Dienstag, 14. November 2017

Dan Brown: Gott ist eine künstliche Intelligenz


Der amerikanische Auflagenmillionär Dan Brown setzt die Serie seiner Bücher um den Symbol-Forscher Robert Langdon mit dem neuen Buch "Origin" gewohnt temposcharf fort.

Ein wenig Glück gehört dazu, doch das Glück, das den früheren Englischlehrer Dan Brown zu einem der erfolgreichsten Schriftsteller der Welt machte, ist eines der sorgfältig geplanten Art. "Origin", Browns soeben erschienener fünfter Thriller um den Ikonologen und Symbol-Forscher Robert Langdon, spielt in Spanien. Zufällig ein Land, das derzeit nicht nur in der Fiktion, sondern ganz wirklich durch schwere Zeiten geht.

Dan Brown, 53 und vor knapp 15 Jahren mit seinem vierten Buch "The Da Vinci Code" (deutsch "Sakrileg") in die Sphäre der globalen Auflagenmillionäre aufstiegen, kommt so etwas gut zu pass. Denn die Methode des Mannes aus New Hampshire, der als ältestes von drei Kindern eines Mathematikers in der Nähe von Boston aufwuchs, hat sich seit dem ersten Auftritt von Robert Langdon im Buch "Illuminati" nicht geändert. Es geht hier immer um alles. Das Schicksal der Welt ist von dunklen Mächten bedroht, eine Brotkrumenspur aus geheimen Zeichen nur kann den rein zufällig in die Kabale verwickelten Langdon dorthin führen, wo sich alle Rätsel lösen, die gelöst werden müssen, um die Menschheit zu retten.

Ehe der US-Amerikaner, Jahrgang 1964, zu einem der weltweit erfolgreichsten Schriftsteller wurde, arbeitete der Sohn eines Mathematikprofessors aus New Hampshire als Englisch- und Spanischlehrer, feilte an einer Musikerkarriere und schrieb nach Feierabend. Mit Mitte 30 konnte Brown auf eine einzige Veröffentlichung verweisen, das Ratgeberbüchlein erschien unter Pseudonym und verkaufte sich schlecht.

Mit dem Überwachungsthriller "Diabolus" änderte Brown seinen Stil, wurde dafür aber zeitweise vom Geheimdienst NSA überwacht. Immerhin begeisterte Brown einen Großverlag für sein Thrillerdebüt. Für den Nachfolger "Illuminati" konnte er sich ausgiebige Recherchen leisten. Das erste Buch um den Symbolistik-Professor Robert Langdon wurde ein Welterfolg und später mit Tom Hanks in der Hauptrolle verfilmt.

Wie üblich bei Brown schildern nun auch die 672 Seiten des fünften Langdon-Thrillers einen überschaubaren Zeitraum von wenig mehr als einem Tag in einer Krisensituation. Edmond Kirsch, ein früherer Student Langdons, der zum genialen Wissenschaftsunternehmer geworden ist, plant anfangs, die Menschheit mit wegweisenden Erkenntnissen über die Existenz Gottes, die Herkunft des Menschen und seinen Weg in die Zukunft vertraut zu machen. Ein globales Event, dessen Botschaft die Macht der Religionen für immer zu brechen verspricht, wie der nach dem Vorbild real existierender Dotcom-Milliardäre modellierte Vordenker glaubt.

Doch mitten in der Präsentation geschieht es. Ein Mann in Admiralsuniform schießt Kirsch nieder. Langdon wird ebenso Zeuge wie die bildhübsche Moderatorin der Show, die nebenher auch noch die Verlobte des spanischen Kronprinzen ist.

Eine Ausgangslage, die Dan Brown Gelegenheit gibt, alle seine Trümpfe auszuspielen. Es gibt Verfolgungsjagden und Verschwörertreffen, religiöse Führer sterben, wer Freund ist und wer Feind verschwimmt zusehends, während der Symbol-Forscher und die Verlobte des Prinzen durch Spanien rasen, um das Geheimnis um den Ursprung aller Dinge aufzudecken, das der Ermordete mit der ganzen Welt hatte teilen wollen.

Brown, der das Sujet des Verschwörungsthrillers mit seinen Bestsellern "Illuminati", "Sakrileg", "Symbol" und "Inferno" neu definiert hat, löst sich in "Origin" - zu Deutsch so viel wie "Ursprung" - von der engen Bindung an Religion, Kirche und Vergangenheit. Obwohl die Schnitzeljagd der beiden Helden unter der steten Bedrohung durch augenscheinlich religiös motivierte Killer steht, geht es in Wirklichkeit um etwas anderes als den Kampf zwischen Gläubigen und Nichtmehr-glauben-Könnenden.

Dan Brown, immer schon ein Verfechter der Wissenschaft, ohne deshalb ein Feind der Religionen zu sein, nutzt die Atempausen der Handlung, um seine Leser auf eine Reise in Philosophie- und Architekturgeschichte mitzunehmen. Kurzweilig referiert er dann über die für "Origin" extrem wichtige Entwicklung künstlicher Intelligenz, die Gegenkirche der Palmarianer, die Sitten am Königshaus und die Kathedrale Sagrada Família in Barcelona. Ehe wieder geschossen wird.

Brown schafft so eine Art Bildungsthriller, der funktioniert wie Hustensaft in Zucker: Eigentlich schwer zu schluckende Kost wird zu purer Unterhaltung, die sich weglöffelt wie ein Strandeis. Ein Lesespaß bis zum Schluss. Demnächst dann mit Sicherheit auch wieder im Kino.



Samstag, 11. November 2017

Zwei Jahre, unvergessen


Ich bin nicht hier, um zu gewinnen,
ich bin am Leben, um es zu verlieren.
Wo nichts verloren wird, ist nichts zu finden,
wer sich wärmen will, muss erstmal frieren.

Gerhard Gundermann



Beim Fußball hat er immer im Sturm gestanden. Natürlich im Sturm, ganz vorn, wo die Tore gemacht werden. Steffen Drenkelfuß war kein fleißiger Läufer, keiner, der das Spiel lenken wollte. Hier nicht. Hier, auf dem Platz, war er der, der seinen wuchtigen Körper mit ein paar schnellen Schritten in Position brachte und abschloss. Er war zielsicher, er war zur Verwunderung seiner Gegenspieler sogar schnell. Er war genau der, der er sein wollte. Ein Macher, ein Vollender. Ein Mann, der seinen Platz hatte und ihn ausfüllte.


Im Leben hat Steffen Drenkelfuß nach diesem Platz gesucht. Er liebte die lauten Runden, in denen über Gott und die Welt geredet wurde, die Abende am Lagerfeuer, an denen immer noch ein letztes Bier getrunken wurde, ehe es ins Zelt ging. Begann er zu erzählen, von den wilden Zeiten im Café Fusch, von seinen Reisen nach Afghanistan und Russland, von den Geschichten aus der Geschichte, die er liebte wie vielleicht kaum etwas sonst, dann wurden die Runden leise und alle hörten zu. Steffen Drenkelfuß war dann ein Menschenmagnet, ein wortgewandter Welterklärer, der allen einfachen Wahrheiten misstraute, weil er aus der Geschichte, die für ihn immer auch die Lebensgeschichte seiner geliebten Großmutter war, wusste, dass die Dinge nie einfach sind.

Steffen Drenkelfuß hielt es weniger mit den Gewinnern, die die Geschichte schreiben. Sein Herz schlug für die Verlierer, für die, die es versucht hatten und gescheitert waren.

Für sich selbst sah er das nicht vor. Meister seines Lebens zu sein, ein Mann, der seinen Weg geht, das war das Bild, das er von sich selbst hatte. Steffen Drenkelfuß war der Mann auf dem Kapitänsplatz hinten im Paddelboot, wenn es nach Schweden oder Polen ging. Tagsüber fuhr er ganz vorn im ersten Boot und abends war er der, der die Härten des Outdoorlebens bei jedem Wetter in vollen Zügen genoss – am liebsten nur in eine Plane gewickelt, der er seit der Armeezeit die Treue hielt. Er war ein Romantiker, er schlief auf einer Matte, die dreimal geflickt war, denn er hing an Dingen, die gelebt hatten.

Lange suchte er auch nach dem Ort, an dem er seine Fähigkeiten zeigen und verwenden konnte. Zum Glück für alle, die er auf seine Reise von der Universität zur Zeitungsredaktion, zum MDR und in die Stelle als Sprecher eines italienischen Hightech-Unternehmens mitnahm. Legende ist seines raue Imitation eines früheren MDR-Chefs, den er mit blitzenden Augen nachahmte. Auch seine absurden Anekdoten aus dem halleschen Rathaus hätten es verdient gehabt, ein Buch zu füllen. Und nie ließ er einen Zweifel daran, wie sehr er Falschheit und Größenwahn verachtete, wie sehr es ihn traf, wenn Aufschneider und Heuchler das Sagen hatten.

Steffen Drenkelfuß hätte es nie zugegeben, weil er sich für einen Realisten hielt. Doch er träumte von einer Welt, in der Leistungen zählen und nicht Bürokratie, Falschheit und das, was er Geschwätz nannte. Er selbst hat auf sich nie Rücksicht genommen, um seinem eigenen Anspruch an Leistung gerecht zu werden. Er arbeitete, akribisch, ausdauernd. Und wenn Freunde ihn brauchten, als Computerexperten, als Zuhörer, als Freund, war er da. So sehr, dass er oft den Vorwurf hörte, dass er nicht vergessen solle, dass da noch ein anderes Leben im Leben sein müsse.


Aber auch das hatte er, etwa wenn er am Pool bei seinen Eltern auf der Sonnenliege saß und bei einem Bier Gespräche mit seinem Vater  führte. Wenn er in Oebisfelde auf Fotopirsch zur Grenzerbank ging, aus der er mit seinen Bildern ein Kultmotiv machte. Oder wenn er abends zu Hause saß und über Max Höltz, Ernst Ottwalt oder Nestor Machno las. Bücher, die ihn beeindruckten, konnte er kapitelweise auswendig nachsprechen. Mit Gesten und ganzem Körpereinsatz holte er die Vergangenheit dann ins Heute. Er war begeistert und begeisterte andere. Er war lebendig. Er war glücklich.

Auch in der Musik. Er war dann melancholisch, romantisch, still. Gerhard Gundermann, Christian Haase, Natalie Merchant waren seine Säulenheiligen, immer wieder fand er aber auch zurück zum Punk seiner Jugendjahre. Den zornigen jungen Mann, der er damals gewesen war, trug Steffen auch jenseits der 40 noch irgendwo in sich. Milde können andere sein, sagte er. Steffen urteilte präzise und schnell, sein moralischer Kompass schlug sicher aus, und wenn er eine Position gefunden hatte, dann verteidigte er sie vehement. Bis das letzte Bier ausgetrunken und das Feuer zu kalter Asche heruntergebrannt war.

Steffen Drenkelfuß ist am 11. November 2015 gestorben.
Er ist nur 45 Jahre alt geworden.

Steffen Drenkelfuß bei Facebook

Donnerstag, 9. November 2017

DDR-Klassiker zum Mauerfall: Damals hinterm Mond


Lach- und Sachgeschichten aus einer DDR, wie sie vielleicht gewesen sein könnte. Auf jeden Fall viel lustiger als das Original. Und heute schon ein Klassiker der Erinnerungsliteratur.

Es ist nicht viel passiert damals, ehrlich gesagt. Bisschen Einschulung, bisschen erste Freundin. Bisschen Sex, bisschen Schulhof-Geschubse, bisschen FDJ. Erste Gitarre, erste Zigarette. Erster schwerer Kopf auch. Ansonsten Pickel, Sorge um den Weltfrieden, Sportunterricht. Und all das nachmittags auf der Parkbank gemeinsam bequatschen, bis es zu einem sämigen Brei gekaut war.

Es gibt nicht viel zu berichten aus dieser Zeit, damals hinterm Mond, im ersten sozialistischen Arbeiter-und Bauernstaat DDR. Jakob Hein aber erzählt es mit großem Talent und bemerkenswerter Hingabe an skurrile Details. "Mein erstes T-Shirt", das bereits 2003 erschienene Debütbändchen des an der Berliner Charité praktizierenden Psychiaters, ist eine Art "Sonnenallee" für die Kinder der 80er Jahre, dieser "grauen Zeit" (Hein) mit ihrer "schrecklichen Musik".

Seltsame Zeiten zwischen "Tatort" im Westfernsehen und sturmfreier Partybude waren das, mit heutigen Maßstäben fast nicht zu fassen. Das T-Shirt war selbstverständlich ein Nicki damals hinterm Mond, der Sportlehrer schmiss mit einem fetten Schlüsselbund nach schwatzenden Schülern und die Staatssicherheit bezahlte das Bier.

In lakonischen Sätzen geht der gebürtige Leipziger auf Entdeckungstour in der Erinnerung, und was ihm dabei unter die Schreibmaschine geraten ist, verdient durchaus das Prädikat "amüsant und unterhaltsam". Hein, ein guter Freund des gefeierten "Russendisko"-Autoren Wladimir Kaminer, bleibt bei der Wahrheit in seinen kurzen Storys. DDR-Jugend pur gibt es hier, ungeschnitten und ohne Overdubs: Die Suche nach dem Netzhemd zum Über-den-Pullover-Ziehen wird beschrieben, die Jagd auf geeigneten Alkohol für ein Privatbesäufnis im Kinderzimmer.

150 Seiten lang schichtet der 30-Jährige kurze Sätze zu knochigen Geschichten zusammen, die nie "so war das" krähen oder sich prustend auf die Schenkel klopfen. Jakob Hein ist wie ein Thomas Brussig ohne dessen ausgestellte Nettheit; wie ein Jörg Mehrwald ("Bloß gut, dass es uns noch gibt") ohne dessen zuweilen gezwungen wirkende Komik.

Komisch waren wir schließlich selber, damals hinterm Mond. Beim Schulhofappell und im Wehrkundeunterricht, als Befreiungskartenschreiber für Angela Davis und als Udo-Lindenberg-Fans. Jakob Hein nun muss nicht viel mehr tun als Atmosphäre schaffen und seine Geschichten mit den unerlässlichen Details ausstaffieren: Ein Lolli-Lutscher hier, ein Schimpfwort dort -und stickum ist die Community der ehemaligen Diskojeans-Träger und "Duett - Musik für den Rekorder"-Hörer unter sich.

Ein Ostbuch ist das, zweifellos, und im Duktus eine Mischung aus "Fänger im Roggen" und Ottokar Domma zudem. Jakob Hein, von Kaminer als "geheimnisvoller Mensch" beschrieben, der in der DDR "wie so viele andere auf beiden Seiten der Barrikade kämpfte", erklärt nicht, er setzt voraus. Dass seine Leser wissen, was die "Poesiealbummode" war. Dass der Name der Fernsehsendung "Gixgax" eine Saite in ihnen zum Schwingen bringt. Und dass sie noch wissen, wie das gewesen ist: In der Annahmestelle für Sekundärrohstoffe zu stehen und unter den gestrengen Blicken des staatlich bestallten Altstoffwartes Aluminiumringe von leeren Schnapsflaschen abknaupeln zu müssen. Im Dienst von Frieden und Völkerfreundschaft auch noch, streng genommen.

Anders Sozialisierte müssen da zwangsläufig draußen bleiben. Kein Chance für sie, Heins gallige Erklärungen für "sozialistischen Realismus" oder den pubertären Leistungsknick nachzuvollziehen. Vielleicht aus diesem Grund sind zwischenrein einige Geschichten gestreut, die einen Arm bis ins Heute strecken.

Mittwoch, 1. November 2017

Der kleine King: Brennender Zorn


Stephen Kings Sohn Joe Hill tritt im zehnten Jahr als Schriftsteller mit seinem neuen Endzeit-Thriller "Fireman" aus dem mächtigen Schatten seines Vaters.

 Die große Seuche frisst sich durch die Gesellschaft. Hartnäckig und in einer Geschwindigkeit, die immer noch ein wenig Hoffnung lässt, erobert die Spore Dragonscale Amerika: Menschen bekommen zuerst einen schwarz-goldenen Ausschlag, dann beginnen sie zu qualmen und zu rauchen. Und schließlich gehen sie mir nichts, dir nichts in Flammen auf. Was für ein Quatsch!

Und wie fesselnd Joe Hill ihn in seinem neuen Thriller "Fireman" aufschreibt! Aus der bisher vielleicht hanebüchenensten Variante der ewig jungen Weltuntergangsgeschichte macht der 44-jährige Amerikaner ein abenteuerliches Fantasy-Spektakel, das Fans der Altmeister Stephen King, Peter Straub und Richard Laymon begeistern wird. Ein Wunder ist das nicht, denn hinter dem Pseudonym Joe Hill verbirgt sich niemand anders als Joseph Hillstrom King , der älteste der zwei Söhne des Schriftstellerehepaares Tabitha und Stephen King. Joseph King hat vor 20 Jahren seine erste Kurzgeschichte veröffentlicht, damals gleich unter falschem Namen, um nur an den eigenen Leistungen gemessen zu werden. Vor zehn Jahren dann legte King jr. mit "Blind" seinen ersten Roman vor, eine irre Horrorfantasie um einen vom Ruhm und der Welt angeödeten Rockstar, der aus lauter Langeweile im Internet einen Geist kauft und sich damit eine Menge Ärger einhandelt.



Hill, der es auch danach noch vermied, öffentlich als des Horrorkönigs Sohn für sein Buch zu trommeln, schaffte es, den miesen, unsympathischen Schmock im Verlauf der Handlung zum Sympathieträger werden zu lassen. "Blind" war kein billiger Trash-Horror aus Pappmaché, sondern intelligente Unterhaltung. Das Buch heimste Preise ein und wurde zu einem Bestseller, der nach Ansicht von Kritikern keinen Vergleich mit den Klassikern des Vaters scheuen muss. Der Unterschied ist: Joe Hill schreibt zwar nicht kürzer, aber langsamer. Wo Daddy in den letzten zehn Jahren elf Romane vorgelegt hat, kommt der Sohn nur auf vier, unter denen das aktuelle "Fireman" die deutlichsten Anleihen beim großen Erbe des Vaters nimmt. Dessen "The Stand", zu deutsch "Das letzte Gefecht", Ende der 70er Jahre mitten hinein in die allgegenwärtige Atomkriegsangst geschrieben, steht bei der Geschichte um eine Gruppe Überlebender der geheimnisvollen Sporeninfektion Pate, die Joe Hill anfangs im Breitwandformat, später aber immer mehr auf Kammerspielbesetzung zusammenschnurrend erzählt.

Im Mittelpunkt steht einerseits der "Fireman" John Rookwood, eine wunderliche Figur, die in friedlicher Symbiose mit ihrer Sporeninfektion lebt. Andererseits ist da die schwangere Krankenschwester Harper Grayson, die mehr und mehr zur wahren Heldin der Geschichte wird. Joe Hills Trick in Zeiten, in denen Zombie-Storys in Buch und Film boomen: Bei ihm sind die Infizierten die Normalen, Menschen, die sich in einer Ausnahmesituation hinter dem Ende der gewohnten Welt plötzlich nicht nur mit der Frage konfrontiert sehen, wie sie am es schaffen können, zu überleben. Sondern sich auch noch mit denselben Problemen auseinandersetzen müssen wie vorher im zivilisierten Alltag der USA von heute. Wo beginnt freiwillige Einsicht in eine Notwendigkeit? Wo endet die Freiheit? Wann wird Machtgier pathologisch und ab wann führt Gruppenzwang in den kollektiven Untergang?

Die rätselhafte Seuche, der Joe Hill im Verlauf der Handlung sogar eine recht nachvollziehbare wissenschaftliche Begründung verpasst, ist hier einerseits Anlass für eine zumindest streckenweise actionreiche Handlung. Andererseits verweist sie wie eine Chiffre auf aktuelle Auseinandersetzungen in der amerikanischen Gesellschaft, in denen sich die gesamte King-Sippe mehrfach deutlich gegen den neuen Präsidenten Donald Trump positioniert hat. Wo der Zorn erst einmal brennt, gibt es kein Vergeben. Einlullende Glückseligkeit hingegen, die sich weigert, offenkundige Probleme wahrzunehmen und zu diskutieren, führt am Ende immer zur Herrschaft derjenigen, die keine Skrupel haben, sich die Situation zu nutze zu machen. Klingt, als sei der "Fireman" ein Wanderprediger des Guten. Aber das täuscht natürlich.

Joe Hill ist kein Autor nachdenklicher Betrachtungen über Rolle und Bedeutung von Toleranz und Mitmenschlichkeit in Zeiten des Untergangs, sondern ein rasanter Erzähler. Zwar mutet seine postapokalyptische Welt verglichen mit Cormac McCarthy's "Die Straße" oder Justin Cronins "Der Übergang" an wie das niedliche Sommerferienlager, in dem sich Harper Crayson, der Fireman, die Familie Storey und die übrigen Überlebenden verstecken. Doch wie sein Vater verfügt Hill über einen untrüglichen Sinn für erzählerischen Rhythmus. Er schreibt schnell und langsam und erzeugt so einen Sog, der seine Leser im Handumdrehen in den Bann schlägt.

Joe Hill, Fireman, Heyne, 960 Seiten, 17,99 Euro

Sonntag, 29. Oktober 2017

Stephen King: Horror-König triumphiert mit 70


Stephen King musste erst 70 Jahre alt werden, um seinen Kritikern endlich als echter Autor zu gelten.

Es hat Jahrzehnte gedauert und es hat Stephen King, der heute seinen 70. Geburtstag feiert, immer gewurmt. So viele Bücher der Mann aus Maine auch schrieb, in so vielen Stilarten er sich erprobte, so viele Millionen Exemplare er auch verkaufte. Dieses Vorurteil, es ging nicht weg: Stephen King schreibt „Horrorromane“, er ist ein besserer Groschenheftautor, talentiert im Umgang mit Sprache. Aber uninteressiert an allem, was tiefer dringt als Reißzahn, Schwert und tödliches Virengift.

King, aufgewachsen als Sohn einer Alleinerziehenden, die sich mit Gelegenheitsjobs durchschlagen musste, hat die Zeit gut ausgehalten. Seit er mit Ende 20 „Carrie“ veröffentlicht hatte, geschrieben in einem ärmlichen Wohnwagen, während der Autor tagsüber als Englischlehrer jobbte, blieb der kommerzielle Erfolg dem begeisterten Freizeitgitarristen treu. King wurde erst zum Bestsellerautor, dann zum Schriftsteller mit den höchsten Auflagen weltweit. Mit Büchern wie „The Stand“, „Es“ und der opulenten Reihe „Der Dunkle Turm“ entwarf er düstere Welten, in die ihn Millionen Leser begleiteten.

Nur ernstgenommen wurde der Vielschreiber nicht, der bis heute mehr als 70 Romane und Geschichtensammlungen veröffentlicht hat. Im Zwiespalt zwischen Erfolg und Selbstzweifeln suchte King Zuflucht in Drogen und im noch eifrigeren Schreiben. Bis ein schwerer Unfall ihn so außer Gefecht setzte, dass er Jahre brauchte, um wieder der Alte zu werden.

Seitdem aber läuft es für King. Er erhielt den National Book Award und endlich wurden seine Bücher, die immer auch die Geschichte von Kleinstadtamerika erzählen, auch im seriösen Feuilleton besprochen. Und wichtiger noch: Hollywood, mit dem King seit Stanley Kubricks „Shining“-Verfilmung von 1980 eher ernüchternde Erfahrungen gemacht hatte, entdeckte seine Bücher neu. Mit „Puls“, „der Dunkle Turm“ und „Es“ kamen und kommen in den letzten beiden Jahren gleich drei King-Bücher ins Kino. Die Neuverfilmung seines Klassikers „Es“ schaffte dabei einen Start wie noch nie zuvor ein Horrorfilm.

Montag, 23. Oktober 2017

Billy Corgan: Was vom Ruhme übrig blieb


Billy Corgan von den Smashing Pumpkins lässt ab vom Pomp und singt akustisch.


Rick Rubin hat die Zauberformel. Schon Giganten wie Johnny Cash und Neil Diamond verdankten dem zauselbärtigen Produzenten ein zweites Leben in der Hitparade. Rubins Methode ist einfach: Er setzt die Künstler mit seiner Gitarre vor ein Mikrofon. Und lässt sie machen, was sie am besten können.

William Patrick "Billy" Corgan, in seinem früheren Leben als Chef und Sänger der Grunge-Ikonen The Smashing Pumpkins bekannt, dachte immer, es sei sein Talent, Rockmusik von voluminöser Größe zu schaffen. Die Alben "Siamese Dream" und "Mellon Collie and the Infinite Sadness" entstanden vor mehr als 20 Jahren, definierten die damals gerade weltweit erfolgreiche Grunge-Musik anders als das Kurt Cobain mit Nirvana tat.

Statt atemlosem Drauflosgebolze bevorzugte Corgan, Sohn eines Gitarristen aus Chicago, opulente Klänge, vielschichtige Arrangements und ausufernd lange Lieder. Spätestens nach dem "Mellon Collie"-Album hatte er das Sgt. Pepper-Zeitalter des Grunge eingeläutet. Er sang nun gern von Gott, zerstritt sich mit Kollegen und Plattenfirmen und löste die Pumpkins schließlich sogar auf, um unter dem Bandnamen Zwan noch einmal neu aufzufangen.

Was damals und auch mit dem ersten Solo-Album im Jahr 2005 nicht gelang, weil die neue Band allein schon durch Corgans patentierten Sound zu sehr nach Smashing Pumpkins klang, könnte jetzt mit dem "Ogilala" genannten Soloalbum des 50-Jährigen klappen. Das hat Corgan unter dem Künstlernamen WPC - für William Patrick Corgan - veröffentlicht, als wolle er nicht wiedererkannt werden.

Das aber fällt nicht schwer. Zwar sind die elf Stücke hier nicht mehr vom pompösen Rock der Vergangenheit geprägt, sondern nähern sich der stillen Phase an, die die Pumpkins rund um das 1998 erschienene Album "Adore" hatten.

Doch so sanft Corgan klingt, begleitet fast ausschließlich von akustischer Gitarre und Klavier, so nachdrücklich schiebt sich ins Bewusstsein zurück, welch unglaubliche Ausstrahlung der glatzköpfige Riese haben kann. Gerade, wenn er wie hier auf große Effekte verzichtet.

Freitag, 20. Oktober 2017

70. Geburtstag: Der Vater von Feeling B


Auf einmal ist ihm dann die Bühne unter den Füßen eingebrochen. Aljoscha Rompe, Sänger und Chef der Rockband Feeling B, machte noch einen Ausfallschritt ins Mittelalter. Doch der große Integrator, der Mann, der durch einen Zufall der Geschichte als Schweizer Staatsbürger in der DDR lebte, kehrte nicht mehr zurück. Am 23. November 2000 fand ein Bauarbeiter den Punk-Papst des Ostens tot in dem Bauwagen, der seine Wohnung war. Wäre es anders gekommen, würde der Erfinder des Ost-Punk heute seinen 70. Geburtstag feiern.

"Die Wende hat ihm den Boden weggezogen", hat sich Flake Lorenz später erinnert, einst Keyboarder bei Feeling B und heute bei Rammstein tätig. Aljoscha habe sein Privileg verloren gehabt, als Westler in der DDR zu leben. Ein Schock für den Egomanen. Und als habe das noch nicht gereicht, glaubt Lorenz, "war das Interesse an der Musik nicht mehr so da." Feeling B, die lustigsten Punks der DDR, spielten im Osten vor halbvollen Sälen. Und im Westen "haben uns die Leute nicht verstanden", sagt Flake: "Die fragten bloß, was macht ihr da eigentlich?"

Damals begann ihm und Gitarrist Paul Landers klar zu werden, "dass wir uns als Band einen neuen Platz suchen müssen". Welchen war die Frage, Rammstein war die Antwort. "Dorthin wollte Aljoscha nicht mehr mitkommen", glaubt Lorenz, "das war ihm fremd, er war ja in dem Sinne auch kein Musiker, sondern eher ein Motor." Dessen Einfluß für seine früheren Weggefährten bis heute spürbar ist. "Am besten alle Tipps in den Wind schlagen, nur machen, was man selber will", sagt Flake, "das ist das Feeling-B-Erbe von Rammstein."

Eine Geisteshaltung, die die bücherschrankgroße Feeling-B-Biografie "Mix mir einen Drink" liebevoll beschreibt, die die beiden Szenekenner Heinz Havemeister und Ronald Galenza jetzt aus wochenlangen Gesprächen mit Flake Lorenz und Paul Landers destilliert haben. Es ist die Rückkehr in ein anderes Land: Besser als jede hochgelehrte Alltagsanalyse beschreibt der Weg der Berliner Band die Möglichkeit, sich in der DDR-Enge Freiräume zu erobern. "Wir wollen immer artig sein" sangen sie und drehten dem Staat eine lange Nase. "Jeder konnte sich entziehen", glaubt Flake Lorenz bis heute, "jeder konnte glücklich werden."

Er selbst, sagt er, sei es gewesen. "Mir hat nichts gefehlt", das sei ihm klar geworden, als er für das Buch begonnen habe, in Erinnerungen zu wühlen. All die Anekdoten über Alkoholexzesse, abenteuerliche Auslandreisen und absurde Auftritte - "wir haben beim Erzählen unglaublich Spaß gehabt."

Lorenz sieht das Buch, das trotz seines eher randständigen Themas in der Bestsellerliste der aktuellen Pop-Biografien nach dem Erscheinen nur von Dieter Bohlens Lebensbeichte geschlagen wurde, nicht als Denkmal für seinen Bandkollegen Aljoscha. Genau so wenig sei es ein Versuch, Lesern Rolle und Bedeutung von Feeling B nachträglich nahe zu bringen. "Wenn ich ehrlich bin", sagt Flake Lorenz, "haben wir das Buch für uns gemacht."


"Mix mir einen Drink", Schwarzkopf&Schwarzkopf-Verlag, 416 Seiten, 24,90 Euro