Mittwoch, 31. Juli 2019

Friedliche Revolution: Die vierte Enteignung der Ostdeutschen


Beim ersten Mal tat es noch weh. Gerade erst hatten die Ostdeutschen nach dem 2. Weltkrieg von ihrer neuen, sozialistischen Regierung Land und Industrie übereignet bekommen, da war alles auch schon wieder fort. Aus den kleinen Bauern wurden LPG-Angestellte. Die Arbeiter traten zwar jeden Morgen in volkseigenen Betrieben an. Die aber gehörten eigentlich nicht ihnen, sondern dem Staat.

Eine Enteignung, der mit dem Zusammenbruch der DDR eine zweite folgen sollte. Glaubten die Menschen in der DDR nach den Monaten der friedlichen Revolution immer mehr, dass sie im Begriff waren, sich die Macht im Land und die Verfügungsgewalt über das vermeintliche Volkseigentum zurückzuholen, machte ihnen die letzte echte SED-Führung im letzten Moment einen Strich durch die Rechnung. Bemüht, noch einmal in den Sattel zu steigen und das Pferd zu lenken, und sei es auch in den Abgrund, öffnete das Krenz-Politbüro die Grenze. Der Mauerfall markierte nicht mehr als die Kapitulation eines Regimes, das sich nicht mehr anders zu helfen wusste als mit Selbstvernichtung, um damit wenigstens noch einmal die Ereignisse zu bestimmen, statt von ihnen bestimmt zu werden.


Der Mut weniger, die Macht vieler


Es war der Schlusspunkt einer Umwälzung, die bis dahin getragen gewesen war vom Mut weniger Bürgerrechtler, deren Vorbild aber immer mehr ganz normale Menschen motivierte, selbst mit auf die Straße zu gehen. Die untergehende SED entmündigte die Bürgerinnen und Bürger, die eben erst im Begriff waren, den aufrechten Gang zu üben, indem sie sich durch die Maueröffnung ein letztes Mal absolute Entscheidungsgewalt anmaßte.

Aus der friedlichen Revolution wurde über Nacht ein Taktieren der Mächte um die deutsche Einheit. Aus den friedlichen Revolutionären, die sich bis dahin gerade als Subjekte der Geschichte neu entdeckt hatten, wurden Objekte, die auf dem Schachbrett des Machtpokers nach dem Ende des Kalten Krieges herumgeschoben wurden. Die dritte Enteignung übernahm dann Helmut Kohl selbst, der die Einheit herbeiverhandelte und den neu zur Party gestoßenen Ostdeutschen blühende Landschaften versprach. Niemandem würde es schlechter gehen, vielen aber besser. Wenn die Ex-DDR-Bürger nur bereit seien, ihr Schicksal in seine Hände zu legen.


Die letzte Bastion


Das letzte bisschen, was den Ostdeutschen danach blieb, war das Bewusstsein, sich selbst aus der eigenen Unmündigkeit befreit zu haben. Aber auch das ist nun vorbei: Im 30. Jahr nach 1989 gehen die Weltbilderklärer der Leitmedien zusehends daran, diese letzte Bastion ostdeutscher Selbstvergewisserung zu schleifen.

Nicht mehr Havemann, Bohley, Templin, Lengsfeld, Köppe oder Führer sollen es gewesen sein, die mit ihrem zivilen Ungehorsam zeigten, dass die SED-Herrschaft angreifbar ist. Und nicht mehr die einfachen Bürgerinnen und Bürger, die durch Demonstrationen, Ausreiseanträge und schließlich auch die anschwellende Botschaftsflucht in den Westen genau in diesen tagen vor 30 Jahren immer mehr Druck auf das spätestens nach der Erkrankung von Erich Honecker im Sommer 1989 komatöse System ausübten, seien verantwortlich für dessen Sturz. Sondern allein die großen Kräfte der Weltpolitik. Washington, der Kreml, Bonner Bemühungen und Gorbatschows Großmut.


Die vierte Enteignung


Es ist die vierte Enteignung, die der Osten jetzt erlebt. War es eben noch der aus Weimar stammende Detlef Pollack, der in der FAZ daranging, „die Mär von den Oppositionellen in der DDR" (Pollack) zu widerlegen, "deren Widerstand gegen die Diktatur zu deren Sturz geführt habe“ und an ihre Stelle einen „Aufstand der Normalbürger“ zu setzen, lässt der frühere Taz-Chef Arno Widmann in einem Aufsatz in der Frankfurter Rundschau nicht einmal mehr das gelten.

„Nicht die Bürgerbewegung der DDR hat das Brandenburger Tor besetzt“, beschreibt der Kolumnist, „der Sturz der Berliner Mauer hatte nichts mit der Bürgerbewegung der DDR zu tun.“ Gorbatschow sei es gewesen, „weil Gorbatschow es doch ernst meinte“ mit der Aufgabe der Breshnew-Doktrin, die den Ostblock bis dahin im Innersten zusammenhielt.

Selbst das bisschen Freiheit, das die DDR-Bürger meinten, sich selbst erobert zu haben, ist nun wieder weg. Widmann, geboren in Frankfurt am Main und später ein Leben lang Westberliner, sammelt ein, was noch an ostdeutschem Selbstbewusstsein übrig ist, nachdem die Einheit aus den ehemaligen Landstrichen der DDR eine Region ohne eigene Eliten gemacht hat..

„Unsere Wende“ nennt der 72-jährige Philosoph, was damals geschah, und er schafft es mit dieser Formulierung, allen alles fortzunehmen: „Unsere“ erklärt das, was war, zur gesamtdeutschen Leistung. Und „Wende“ nutzt den Begriff nach, den Egon Krenz den finalen Monaten des SED-Regimes zu geben versucht hatte, um die Definitionsmacht der SED noch einmal auszuspielen.

Widmann, der kenntnisreiche Westdeutsche, entpuppt sich als einer jener überaus kundigen Experten aus den alten Ländern, die mit ausreichendem zeitlichen Abstand besser als alle Beteiligten wissen, was seinerzeit los war. Kein Volksaufstand, sondern eine Revolution von oben. Keine Selbstbefreiung, sondern ein sowjetischer Gnadenakt.

Diese „Wende“ sei nicht etwa „das Ergebnis eines Lernprozesses“ gewesen, „in dem aus Untertanen selbstbewusste Bürger wurden“, sondern „das Resultat einer weltpolitischen Konstellation, in der die DDR der Bundesrepublik in den überraschten Schoß fiel“. Keine Selbstbestimmung, nirgends, keine Bürger, keine Zivilgesellschaft, keine friedliche Revolution. Alles nur Kulissenschieberei, für Kenner der Verhältnisse früh absehbar: Die Taliban in Afghanistan hatten die große Sowjetunion besiegt, nicht die Bürgerrechtsbewegungen Mitteleuropas. Die waren im Grunde gar nicht beteiligt an "einer weltpolitischen Konstellation, in der die DDR der Bundesrepublik in den überraschten Schoß fiel" (Widmann).



Donnerstag, 27. Juni 2019

Norwegen zu Fuß: Wandern unterm Nordlicht



Ein Land, das sich Zeit lässt: Norwegen fängt gerade an, wenn man glaubt, es ist zu Ende. Und dunkel wird es auch erst, wenn alle Wanderer müde sind.


Die Nummer mit dem Kaffeekessel lässt Tare Steiro schon grinsen, ehe das Wasser kocht. Dann gibt es Zirkuszauberei in der norwegischen Wildnis: Steiro, von Haus aus Naturmensch und von Berufung Wanderführer, nimmt den brodelnden Kessel vom offenen Feuer und stellt ihn sich auf die ausgestreckte Hand. Ohne eine Miene zu verziehen. Die Wandererrunde staunt nun mit offenen Mündern - bis Tare Steiro bescheiden darauf verweist, dass der urtümlich aussehende Kessel ja einen Carbonboden habe. "Wird kein bisschen heiß."

So sind sie, die Norweger hier im Städtchen Mo i Rana, weit oben am Polarkreis. Knurrige Spaßvögel, die mit kleinen Faltbechern aus Wasserfällen trinken, auch im strömenden Regen nur ein Streichholz und etwas Birkenrinde für ein Feuer brauchen und selbst im tiefsten Dickicht gelegentlich das Handy herausholen, um knarzend irgendetwas Wichtiges zu besprechen.
Die Landschaft scheint es den Menschen gleichtun zu wollen. Norwegen ist um einiges größer als die Bundesrepublik, hat aber nur 4,5 Millionen Einwohner. Die meisten von ihnen leben unten im Süden. Nach Norden zu verliert sich das Land in Einsamkeit und rings um den Polarkreis bei magischen 66 Grad und 33 Minuten erstreckt sich nur noch eine felsigen Einöde aus Steinen und Moos unter einem tiefhängenden Himmel.

Das Saltfjell, eine Hochebene auf 700 Meter, ist Anziehungspunkt für Wanderer, die das Besondere suchen, sagt Bjørnar Brændmo, Chef des Polarsirkelcenter und Herr der verlassenen Landschaft. Entlang von farbigen Markierungen an Felsen und Steinhaufen kann man stundenlang gehen, ohne auch nur aus der Ferne andere Menschen zu sehen. Mittendurch zieht sich ein spiegelglattes Asphaltband, das, führe man es immer, immer weiter, erst am Eismeer enden würde.


So weit aber muss niemand gehen, der weit weg will von Geruch und Geräusch der Zivilisation. Gleich hinter Mo i Rana, einer Kleinstadt mit fernbeheizten Gehwegen, die ihre Existenz den reichen Eisenerzvorkommen in der Gegend verdankt, beginnt der mehr als 2 000 Quadratkilometer umfassende Nationalpark. Ein Traumland für Wanderer und Weltflüchtlinge, im Sommer zu Fuß, im schneesicheren Winter auf Skiern. Wie ein feines Netz aus Spinnfäden durchziehen Pfade die Provinz Helgeland -mal sind es schmale Trampelpfade, die über kahle Hochebenen und schaukelnde Brücken führen, mal sind es zweispurige Wege, die an die Zeit erinnern, als Waren und Menschen mühevoll mit Pferd und Wagen Richtung Norden zogen.

Immer aber taucht irgendwann eine Hütte auf, einfach gezimmert aus rot oder grau bemalten Brettern, aber sauber und aufgeräumt. Wer unterwegs nicht zelten will, obwohl das nach dem in Norwegen immer noch geltenden Jedermannsrecht aus dem Mittelalter jedem jederzeit und überall erlaubt ist, holt sich vor dem Abmarsch in die Natur im Touristenbüro die Schlüssel. Und übernachtet zum Preis eines Hotelfrühstücks bequem hier, im Schatten schneebedeckter Berggipfel.


Norweger tun das dauernd. "Fast jeder hier hat eine eigene Hütte irgendwo in den Bergen oder am Meer", beschreibt Tare Steiro. Am Wochenende ziehen ganze Familien und Freundeskreise los, im Gepäck die bräunliche Karamell-Käsespezialität Geitost, Brot und ein -wegen der exorbitant hohen Preise im Land am liebsten selbstgebranntes -Fläschchen mit Hochprozentigem. Dann werden ein paar Fische aus einem Fjord oder einem Bach gezogen, Pilze und Beeren gesammelt, das Lagerfeuer wird angezündet und gemeinsam begangen, was Steiro schlicht "Zusammensein" nennt - zu gut deutsch eine Party ohne Geburtstagskind, Kassettenrecorder und erboste Nachbarschaft.

Am nächsten Morgen wartet Kapitän Albert auf seiner "Sibilla" im Mjelfjord, um die Wanderer an den Fuß des gewaltigen Svartisen-Gletschers zu fahren. Wie auf einen Gemälde von Edvard Munch ragen die Berge schroff in einen düsteren Nordseehimmel, eine fahle Sonne spiegelt sich im eisgrauen Wasser. Ein putziges Rudel Robben rutscht spritzend hinein. Über ihm kreisen drei, vier riesige Seeadler.

Der Svartisen, zu deutsch Schwarzeis-Gletscher, ist mit einer Fläche von der Größe der Städte Halle und Leipzig der zweitgrößte Gletscher Norwegens. An einigen Stellen reichen seine Eisnasen bis beinahe hinunter ans Wasser. In einer Stunde wandert man vom Ufer hinauf, über Geröll und spärliches Gras. Auch vom Inland lässt sich der Svartisen-Gletscher besteigen -nördlich von Mo i Rana führt eine Straße zum Gletschersee Svartisvannet, nach einer schnellen Überfahrt und kurzem Fußmarsch steht man am Rand des Eisgebirges und erlebt, wie sich gewaltige Eisblöcke lösen, in den See stürzen und Flutwellen erzeugen.

Überall ist die Natur hier ohne die gebügelte Freundlichkeit deutscher Laubwälder. Der Wind ist scharf, die Sonne bleich am Saltstraumen, dem größten und mächtigsten Malstrom der Welt. Seine Urgewalt kann man auch beim Blick von der schmalen Brücke erahnen, die ihn wie ein Hochseil überspannt. Hier, etwa 30 Kilometer vom Hafenstädtchen Bodø, quetschen sich zum Gezeitenwechsel 400 Millionen Kubikmeter Wasser durch eine zwei Kilometer lange Felskanüle zwischen den Inseln Straumen und Straumøy.

Viel zu viel für den nur 150 Meter schmalen Sund, der deshalb viermal am Tag Schauplatz atemberaubender Kämpfe ist. Grünes Wasser verschlingt tosend blaues, Strudel brausen wie Düsenjäger auf, Gischt zischt und wird in die Tiefe gesogen. Nebenan am Ufer steht regungslos ein Angler. "Wir haben jede Menge fabelhafte Lachse hier", nickt Tare Steiro.

www.arctic-circle.no
www.visitnorway.de

Freitag, 17. Mai 2019

Stasi-Vize: Die keinen Mil­li­me­ter zu­rück­wei­chen

Die Stasi-Bar in Halle-Neustadt.
Am Ende geht es darum, Geschichte zu schreiben. Geschehen ist sie schon längst, unverrückbar stehen die Ereignisse in der Zeit. Aber wie sie zu deuten sind, das wird gerade festgelegt, das weiß auch Werner Großmann, bis 1989 der Vize-Chef des Ministeriums für Staatssicherheit. Und aus genau dem Grund lässt der 88-Jährige auch nicht nach: Mit "Der Überzeugungstäter" (Edition Ost, 251 Seiten, 16,99 Euro) hat der einstige Generaloberst ein Buch vorgelegt, in dem er seine Sicht auf die Stasi vor dem Hintergrund seiner Biografie schildert.

Nicht der erste Versuch des aus der Nähe von Pirna stammenden Zimmermannssohnes, aber vielleicht der letzte. Großmann gehört wie sein Vorgänger als Chef der Auslandsspionage Markus Wolf und der letzte NVA-Vize Fritz Streletz zur Zwischengeneration der DDR-Führung. Im Dritten Reich zur Schule gegangen, landet Großmann noch beim Volkssturm, von dem er umgehend abhaut. Als sein Vater aus der Gefangenschaft zurückkehrt, schließt er sich der KPD an. Am selben Tag tritt auch Sohn Werner bei, er ist gerade 17 und auf der Suche nach einem Neuanfang. Über die Jugendorganisation FDJ landet er in einer Funktionärslaufbahn, die Führung entdeckt ihn als "Kader" und wählt ihn schließlich aus, die im Aufbau befindlichen "bewaffneten Organe" zu verstärken.

Für Großmann, bis Oktober 1990 einer der großen Unbekannten des MfS, ein Lebensweg, den er bis heute mit aller Überzeugung vertritt. Bauingenieur oder Lehrer habe er werden wollen, doch als jemand ihn für eine Schule in Berlin wirbt, lockt die Hauptstadt. Großmann sagt Ja und geht zum "Außenpolitischen Nachrichtendienst" wie die spätere Hauptverwaltung Aufklärung (HVA) anfangs noch heißt.

Aus der Sicht des Mannes, der der letzte Chef des weltweit gefürchteten Spionagedienstes von Markus Wolf sein wird, ist das ein Job wie viele andere auch. Großmann hat nie etwas mitbekommen von illegalen Methoden, von Machtkämpfen im Parteiapparat oder Mordplänen gegen Abtrünnige. "Gerüchte, mehr nicht", sagt er. Es habe weder ein Mordkommando gegeben, noch Pläne, den "Verräter" Werner Stiller mit Gewalt zurück in die DDR zu holen.

Überhaupt stellt Werner Großmann das MfS als normale Behörde dar, etwas neurotisch, weil unentwegt in Angst, unterwandert zu werden. Aber selbst die Auslandsabenteuer seiner HVA erklärt der Sachse mit der großen Systemauseinandersetzung. Die andere Seite sei nie besser gewesen, man selbst aber immer bester Absicht. Warum sich also Asche aufs Haupt streuen? Es geht darum, Geschichte zu schreiben.

Sonntag, 5. Mai 2019

Wolfgang Neuss: Ein Hauch von Hasch

Der Körper des Kabarettesten Wolfgang Neuss glich  am Ende dem eines alten Indianerhäuptling.


Den großen Unterschied zu erkennen, war für ihn eine Kleinigkeit. "Wer nicht haargenau wie die CDU denkt", lästerte Wolfgang Neuss, "der wird sofort aus der SPD ausgeschlossen." Nicht jeder kann da lachen, und darüber freute sich der gebürtige Breslauer besonders. Neuss, als Jugendlicher aus einer Schlachterlehre nach Berlin geflohen, um Clown zu werden, ist der anarchistische Possenreißer der jungen Bundesrepublik.

Häme und Spott schüttet der Autodidakt mit der Vorliebe für verquere Wortspiele über der jungen Demokratie aus. "Der Faschismus ist eine Spielart der freien Marktwirtschaft", ätzt er inmitten der Wirtschaftswunderjahre, "auf deutschem Boden darf nie wieder ein Joint ausgehen", wird er sich später für eine Legalisierung von Marihuana aussprechen.

Ein Mann wie ein einziges Missverständnis. Dem Einsatz an der Ostfront habe er sich entzogen, indem er sich einen Finger abgeschossen habe, erzählte Wolfgang Neuss jahrelang. Der Finger war wirklich weg. Verloren hatte er ihn, wie er später bestätigte, durch eine verschleppte Entzündung.

Im Zweifel aber wählte der begnadete Improvisator, der nach dem Krieg im geistesverwandten Wolfgang Müller einen kongenialen Begleiter gefunden hatte, lieber die gute Geschichte als die wahre. Richtig zugespitzt ist schon fast ein Witz! In seiner großen Zeit Mitte der 50er dreht Neuss zehn Filme im Jahr, darunter Knüller wie "Die Drei von der Tankstelle" und "Wir Wunderkinder". Nebenher zieht er als Kabarettist über die Bühnen und landet Schlagerhits wie "Schlag nach bei Shakespeare".

Scherze aber sind eigentlich gar nicht seine Sache. Der "Mann mit der Pauke" sieht sich als politischen Künstler mit einem linksschlagenden Herzen. Erst streitet er für die SPD, dann wendet er sich der außerparlamentarischen Opposition zu. Auch die ist ihm bald langweilig. Neuss gefällt sich nun in der Rolle des kategorischen Nonkonformisten: Das Haar wird immer länger und dünner, ausfallende Zähne werden nicht mehr ersetzt, statt Alkohol zu konsumieren, greift er zur Haschischpfeife.

Der allmähliche Verfall ist öffentlich. Wegen Drogenbesitzes wandert Neuss ins Gefängnis, die SPD schließt ihn aus, das Fernsehen lässt ihm den Ton abdrehen und nennt es eine "technische Störung". Boulevardblätter, seit Jahrzehnten im Krieg mit dem "Vaterlandsverräter", erfreuen ihre Leser mit der Mitteilung, der Provokateur müsse inzwischen von Sozialhilfe leben.

Zu dieser Zeit gleicht der einst lebenspralle Kabarettisten-Körper schon dem Leib eines uralten Indianerhäuptlings. Graue Strähnen hängen dem Wortakrobaten wie müder Federschmuck ins Gesicht, der zahnlose Mund ist eingefallen. Neuss, schon erkrankt, vertreibt sich die Zeit, indem er der alternativen Tageszeitung taz schräge Kolummnen bastelt, die zuweilen nicht einmal mehr seine Fans verstehen. Am 5. Mai 1989 stirbt Wolfgang Neuss, wenige Tage, nachdem ein Filmteam die Dreharbeiten zu einer Dokumentation über sein Leben abgeschlossen hat. Im Film erzählt er noch, dass er nicht tot sein werde, nach seinem Tod. Denn man lebe schließlich weiter in "allen Leuten, bei denen dein Herz etwas schneller geht."