einzigen Grund abgeworfen worden ist, weil das vietnamesische Volk in Frieden und Freiheit, in Unabhängigkeit und mit dem Recht auf Selbstbestimmung zu leben wünscht." Auch sei die Flagge der USA "befleckt mit dem Blut der Schwarzen Bürger der Vereinigten Staaten, die von einer Polizei des Völkermords aus dem einzigen Grund in ihren Betten ermordet worden sind, weil sie in Würde und mit den vollen Bürgerrechten eines Bürgers der Vereinigten Staaten zu leben wünschen."

Der Flaggenwäscher


Die Flagge der USA, gewaschen vor den "Völkern der Welt", das gefällt Dean Reed , der "Blut und Qual von Millionen Menschen in vielen Ländern Südamerikas, Afrikas und Asiens, die gezwungen sind, in Elend und Ungerechtigkeit zu leben, weil die Regierung der Vereinigten Staaten die Diktaturen unterstützt" als seine eigene Verantwortung wahrnimmt. 

Die Liebe der Menschen in der DDR ist flüchtig, Und als sie fort ist, gewinnt er sie nicht zurück. Reeds Platten liegen wie Blei in den Läden. Neue Filmprojekte werden ihm zwar noch angeboten, aber nicht mehr verwirklicht. Dem Mann, der seiner Umwelt ganz amerikanisch stets beweisen wollte, dass er der Beste ist, tut das weh. Dean Reed beginnt zu trinken. Parallel streckt er seine Fühler zu alten Freunden nach Amerika aus, um vorzufühlen, wie es denn wäre, wenn er zurückkäme.

Anfang Juni 1986 erleidet er einen Herzanfall. Kurze Zeit darauf droht er nach einem Streit mit seiner Frau, sich umbringen zu wollen. An einem Tag im Juni 1986 verschwindet er plötzlich. Seine Witwe erinnert sich: Es ist ein Donnerstag, dieser 11. Juni, als Reed sich abends ins Auto setzt, angeblich um nach Babelsberg zu fahren. "Er packte seine Tasche und sagte, er gehe zu den Menschen, die ihn lieben. Dabei gab er jedoch kein konkretes Reiseziel an", berichtigte seine Frau später.  

Nie irgendwo angekommen


Wohin auch immer, nirgendwo ist Dean Reed je angekommen. Am Ufer des Zeuthener Sees bei Berlin wird Dean Reed wenige Tage später tot gefunden, in seinem Lada findet die Polizei erst vier Tage darauf einen 15-seitigen Abschiedsbrief: "Mein Tod hat nichts mit Politik zu tun", schreibt Reed darin, "aber ich kann keinen Weg finden aus meinen Problemen." Dennoch verschwindet das 15-seitige Schrfeiben bis zum Ende der DDR in den Stasi-Akten. 

Aber der Tod war ein Politikum allerersten Ranges. Honecker persönlich, den Reed im Brief ausdrücklich grüßt, gab die Parole vom Unglücksfall aus. Im Westen tauchte die Vermutung auf, die Stasi könnte den Künstler beseitigt haben, weil er plante, in die USA zurückzukehren. Bis heute halten sich Mutmaßungen, der Abschiedsbrief könne von der Stasi selbst verfasst worden sein. 

Reeds Urne wurde erst 1991 in die USA überführt.

Dienstag, 18. September 2018

Frank Turner: Ein Mann mit Mission



Er zählt sie immer noch, seine Auftritte. Vom ersten an, den er damals im September vor 14 Jahren spielte, als sich seine Band Million Dead aufgelöst hatte, kommt der britische Musiker und Sänger Frank Turner bis heute auf 2 223 Live-Shows, in denen er seinen Lagerfeuer-Punkrock von großen und kleinen, manchmal aber auch von keinen Bühnen gesungen hat. Immer sprüht der 36-Jährige vor Temperament, immer zündet er sein Publikum an, weckt er Begeisterung bis hin zur schieren Euphorie.

Ein langer Weg, der inzwischen in die großen Hallen und - bei der Eröffnung der Olympischen Spiele in London - sogar in die Stadien der Welt geführt hat. Doch Turner, in Bahrain geboren, im südenglischen Winchester aufgewachsen und im Elite-Internat Eton ausgebildet, hat sich den Erfolg auf die harte Tour erarbeitet. Seit zwölf Jahren spielt er nie weniger als 160 Konzerte im Jahr, meist aber über 200. Alle zwei Jahre gibt es ein neues Album, das stets Turners Philosophie folgt: Ehrliche Musik, handgemacht, quer zum Zeitgeist gedacht und nie auf kommerziellen Erfolg kalkuliert.

Der Mann mit dem Dreitage-Bart und dem Universitätsabschluss in Europäischer Geschichte bleibt seiner Mission auch beim Nachfolger seines bislang erfolgreichsten Werkes "Positive songs for negative people" treu. "Be more kind", zu deutsch ein Aufruf, freundlicher zueinander zu sein, in Zeiten, in denen Wut, Zorn und Hass die Welt zu regieren scheinen, ist eine Sammlung von 13 Songs, die Turners Fähigkeit, nach Belieben unwiderstehliche Melodien zu erfinden, mit seinem Händchen für Sounds zwischen Rock und Folk verbinden, dazu aber erstmals auch fast schon poppige Synthesizer addiert.

Ein Album, das mehr sein will als Musik, denn Frank Turner, der seine Karriere mit entschieden politischen Texten startete, hat beschlossen, dass es Zeit ist, dorthin zurückzukehren, wo er einst mit Million Dead und dem ruppig eingespielten Liebeslied "Smiling at strangers on trains" angefangen hatte. "Stop asking musicians what they think", heißt es in "1933", einem Lied, das zu zackigen Akkorden den Karl-Marx-Spruch von der Geschichte zitiert, die sich als Farce wiederholt. Ehe Frank Turner mit kippender Stimme warnt: "Glaub' bloß nicht, dein brennendes Haus sei die Morgendämmerung".

Es ist viel schlimmer. "Die Welt draußen brennt mit einem neuen Licht", reimt Turner, "aber es wärmt mich nicht." In 45 Ländern der Erde hat Frank Turner seine 2 223 Konzerte gespielt, er war nicht nur in Wohlfühlzonen wie Deutschland, Estland oder den USA unterwegs, sondern auch in Indien, Sierra Leone und Südafrika. Das weitet den Blick, das brachte Turner zur Überzeugung, dass er zwar keineswegs die Verpflichtung habe, seine Ansichten zu äußern. "Künstler müssen das nicht, sie können mit ihrer Kunst ausdrücken, was immer sie wollen", sagt er. Das sei aber nur die eine Seite. "Die andere ist, dass jeder Künstler natürlich das Recht hat, sich zu allem zu äußern."

Turner, in den vergangenen zehn Jahren Mitbegründer einer Rockschule, in der Leute wie Jake Bugg, Passenger, Jayke Orvis oder Chuck Ragan sich abwandten vom traditionellen Rockgeschäft und eine Rückkehr zu den wahren Werten des Rock predigten, der Echtheit über Vermarktungschancen stellt, zieht mit seiner Stammband The Sleeping Souls alle Register zwischen Wut auf die Welt, Tröstung der Enttäuschten und Wunschgesang. Im sparsam instrumentierten Opener "Don't worry" umarmt eine sanfte Melodie die Mühseligen und Beladenen. "Du bist nicht allein", heißt die Botschaft, die am Ende ein summender Chor zu gospelartigem Klatschen singt. Es folgt "Little Changes", ein Stück über Entfremdung, in dem Turner angstlos raunt, dass die großen Dinge sich schnell ändern können, wenn "wir die kleinen Dinge ändern". Welche? Der Titelsong gibt Frank Turners einfache Antwort: In einer Welt, die sich entschlossen hat, verrückt zu werden, hindert uns doch niemand daran, wenigstens nett zu einander zu sein.

Der Sänger selbst ist es bloß nicht, wenn es seinen aktuellen Lieblingsgegner Donald Trump betrifft, den er mit dem betont holprigen Kracher "Make America great again" verhöhnt, den er schon schrieb, ehe Trump gewählt wurde. Danach aber fährt der Ex-Punk und Pop-Philosoph die Schmeichler, Schüttler und Überlebenshymnen auf. "Brave Face", "There she is" und "21st Century Survival Blues" zeigen Frank Turner als unübertroffenen Meister der großen Gefühle. Leise und laut, mitsingkompatibel und dahingehaucht - der nette Punk-Missionar weiß genau, was er kann.

Direkt zum Künstler:
www.frank-turner.com

Montag, 3. September 2018

Horror: Letzte Schlacht mit Happy End


Die Anerkennung von denen, auf deren Anerkennung er nie Wert gelegt hat, ist spät gekommen. Aber Stephen King, inzwischen jenseits der 70, hat sowieso nicht gewartet auf das Lob des Feuilletons, den National Book Award und die Anerkennung der großen Hollywood-Studios. Also zumindest nicht öffentlich.

King, der sein Debüt „Carrie“ mit Mitte 20 in einem ärmlichen Wohnwagen schrieb, wenn ihm der Brotjob als Englischlehrer Zeit ließ, hat einfach geschrieben, immer weiter, Bestseller auf Bestseller, von einer treuen Fangemeinde weggefressen wie von Säure. 77 Bücher hat King in den letzten 44 Jahren produziert, zuletzt sogar in schnellerer Abfolge als Anfang des Jahrtausends. „Der Outsider“, sein neuestes Werk, ist das neunte neue Buch in den letzten fünf Jahren, nicht mitgerechnet allerlei Kurzgeschichten und Kurzgeschichtensammlungen.

Das ist einerseits so viel Stoff, dass auch dem Meister des milden Grusels allmählich die Sujets ausgehen. Andererseits aber führt dieser Mangel an bahnbrechend neuen Ideen King zum Glück genau dorthin zurück, wo er einst mit „Carrie“ startete und auch später immer wieder seine besten Momente hatte: In eine kleine Stadt, zu einfachen Leuten mit überschaubar komplexen Problemen. Menschen, die sich seit Jahren kennen, die einander vertrauen. Bis eines Tages etwas geschieht, das alles auf den Kopf stellt, was alle bis dahin voreinander geglaubt und gewusst haben.

In Flint City im Bundesstaat Oklahoma, den der erbitterte Trump-Gegner King gewählt haben mag, weil sich hier - im Gegensatz zu seinem üblichen Handlungsrevier Maine - eine Mehrzahl der Wähler vor zwei Jahren für Trump entschied, endet die Normalzeit mit einem grausamen Mord an einem kleinen Jungen. Für Detektive Ralph Anderson kein schwerer Fall: Es gibt jede Menge Zeugen, die den Täter gesehen haben, Fingerabdrücke und DNA-Spuren. In einem Akt demonstrativer Staatsgewalt lässt Anderson den Täter Terry Maitland festnehmen, während die Nachwuchs-Baseballmannschaft des allseits beliebten Familienvaters sich gerade müht, das Halbfinale der Meisterschaft zu überstehen.

1 500 Augenzeugen. Eine Vorverurteilung wie ein Fallbeil. Nichts wird mehr gut werden in dieser Geschichte, die sich liest wie ein Kriminalroman von John Grisham. Denn der angebliche Täter hat ein felsenfestes Alibi, er kann es nicht gewesen sein, weil er unter Zeugen ganz woanders war. Was also ist die Wahrheit? Gibt es überhaupt eine? Oder zwei?

Stephen King spielt mit alternativen Fakten, mit abweichenden Wirklichkeiten und der Wahrscheinlichkeit, dass es zwischen Himmel und Erde vielleicht doch mehr Dinge gibt, als Schulweisheit sich erträumen kann.

Sherlock Holmes Satz „Wenn man alle logischen Lösungen eines Problems eliminiert, ist die unlogische, obwohl unmöglich, unweigerlich richtig“ ebnet den Weg in eine zweite Romanrunde, in der aus der Kleinstadtnovelle um die Geschichte eines zu Unrecht beschuldigten Vorzeige-Amerikaners die - lose - Fortsetzung von Kings Trilogie um „Mr Mercedes“ wird. Zwar ist deren Hauptheld Bill Hodges tot, doch in dessen findiger Ex-Assistentin Holly Gibney findet Ralph Anderson eine - im Kampf gegen den Mercedes-Killer Brady Hartsfield übersinnlich gestählte - Mitstreiterin.

Ein Schlüsselroman über amerikanische Verhältnisse in der Ära Trump, in der die Monster sich verwandeln, die Silhouetten, Gesichter, ja, gar Fingerabdrücke von Nachbarn, Freunden und Verwandten annehmen. Und Realität nicht mehr ist, was wirklich ist. Sondern was sein könnte: Der nette Mann von nebenan ein Killer und Kannibale, seine Frau der Komplize, sein ganzes Leben Fassade. Den Mob, der vor dem Gericht auftaucht, nichts wirklich wissend, aber nach sofortigen Konsequenzen verlangend, könnte Stephen King aus der deutschen Gegenwart abgemalt haben.

Aber letzten Endes schreibt King, der kommenden Monat 71 Jahre alt wird und schon zwei Monate später ein neues, wenn auch recht dünnes Buch namens „Erhebung“ herausbringen wird, weder Detektivromane noch Politthriller. „Der Outsider“ wird hier nicht erklärt oder begründet, er braucht keine Motivation als die, eben das sein zu müssen, was Kings Helden nie sind: Böse.

Was aber ist das Rezept, um diese Schlacht des Guten gegen das Schlechte zu gewinnen, in dem Krieg, den Stephen King in all seinen Büchern beschreibt? Nun, der von Schuldgefühlen gequälte Polizist Anderson, die von ihrem Vorbild verlassene Privatdetektivin Holly Gibney und ihre bunte Schar Verbündeter finden, was heute kaum noch jemand sucht: Glauben, was wahr ist. Sagen, was klar ist. Einander vertrauen und nicht auf die Einflüsterungen derer hören, die ganz andere Interessen haben. Dann gibt es auch ein Happy End. Mit Tränen zwar. Aber bis zum nächsten Mal.

Donnerstag, 23. August 2018

Gerhard Gundermann: Der tiefe Fall von "Grigori"

Er wollte damals nichts mehr sagen. Gar nichts. Er wollte auch nicht, dass noch etwas geschrieben wird. "Lasst mich doch in Ruhe", meckerte Gerhard Gundermann damals, 1995,, "ich hab' genug am Hals wegen dieser Kiste." Die Kiste, das ist Gundermanns Vergangenheit. Mit elf Jahren Verspätung kehrte sie zurück: "Gundi", der singende Baggerfahrer, der in den neuen Bundesländern als eine Art Sprachrohr ostdeutschen Selbstbewußtseins galt, war zwischen 1976 und 1984 nicht nur Texter und Komponist für den FDJ-Singeklub "Brigade Feuerstein" gewesen. Sondern nebenbei auch noch der "IM Grigori" der Staatssicherheit.

Als Grigori gab Gundermann Briefe von Freunden ans MfS weiter. Er meldete Singeklub-Kollegen, die sich von einer Westtournee Funkgeräte mitbrachten. Und er teilte dem "Organ" alles mit, was er über die intimen Kontakte einer Bekannten zu einem französischen Bauarbeiter wusste. Gundermann war ein guter Spitzel. Der IM sei "ehrlich und zuverlässig", lobte sein Führungsoffizier, seine Berichte wurden als "umfassend und objektiv" geschätzt. Das MfS belobigt den "Kämpfer Grigori" mit der "Arthur-Becker-Medaille" und einer Obstschale, wie in Andreas Dresens neuem Film "Gundermann" zu sehen ist..

Alles wie immer


Und nun steht er da: Im blauweiß gestreiften Fleischerhemd wie immer, die Augen hinter der großen Goldrandbrille versteckt wie immer, und alle paar Minuten mit der Nase schniefend. Wie immer.

Nur die Leute beobachteten ihn seitdem reservierter, schien ihm. Aber das könne Einbildung sein. Viele wüssten es ja noch gar nicht. Denen sagte er es dann selber: "Ich habe mit dem MfS geredet", schnüffelte Gerhard Gundermann im Konzert gleich nach dem ersten Lied ins Mikrophon, "und dazu stehe ich." Jetzt, wo die Akte nun mal "raus" sei, wie Gundermann es nennt, wolle er "offensiv damit umgehen". Die Fans hier in Berlin, wo Gundermann den ersten Auftritt nach der "Kiste" hatte, klatschten solidarisch.

Die Karriere des Sängers aber, der hauptberuflich nach wie vor als Förderbrückenführer in einem Tagebau bei Cottbus arbeitet und in Ostdeutschland nicht zuletzt dieser Tatsache wegen als moralische Institution galt, war zu Ende. Alle Türen, die dem Vierzigjährigen gerade noch weit offenzustehen schienen, waren plötzlich zugeschlagen. Die große Plattenfirma, bei der Gundermann einen lukrativen Vertrag hatte unterschreiben sollen, zog ihr Angebot zurück als brenne es lichterloh.

Alle ziehen sich zurück


Aus einem neuen Verlagsdeal wurde auch nichts. Und Radio Brandenburg, bis dahin so etwas wie Gundis Haussender, richtete ihn genüsslich hin. Sie spielten das Stück "Ich mache meinen Frieden", denn da singt Gundermann: "Wer mich angeschissen hat / will ich nicht mehr wissen." Und  dann "Sieglinde", die Nummer, in der Gundermann einer verräterischen Freundin zu flotten Rockrhythmen verzeiht: "Sie sagen / Du hast mich belauscht / doch außer Dir hat mir nie einer zugehört / und schneller als das Wasser rauscht / hab' ich dir meine paar Geheimnisse diktiert". Dazu zwei, drei Zitate aus der Akte - das gab einen schönen Widerspruch zwischen Poesie und Petzbericht.

Auch Vivi Eikelberg, Chefin des Berliner Managementbüros Eikelberg's, das damals unter anderem Heinz Rudolf Kunze und Hermann van Veen vertrat, konnte für Gundermann nichts mehr tun. "Nach dieser Sache hat Gerhard keine Zukunft mehr im Westen", bedauert die Managerin, die mit dem "hochtalentierten Texter und Komponisten" eigentlich schon handelseinig war. Das mit der Stasi, das hatte Gundermann ihr gleich gesagt. "Aber mehr so nebenbei", erinnert sich Vivi Eikelberg. Es sei auch alles ganz harmlos gewesen.

Inzwischen hat auch die Managerin die Akte "Grigori" gelesen und hat ihre Meinung ändern müssen: "Er hat ja doch Sachen getan, die man kaum entschuldigen kann." Nun ja. Zum Glück war der Vertrag noch nicht unterschrieben, die Platte noch nicht produziert. Anderenfalls, Vivi Eikelberg kennt das Geschäft, wäre es schlimmer gekommen: "Wir machen eine Platte, gehen auf Promoreise, und pünktlich packt irgendwer die Akte auf den Tisch."


Hätte ja geredet


Ein späterer Zeitpunkt wäre noch schlimmer gewesen, dachte auch Klaus Koch. Koch ist Inhaber von Gundermanns Plattenfirma Buschfunk. "Er hätte nicht so lange schweigen dürfen", meint der Produzent. Wenn der Gundi gleich in die Offensive gegangen wäre? Vielleicht hätte das was geändert? Gelegenheiten gab es. Neulich zum Beispiel, als er diesen Auftritt beim ZDF-Talk zum Thema "Stasi-Akten - Deckel drauf?" hatte. Gundi musste bloß singen. Geredet hat er nicht.

Warum auch? "Wenn mich einer gefragt hat", sagt Gundermann, "habe ich's ja immer zugegeben." Im übrigen hat Gerhard Gundermann beim Stichwort "Stasi" stets zuerst an seine Opfergeschichte gedacht. Sechs Jahre unterm Brennglas. Parteiausschluss, Auftrittsverbot, Westreisesperre.

Das abgehörte Telefon. Erst später ist ihm eingefallen, dass da noch was war. Muss etwa zu der Zeit gewesen sein, als die Rundfunkmoderatoren Bertram und Kuttner in dicken Schlagzeilen als "Inoffizielle" geoutet wurden. "Ab dem Moment war der Gundi kein Mensch mehr", erinnert sich seine Frau Conny. "Du musst vor die Leute gehen, du musst das erklären", redete sie ihrem Mann zu. Doch da war der versprochene Verlagsvertrag, der große Plattendeal und die nächste Tour. Und überhaupt. Was erklären? Und wie? "Hätte ich etwa zwischen zwei Stücken sagen sollen: Ich war auch dabei - und nun machen wir mal wieder Musik?"


Akte komplett abgetippt


Mittlerweile hat Gundermann seine Akte Wort für Wort in seinen Computer getippt, "um das mal im Zusammenhang lesen zu können". Er hat nun doch seine Opferakte beantragt, in der Hoffnung, man könne "damit alles ein bisschen relativieren". Die Gauck-Behörde hat ihn bisher bloß vertröstet. Ein, zwei Jahre könne das schon dauern mit der Akteneinsicht. Ein, zwei Jahre, schätzt Vivi Eikelberg vom Managementbüro, werde es wohl auch dauern, bis "ein bißchen Gras drübergewachsen ist" und man es noch mal versuchen könne. Wenn überhaupt.

Bis dahin klappert Gundermann seine "Opfer" ab. Einer hat ihn zwar bei sich zu Hause empfangen, aber dann einfach nicht mit ihm geredet. Ein anderer gestand, die letzten Jahre immer Angst gehabt zu haben, Gundermann könne seinen Namen in seiner Opferakte finden.

Der dritte, vor siebzehn Jahren von seinem Singeklub-Kollegen Grigori bezichtigt, illegal Funkgeräte in die DDR geschmuggelt zu haben, hat bloß gelacht. Der Mann managt heute die Gruppe Keimzeit, Gundermanns Ostrock-Kollegen.

Die Funkgeräte, ist ihm jetzt eingefallen, hat er immer noch. Die haben nie richtig funktioniert.

Gundermann im Maulbeerbaum