Posts mit dem Label Geschichte werden angezeigt. Alle Posts anzeigen
Posts mit dem Label Geschichte werden angezeigt. Alle Posts anzeigen

Sonntag, 20. Dezember 2020

Wandern in die Vergangenheit: Von wegen sieben Brücken


Es ist das 30. Jahr nach der Wiedervereinigung, als uns ein bizarrer Plan einfällt: Seit Jahren hatten wir vor, auf dem Kolonnenweg an der ehemaligen Grenze zwischen den beiden deutschen Staaten entlangzuwandern. Dieser sogenannte Kolonnenweg ist insgesamt 1.400 Kilometer lang, eine zweispurige Linie längs durchs Land.


Dort suchen wir nach dem, was übriggeblieben ist nach drei Jahrzehnten Einheit, danach, was die Natur uns aus der Vergangenheit erzählt und was die Menschen über die Vergangenheit, die Gegenwart und die Zukunft sagen.


Vorige Folge: Hier

Der Mensch ist ein seltsames Tier. Er will immer das, was er nicht hat. Und wenn er es bekommt, ist er enttäuscht, marschiert aber weiter, wie Mike Peters von der Band The Alarm singt. Nach einem schönen und sonnigen Spaziergang entlang der Dämme von Hitzacker - schwer sind nur die 20 Kilogramm, die wir jeweils zu tragen haben - stolpern wir heute also in ein Dorf namens Neu-Darchau, direkt am Elbeufer. 


Schon der Name lässt vermuten, dass hier irgendwann einmal etwas passiert ist: Darchau liegt auf der Ostseite der Elbe, "Neu" heißt das hier, weil das mehr als 40 Jahre alte und das neue Darchau voneinander getrennt wurden, als die Elbe zur Grenze zwischen Ost und west wurde. Familien konnten danach nicht mehr zusammenkommen, Brüder konnten einander nicht besuchen, Kinder konnten ihre Eltern jahrzehntelang nicht sehen. Selbst wer von den DDR-Behörden eine Einreisegenehmigung erhielt, musste lange Umwege machen, um die wenigen Meter zum anderen Ufer zu überqueren. Zwischen Darchau im Osten und Neu-Darchau im Westen gab weder eine Brücke noch eine Fähre.

Düsterer Spaß in Neu-Darchau

30 Jahre nach dem Mauerfall und dem Ende der DDR ist zumindest die Fähre da. Aber eine Brücke? Nein. Und das ist besonders merkwürdig, weil die Weltgeschichte sich ausgerechnet hier einen ziemlich düsteren Spaß erlaubt: Wenige Meter hinter Neu-Darchau, das im Landkreis Lüchow-Dannenberg liegt, beginnt der Landkreis Lüneburg, der sich bis Kriegsende bis hinüber auf die andere Elbseite erstreckte. Die Alliierten beschlossen aber der Einfachheit halber, auch hier eine Grenze in der Mitte des Flusses zu ziehen. Alle Niedersachsen, die im Osten lebten, wurden mit einem Federstrich DDR-Bürger. Wenn sie nicht so schnell wie möglich flüchteten.


Wenn man seinen Rucksack durch diese Landschaft aus alten Bäumen, weiten Wiesen und lächelnden Kühen schleppt, bekommt man nie eine Vorstellung davon, wie fürchterlich hier alles noch vor 40 Jahren gewesen sein muss. Erst nach dem Fall der Mauer und der deutschen Wiedervereinigung, erzählt Angelika, die in Neu-Darchau lebt, konnten Verwandte und Freunde wieder zusammenkommen. Und nach einer Bürgerentscheidung beschloss der Ostteil des Landkreises Lüneburg dann auch ganz schnell, sich wieder mit seinem früheren Westteil zusammenschließen zu wollen. Leider ohne direkte Verbindung: Außer zwei Fähren gibt es nichts bis nach Lüneburg. "Und deshalb führt für uns im Winter bei Eis und im Sommer bei Niedrigwasser keinen Weg hinüber".


Eine neue Brücke soll also schon lange gebaut werden, eigentlich vom ersten Tag der kleinen Wiedervereinigung an. Aber leider liegt der beste Ort dafür nicht im Landkreis Lüneburg, wie Katrin beschreibt, der in Neu-Darchau lebt und ein entschiedener Brückenbefürworter ist. Sondern in Neu-Darchau, nebenan im Landkreis Lüchow-Dannenberg.  "Ich finde es gut", sagt Katrin, "aber viele sehen das eben anders."

Je neuer, desto dagegener

Vor allem die vielen Flüchtlinge aus den Großstädten Hamburg und Hannover, die sich hier in den alten bundesdeutschen Tagen der Ruhe in der ehemaligen Grenzregion angesiedelt haben, möchten lieber am Ende einer Sackgasse weiterleben. "Dass die Bauern zur Ernte dorthin hinüber müssen, interessiert die ebenso wenig wie die Probleme der Menschen, die zu Niedersachsen gehören, dort aber im Osten völlig abgeschnitten sind", schimpft Katrin.


Deshalb hängen überall in der Stadt Plakate. Keine Brücke! Ja zur Brücke! Seit Jahren gibt es Streit, denn die Zeiten sind vorbei, in denen, wie vor 30 Jahren in Dömitz, Sehnsucht und Entschlossenheit innerhalb von nur zwei Jahren aus dem Nichts eine riesige Brücke entstehen ließen. Heute braucht es unendlich viel Zeit, unendlich viele Auseinandersetzungen, Streit und Zwietracht. Und am Ende wird doch nicht gebaut, Jahr um Jahr.

Also nehmen wir wie alle die Fähre, die hier "Tanja"  heißt, und es dauert fünf Minuten, um den Fluss zu überqueren. Auf der anderen Seite sind wir wieder im ehemaligen Osten, in einem Stück der ehemaligen DDR, das aber jetzt zu Niedersachsen gehört. 

Westen im Ostens., Brüder ohne Brücke. Was für ein verrückter Weg.

Englische Version: Here





Sonntag, 6. Dezember 2020

Iron Curtain Trail: In den goldenen Westen


Es ist das 30. Jahr nach der Wiedervereinigung, als uns ein bizarrer Plan einfällt: Seit Jahren hatten wir vor, auf dem Kolonnenweg an der ehemaligen Grenze zwischen den beiden deutschen Staaten entlangzuwandern. Dieser sogenannte Kolonnenweg ist insgesamt 1.400 Kilometer lang, eine zweispurige Linie längs durchs Land. 
Dort suchen wir nach dem, was übriggeblieben ist nach drei Jahrzehnten Einheit, danach, was die Natur uns aus der Vergangenheit erzählt und was die Menschen über die Vergangenheit, die Gegenwart und die Zukunft sagen. 




Ja, das muss der goldene Westen sein. Aber leider sieht das Gras auf der anderen Seite der Elbe das Gras nicht grüner aus als im Osten. Wir sind auf dem Weg nach Hitzacker und wir befinden uns mitten in einem Gebiet, das berühmt ist für Atommüll, jahrzehntelange Proteste gegen Atommüll und riesige Polizeiaktionen gegen diese Proteste. Ein gelbes "X" auf vielen Zäunen erinnert an diese Zeit der Angst und der Wut, aber das ist heute alles. 


Gorleben, die wenige Kilometer entfernte Atommülldeponie, ist keine große Aufregung mehr. Nirgendwo gibt es große Aufregung. Das hier ist de Lüchower Landgrabenniederung, ganz altes Grenzland. Mittendurch verlaufen von Menschen festgelegte künstliche Linien, die sich historisch immer wieder veränderten. Die Niederungen sind nass und feucht, oft orienteren sich die Grenzverläufe deshalb entlang diesen geograpfisch vorgegebenen Linien. Nur an wenigen Stellen findet sich eine gefahrlose Furt durch die sumpfige Landschaft, so dass schon im Mittelalter beim Handel über Grenzen hinweg darauf geachtet wurde, vernünftige Trennungen zu ziehen, an denen sich Wege, später aber auch Straßen- und Eisenbahngleise orientierten. 


Erst mit der Teilung Deutschlands wurde die Landgrabenniederung richtig zerschnitten. Durch Flucht und Vertreibung nach dem ll.Weltkrieg verdoppelte sich die Einwohnerzahl in den ländlichen Gebieten beiderseits der Grenze nahezu, in den ersten Nachkriegsjahren blieb aber trotz der neugezogenen Grenze auch die Verbindung zwischen Ost und West erhalten. Die sumpfigen Waldgebiete waren schwer zu kontrollleren und es blühte lange Zeit der Schmuggel in beide Richtungen. Erst später, als drüben der große Zaun gebaut wurde, änderte sich alles, wie uns Walter erzählt, der direkt am Damm auf der Westseite wohnt.


"Eines Nachts wurde ich wach, weil es ganz hell im Zimmer war", sagt er, "und wie aus dem Fenster gucke, sehe ich, dass da drüben eine riesige Baustelle ist." Mit großen scheinwerfern beleuchtete das Grenzkommando den Damm, große Baufahrzeuge errichteten Pfäle und Zaunfelder. Für die andere Seite interessant anzuschauen, für den Osten die totale Abschottung. 


Zwar gibt es in Niedersachsen Schafe und Muttertiere und Füchse, Schlangen, Kühe und Hunde, aber die 20 Kilometer zwischen Dömitz und Hitzacker sind eine lange, ruhige Strecke ohne Berge, Hügel, Wälder oder sonst etwas Aufregendes. Die Radfahrer vermeiden es, hier entlang zu fahren, weil der Radweg hinter der Staumauer verläuft, so dass man nichts sieht, außer grasenden Schafen in der endlosen Schleife, die sich der Weg entlang des Flusses schlängelt.  


Gut für uns Wanderer, denn wir können die frische Luft mit all diesen landwirtschaftlichen Gerüchen einatmen. ein bisschen Kuh, ein bisschen Biogas, ein bisschen tote Schafe. Der goldene Westen riecht wie ein Bauernhof. Und er sieht auch so aus. Nach einem Tag auf einer "langen und kurvenreichen Straße", wie die Beatles gesungen haben, erreichen wir unser Ziel, ein ganz besonderes Lager mit winzig kleinen Holzschuppen namens "Destinature Camp". In den Vororten von Hitzacker, einer Stadt mit fast 5.000 Einwohnern an der Mündung der Jeetzel in die Elbe, haben ein paar Jungunternehmer 18 komfortable kleine Häuslen auf eine Wiese gestellt. Ein paar sind gemütliche Holzhütten, ein paar mobile Einzelbetten mit Zeltdach, so dass man entweder den nächtlichen Sternenhimmel betrachten oder sich eine gemütliche Koje schaffen kann.


Alles - von den Hütten bis zur gemütlichen Bettwäsche - ist aus nachhaltigen Materialien hergestellt und ein Bio-Bistro am Dorfeingang versorgt Sie mit Speisen und Getränken von regionalen Lieferanten. Hier gibt es Kamine, Saunahütten und Whirlpools mit Holzfeuer, und das ganze Dorf bezieht Strom und warmes Wasser aus erneuerbaren Energien - wir befinden uns hier im so genannten Wendtland, einer Gegend, die für ihre Sehnsucht nach Natürlichkeit und Nachhaltigkeit bekannt ist.  All das finden Sie hier, Ruhe für die Füße, Ruhe für den müden Kopf und eine warme Dusche mit französischer Seife. 

Englische Version: Hier



Mittwoch, 31. Juli 2019

Friedliche Revolution: Die vierte Enteignung der Ostdeutschen


Beim ersten Mal tat es noch weh. Gerade erst hatten die Ostdeutschen nach dem 2. Weltkrieg von ihrer neuen, sozialistischen Regierung Land und Industrie übereignet bekommen, da war alles auch schon wieder fort. Aus den kleinen Bauern wurden LPG-Angestellte. Die Arbeiter traten zwar jeden Morgen in volkseigenen Betrieben an. Die aber gehörten eigentlich nicht ihnen, sondern dem Staat.

Eine Enteignung, der mit dem Zusammenbruch der DDR eine zweite folgen sollte. Glaubten die Menschen in der DDR nach den Monaten der friedlichen Revolution immer mehr, dass sie im Begriff waren, sich die Macht im Land und die Verfügungsgewalt über das vermeintliche Volkseigentum zurückzuholen, machte ihnen die letzte echte SED-Führung im letzten Moment einen Strich durch die Rechnung. Bemüht, noch einmal in den Sattel zu steigen und das Pferd zu lenken, und sei es auch in den Abgrund, öffnete das Krenz-Politbüro die Grenze. Der Mauerfall markierte nicht mehr als die Kapitulation eines Regimes, das sich nicht mehr anders zu helfen wusste als mit Selbstvernichtung, um damit wenigstens noch einmal die Ereignisse zu bestimmen, statt von ihnen bestimmt zu werden.


Der Mut weniger, die Macht vieler


Es war der Schlusspunkt einer Umwälzung, die bis dahin getragen gewesen war vom Mut weniger Bürgerrechtler, deren Vorbild aber immer mehr ganz normale Menschen motivierte, selbst mit auf die Straße zu gehen. Die untergehende SED entmündigte die Bürgerinnen und Bürger, die eben erst im Begriff waren, den aufrechten Gang zu üben, indem sie sich durch die Maueröffnung ein letztes Mal absolute Entscheidungsgewalt anmaßte.

Aus der friedlichen Revolution wurde über Nacht ein Taktieren der Mächte um die deutsche Einheit. Aus den friedlichen Revolutionären, die sich bis dahin gerade als Subjekte der Geschichte neu entdeckt hatten, wurden Objekte, die auf dem Schachbrett des Machtpokers nach dem Ende des Kalten Krieges herumgeschoben wurden. Die dritte Enteignung übernahm dann Helmut Kohl selbst, der die Einheit herbeiverhandelte und den neu zur Party gestoßenen Ostdeutschen blühende Landschaften versprach. Niemandem würde es schlechter gehen, vielen aber besser. Wenn die Ex-DDR-Bürger nur bereit seien, ihr Schicksal in seine Hände zu legen.


Die letzte Bastion


Das letzte bisschen, was den Ostdeutschen danach blieb, war das Bewusstsein, sich selbst aus der eigenen Unmündigkeit befreit zu haben. Aber auch das ist nun vorbei: Im 30. Jahr nach 1989 gehen die Weltbilderklärer der Leitmedien zusehends daran, diese letzte Bastion ostdeutscher Selbstvergewisserung zu schleifen.

Nicht mehr Havemann, Bohley, Templin, Lengsfeld, Köppe oder Führer sollen es gewesen sein, die mit ihrem zivilen Ungehorsam zeigten, dass die SED-Herrschaft angreifbar ist. Und nicht mehr die einfachen Bürgerinnen und Bürger, die durch Demonstrationen, Ausreiseanträge und schließlich auch die anschwellende Botschaftsflucht in den Westen genau in diesen tagen vor 30 Jahren immer mehr Druck auf das spätestens nach der Erkrankung von Erich Honecker im Sommer 1989 komatöse System ausübten, seien verantwortlich für dessen Sturz. Sondern allein die großen Kräfte der Weltpolitik. Washington, der Kreml, Bonner Bemühungen und Gorbatschows Großmut.


Die vierte Enteignung


Es ist die vierte Enteignung, die der Osten jetzt erlebt. War es eben noch der aus Weimar stammende Detlef Pollack, der in der FAZ daranging, „die Mär von den Oppositionellen in der DDR" (Pollack) zu widerlegen, "deren Widerstand gegen die Diktatur zu deren Sturz geführt habe“ und an ihre Stelle einen „Aufstand der Normalbürger“ zu setzen, lässt der frühere Taz-Chef Arno Widmann in einem Aufsatz in der Frankfurter Rundschau nicht einmal mehr das gelten.

„Nicht die Bürgerbewegung der DDR hat das Brandenburger Tor besetzt“, beschreibt der Kolumnist, „der Sturz der Berliner Mauer hatte nichts mit der Bürgerbewegung der DDR zu tun.“ Gorbatschow sei es gewesen, „weil Gorbatschow es doch ernst meinte“ mit der Aufgabe der Breshnew-Doktrin, die den Ostblock bis dahin im Innersten zusammenhielt.

Selbst das bisschen Freiheit, das die DDR-Bürger meinten, sich selbst erobert zu haben, ist nun wieder weg. Widmann, geboren in Frankfurt am Main und später ein Leben lang Westberliner, sammelt ein, was noch an ostdeutschem Selbstbewusstsein übrig ist, nachdem die Einheit aus den ehemaligen Landstrichen der DDR eine Region ohne eigene Eliten gemacht hat..

„Unsere Wende“ nennt der 72-jährige Philosoph, was damals geschah, und er schafft es mit dieser Formulierung, allen alles fortzunehmen: „Unsere“ erklärt das, was war, zur gesamtdeutschen Leistung. Und „Wende“ nutzt den Begriff nach, den Egon Krenz den finalen Monaten des SED-Regimes zu geben versucht hatte, um die Definitionsmacht der SED noch einmal auszuspielen.

Widmann, der kenntnisreiche Westdeutsche, entpuppt sich als einer jener überaus kundigen Experten aus den alten Ländern, die mit ausreichendem zeitlichen Abstand besser als alle Beteiligten wissen, was seinerzeit los war. Kein Volksaufstand, sondern eine Revolution von oben. Keine Selbstbefreiung, sondern ein sowjetischer Gnadenakt.

Diese „Wende“ sei nicht etwa „das Ergebnis eines Lernprozesses“ gewesen, „in dem aus Untertanen selbstbewusste Bürger wurden“, sondern „das Resultat einer weltpolitischen Konstellation, in der die DDR der Bundesrepublik in den überraschten Schoß fiel“. Keine Selbstbestimmung, nirgends, keine Bürger, keine Zivilgesellschaft, keine friedliche Revolution. Alles nur Kulissenschieberei, für Kenner der Verhältnisse früh absehbar: Die Taliban in Afghanistan hatten die große Sowjetunion besiegt, nicht die Bürgerrechtsbewegungen Mitteleuropas. Die waren im Grunde gar nicht beteiligt an "einer weltpolitischen Konstellation, in der die DDR der Bundesrepublik in den überraschten Schoß fiel" (Widmann).



Freitag, 17. Mai 2019

Stasi-Vize: Die keinen Mil­li­me­ter zu­rück­wei­chen

Die Stasi-Bar in Halle-Neustadt.
Am Ende geht es darum, Geschichte zu schreiben. Geschehen ist sie schon längst, unverrückbar stehen die Ereignisse in der Zeit. Aber wie sie zu deuten sind, das wird gerade festgelegt, das weiß auch Werner Großmann, bis 1989 der Vize-Chef des Ministeriums für Staatssicherheit. Und aus genau dem Grund lässt der 88-Jährige auch nicht nach: Mit "Der Überzeugungstäter" (Edition Ost, 251 Seiten, 16,99 Euro) hat der einstige Generaloberst ein Buch vorgelegt, in dem er seine Sicht auf die Stasi vor dem Hintergrund seiner Biografie schildert.

Nicht der erste Versuch des aus der Nähe von Pirna stammenden Zimmermannssohnes, aber vielleicht der letzte. Großmann gehört wie sein Vorgänger als Chef der Auslandsspionage Markus Wolf und der letzte NVA-Vize Fritz Streletz zur Zwischengeneration der DDR-Führung. Im Dritten Reich zur Schule gegangen, landet Großmann noch beim Volkssturm, von dem er umgehend abhaut. Als sein Vater aus der Gefangenschaft zurückkehrt, schließt er sich der KPD an. Am selben Tag tritt auch Sohn Werner bei, er ist gerade 17 und auf der Suche nach einem Neuanfang. Über die Jugendorganisation FDJ landet er in einer Funktionärslaufbahn, die Führung entdeckt ihn als "Kader" und wählt ihn schließlich aus, die im Aufbau befindlichen "bewaffneten Organe" zu verstärken.

Für Großmann, bis Oktober 1990 einer der großen Unbekannten des MfS, ein Lebensweg, den er bis heute mit aller Überzeugung vertritt. Bauingenieur oder Lehrer habe er werden wollen, doch als jemand ihn für eine Schule in Berlin wirbt, lockt die Hauptstadt. Großmann sagt Ja und geht zum "Außenpolitischen Nachrichtendienst" wie die spätere Hauptverwaltung Aufklärung (HVA) anfangs noch heißt.

Aus der Sicht des Mannes, der der letzte Chef des weltweit gefürchteten Spionagedienstes von Markus Wolf sein wird, ist das ein Job wie viele andere auch. Großmann hat nie etwas mitbekommen von illegalen Methoden, von Machtkämpfen im Parteiapparat oder Mordplänen gegen Abtrünnige. "Gerüchte, mehr nicht", sagt er. Es habe weder ein Mordkommando gegeben, noch Pläne, den "Verräter" Werner Stiller mit Gewalt zurück in die DDR zu holen.

Überhaupt stellt Werner Großmann das MfS als normale Behörde dar, etwas neurotisch, weil unentwegt in Angst, unterwandert zu werden. Aber selbst die Auslandsabenteuer seiner HVA erklärt der Sachse mit der großen Systemauseinandersetzung. Die andere Seite sei nie besser gewesen, man selbst aber immer bester Absicht. Warum sich also Asche aufs Haupt streuen? Es geht darum, Geschichte zu schreiben.

Sonntag, 28. April 2019

Atlantropa: Der große Plan vom Umbau der Welt



Der vom Bauhaus inspirierte Architekt Herman Sörgel ging vor fast 100 Jahren daran, das Wasser aus dem Mittelmeer zu lassen. Sein ehrgeiziger Plan sollte Europa mit Raum und Energie versorgen.

Er hatte Architektur studiert, dabei aber vor allem gelernt, dass seine Auffassung von Architektur nicht dazu taugte, Häuser zu bauen. Herman Sörgel, Sohn eines Wasserbaubeamten im bayrischen Landesdienst, war vom Bauhaus inspiriert. Er wollte es größer, grundsätzlicher. Architektur, so glaubte der Regensburger, müsse den Raum gestalten und das Leben der Menschen damit einfacher, besser und friedlicher machen.

Vor hundert Jahren beginnt der 42-Jährige mit der Arbeit an einem Projekt, das auf den ersten Blick aus in einem Fantasy-Roman zu stammen scheint: Es ist der Weihnachtsabend des Jahres 1926, als ihn nach der Lektüre eines Buches des englischen Science-Fiction-Autor H. G. Wells die Vision überkommt, das Mittelmeer bei Gibraltar mit einem Damm zu sperren. Dadurch könnte der Zustrom von Wasser aus dem Atlantik kontrolliert erfolgen - der Wasserspiegel des Mittelmeeres sinke, für die wachsende Bevölkerung Europas würde Raum gewonnen werden.

"Die Vereinigung Europas mit Afrika zu einem mächtigen Weltteil."
Herman Sörgel



Der kleine Beamte dreht das große Rad. Er, der bis dahin nur Zweifamilienhäuser projektiert hat, ist getrieben von der Angst vor einem neuen Weltkrieg und der Furcht davor, dass das kleine Europa nicht standhalten wird im Wettbewerb mit Amerika. Weil es ihm an Platz fehlt. Weil es an Rohstoffen mangelt. Weil es mehr Energie verbraucht, als es produzieren kann. Der kleine Kontinent könne allein nicht bestehen, analysiert Sörgel 1929 in seinem Buch "Mittelmeer-Senkung" und weiß einen Ausweg: "Die Vereinigung Europas mit Afrika zu einem mächtigen Erdteil." Eine Kombination aus europäischer Technik und afrikanischen Bodenschätzen sei die ideale Lösung, der Name dieses Erdteil könne Atlantropa sein.



Wie aber vereinen, was von einem Meer getrennt wird? Herman Sörgel entwirft das größte Bauprojekt der Menschheitsgeschichte: Der Gibraltardamm sollte 14 Kilometern breit und 300 Meter hoch werden, Turbinen, größer als alle, die heute in Betrieb sind, könnten dann etwa 110 000 Megawatt Energie erzeugen - ein Drittel mehr als alle deutschen Kraftwerke heute produzieren.

Durch den Damm, so die Vision des Oberpfälzers, wäre es überdies möglich, den Wasserspiegel um etwa anderthalb Meter im Jahr zu senken. Atlantropa hätte seine Küsten nach einem knappen Jahrhundert weit ins Mittelmeer hinausgeschoben, Adria und Ägäis wären ausgetrocknet, Malta zu einem Teil von Sizilien geworden. Fast 560 000 Quadratkilometer Land gäbe das zusätzlich für Landwirtschaft, Städtebau und Industrie - das entspricht der fünffachen Fläche der früheren DDR. Ein Vorhaben, das heute aus vielerlei Gründen eine Idee bleiben müsste.

Wer soll das alles bezahlen? Was ist mit den Auswirkungen auf die Tierwelt? Wie verändert sich das Klima? Sörgel hatte all das berechnet und prognostiziert, sicher sagen aber konnte auch er es nicht. Dennoch wurde der Plan des mit zwei Doktorarbeiten gescheiterten Regierungsbaumeisters begeistert aufgenommen. Städte wie Venedig und Genua klagten zwar, ihnen würde der Zugang zum Wasser abhanden kommen.



Sörgel aber hatte auch daran gedacht: Venedig sollte einen eigenen Damm bekommen und so im Wasser stehen bleiben. Genua hingegen würde einfach Richtung neue Küstenlinie erweitert. An der stünden auch die neuen Häfen, die hätten gebaut werden müssen, weil alle alten Hafenanlagen nun drei Kilometer vom Wasser entfernt liegen würden. Bis Mitte der 30er Jahre arbeitete Sörgel ruhelos für sein Projekt. Seine Stelle hatte er aufgegeben, um in ganz Europa über seine Pläne zu reden. Das tat er sehr überzeugend. "Wenn ein Ingenieur zu träumen beginnt, sticht er jeden Dichter aus", schwärmte die französische Zeitung "Allier Socialiste". In den Zeiten der Weltwirtschaftskrise lechzten die Menschen nach kühnen Visionen und wagemutigen Unternehmen.

Ein Mann wie Sörgel, angetreten, die halbe Erde zum Nutzen des Menschen umzubauen, ist da genau richtig. Dann aber kommt die Machtübernahme der Nazis. Herman Sörgel versuchte, seine Pläne systemkompatibel zu machen. Trotzdem teilt ihm die Staatskanzlei in Berlin 1935 mit, dass Deutschland kein Interesse an Atlantropa habe. Sörgel macht unverdrossen weiter. Lange Zeit bleibt der Sonderling mit dem Monokel ungestört, 1942 allerdings verhängt das Regime ein Publikationsverbot gegen ihn.

Das verhilft der Idee nach dem Krieg noch einmal zu einer kurzen Blüte. Herman Sörgel gründet das Atlantropa-Institut und beginnt erneut mit seinem Werbetouren durchs Land. Doch auf dem Weg zu einem Vortrag gleich nebenan in der Münchner Prinzregentenstraße wird der passionierte Radfahrer von einem Auto angefahren. Es ist der erste Weihnachtsfeiertag des Jahres 1952, Sörgel hat ein Vierteljahrhundert für seine Idee gekämpft und nichts erreicht. Denn mit ihm stirbt auch die Idee von Atlantropa - Sörgels letzte Arbeiten, in denen er Stauseen für den Kongo plante, gingen wahrscheinlich ebenso verloren wie die Archive seines Atlantropa-Instituts.

www.morgenwelt.de

Sonntag, 3. Februar 2019

Kurt Demmler: Ein Schrei ohne Ton




Er war Staatstexter, DDR-Kritiker, Lieferant unvergesslicher Hits für Renft, Karat, Electra und Puhdys und Nationalpreisträger. Vor zehn Jahren erhängte sich der Liedermacher im Gefängnis - angeklagt wegen Kindesmissbrauchs.


Er wolle nichts mehr hören, nichts mehr sehen, nichts mehr erinnern. "Ich bin damit durch", sagt Kurt Demmler, "es ist lange her, und ich möchte nicht mehr darüber reden." 1968 in der DDR, natürlich, das ist sein Thema, nickt der Mann, der damals begonnen hatte, mit eigenen Liedern und mit dem "Oktoberklub" aufzutreten. "Aber wen interessieren diese alten Geschichten noch?"

Ihn selbst nicht, denn ihn selbst quälten längst andere Gedanken. Demmler, der produktivste und erfolgreichste Popmusik-Texter der DDR, wusste in jenem Frühsommer 2008 schon, dass sich dunkle Wolken über ihm zusammenzogen. Nach einer Anzeige von mehreren jungen Frauen ermittelte die Staatsanwaltschaft wegen Kindesmissbrauchs. Demmler, aus Berlin nach Storkow in Brandenburg gezogen, schaute vom Schreibtisch aus auf den See und dichtete Düsteres. "Mein Wort teilt meine Not / mit bedauernden Zeilen und trockenem Brot", reimte der 65-Jährige im Juli 2008. Eine Woche später klickten die Handschellen. Demmler, DDR-Nationalpreisträger, Tantiemen-Millionär und Autor von Hits wie "König der Welt" und "Du hast den Farbfilm vergessen", saß plötzlich in Untersuchungshaft.

"Mein Wort teilt meine Not / mit bedauernden Zeilen und trockenem Brot." Kurt Demmler Liedermacher

Die Staatsanwaltschaft war überzeugt, dass der Liedermacher und Texter von Gruppen wie den Puhdys, Karat und Renft sich zwischen 1995 und 1999 an sechs minderjährigen Mädchen vergangen habe. Allein die damals 14-jährige Liselotte B. hat er laut Anklage mehr als 180 Mal missbraucht.

Die Opfer, aus denen Demmler die Gruppen "Kussecht" und "Zung'kuss" hatte machen wollen, sagten aus, der Liedermacher habe sich von ihnen befriedigen lassen. Demmler leugnete. Doch eine Vorstrafe aus dem Jahr 2002 sprach gegen ihn.

Die Fans seiner großen Jahre, als keine Hitparade ohne Demmler-Reime auskam, waren entsetzt. Die letzten Freunde, die dem langjährigen Wahl-Leipziger nach seinem freiwilligen Rückzug 1986 geblieben waren, wandten sich ab.

Es ist der tiefe Sturz eines "sensiblen, schrullenhaften und im Privaten schwer zu ertragenden Hochtalents", wie ihn seine Texterkollegin Gisela Steineckert einmal charakterisierte. Demmler, als Kurt Abramowitsch in Posen geboren und in Cottbus aufgewachsen, hatte früh begonnen, Gedichte zu schreiben. Erst das popmusikalische Tauwetter in der DDR Ende der 60er aber gibt dem Medizinstudenten Gelegenheit, Karriere als Dichter zu machen.

Kurt Demmler, Fan von West-Beat und Radio Luxemburg, lernt im Leipziger Jazzclub den gerade mit Spielverbot belegten Klaus Renft kennen. Für dessen Combo liefert er seine ersten Auftragstexte; hier begründete der "Pseudo-Lutheraner und Humanist" (Renft-Sänger Thomas Schoppe) auch seinen Ruf, der einzige Mann, zu sein, der "eine ganze Langspielplatte in zwei Tagen betexten kann" (Renft-Gitarrist Peter Gläser).

Solche Talente sind gesucht in der DDR, wo der Zensor immer das letzte Wort hat. Demmler, nebenbei auch als Liedermacher mit eigenen Songs unterwegs, spricht die poetische Sprache des Systems: Seine Verse lavierten zwischen Wirklichkeit und Wolken, schnell ist er auch bereit, an Formulierungen zu feilen, wenn sie Lieder bedrohen. Und im Prinzip bleibt Demmler immer auch ein bisschen Staatsfeind: Solidarisiert sich mit Wolf Biermann, kritisiert die Enge der Arbeiter-und Bauernrepublik in verschlüsselten Versen und singt Mitte der 80er von Stasi-Überwachung.

Ein Pragmatiker der Poesie, dem geflügelte Worte nur so aus den Schreibmaschinentasten springen. Demmler verteilt, was er hat, an Schlagersänger wie Karel Gott und Rockbands wie die Puhdys, an Bekannte und Unbekannte. Er schreibt Leichtes wie "Liebling, ich verspeise Dich zum Frühstück", Gedankenschweres wie "Ermutigung" für Renft und Todtrauriges wie "Schrei ohne Ton" für den DDR-Popstar Bummi Bursi. Unterwegs auf Tour lebt er dazu ein echtes Rock'n'Roll-Leben: Es gibt Groupies, es gibt Sex, und niemand fragt die Mädchen am Hintereingang nach ihrem Personalausweis.

Damals ist das allenfalls ein Augenzwinkern wert. Der Liederdichter dichtet der Gruppe Dialog den Text "Noch nicht 16" dazu. "Ach, man wird nicht minder / schon durch solche Kinder angemacht", klagt er. Am 3. Februar 2009  um 6.30 Uhr wird Kurt Demmler in seiner Gefängniszelle in Berlin Moabit erhängt aufgefunden. Er hinterlässt keinen Abschiedsbrief, aber eine Frau, zwei Kinder, drei Enkel - und rund zehntausend Liedtexte. Auf seiner Homepage demmlersong.de wirbt heute ein Hersteller von Kaffeeautomaten für sich.




Samstag, 8. Dezember 2018

Post­kon­trolle: Wie Behörden im Westen die Post aus der DDR überwachten


Gerade erst wieder rücken die Stasi-Machenschaften beim innerdeutschen Brief- und Postverkehr ins Visier. Systematisch habe die DDR-Stasi Westpakete ausgeraubt, berichtet der letzte DDR-Postminister im MDR-Magazin "Umschau". Die geraubten Waren seien dann unter anderem in der SED-Bonzen-Siedlung Wandlitz verkauft worden. Kontrolliert wurde sowieso alles - allerdings eben nicht nur im Osten, wo die für die Postkontrolle zuständige Stasi-Abteilung M in jeder Hauptpostfiliale saß, geheime Bereich in den Bahnhöfen hatte und rund um die Uhr die Briefe der DDR-Bürger ausspionierte.

Weniger bekannt ist, dass die DDR nicht allein so handelte. Auch die Behörden in der Bundesrepublik nutzten im Kalten Krieg jede Möglichkeit, die Kommunikation ihrer Bürger zu kontrollieren, wie der Freiburger Historiker Josef Foschepoth in seinem Buch Überwachtes Deutschland: Post- und Telefonüberwachung in der alten Bundesrepublik beschreibt. "Die DDR war das am besten überwachte Land in Europa, vielleicht auch weltweit", sagt Josef Foschepoth. Denn nicht nur die DDR-Stasi durchleuchtete die Post auf dem Weg nach dem Westen. Nein, kaum dort angekommen, kümmerten sich auch die Sicherheitsorgane der Bundesrepublik um Pakete, Päckchen und Briefe.

Im ehemaligen Bahnpostamt in Hamburg etwa wurden jahrzehntelang Briefe und Pakete aus der DDR aufgerissen und durchsucht. In einem Raum arbeiteten nach einem Bericht des Fernsehsenders 3Sat drei bis vier Postbeamte und ein Zöllner. Solche Überwachungsstellen habe es "eigentlich in jedem größeren Postamt gegeben", beschreibt Foschepoth. Und das gleich doppelt: Nicht nur die bundesdeutschen Behörden überwachten die deutsch-deutsche Post, sondern nebenan befanden sich weitere Überwachungsräume, in denen Mitarbeiter der Besatzungsmächte nach ihren Regeln kontrollierten.

Große so genannte "Aussonderungsstellen" für verdächtige Sendungen befanden sich in Hamburg, Hannover, Bebra, Bad Hersfeld und Hof. Über diese "zweite Westgrenze" wie es der Forscher nennt, gelangte keine Post aus der DDR unkontrolliert. Schon in den Zügen aus der DDR hätten Postbeamte vorsortiert, es wurden Postkarten gelesen und Sendungen abgetastet.

Rechtliche Grundlagen dafür gab es nicht, wie Foschepoth betont. Kanzler Konrad Adenauer habe den Alliierten diese Vorbehaltsrechte zur Überwachung des Post- und Fernmeldeverkehrs eingeräumt. In den offiziellen Verträgen aber blieb dies unerwähnt.



Samstag, 17. November 2018

AKA Elektrik und Biox Ultra: Warum die DDR Werbung abschaltete


Wer ihn damals jeden Abend sah, kann die Melodie noch heute mitsingen. „Baden mit Badusan, Badusan, Badusan“! Oder auch „AKA Elektrik, in jedem Haus zu Hause“. Viel mehr hatten die sogenannten "Verbrauchertipps" im DDR-Fernsehen nicht zu bieten - aber die beiden Werbespots, die natürlich nicht so heißen durften, haben Ewigkeitscharakter für die Generationen, für die sie die erste Begegnung mit Werbung waren.

In den 60ern hatte die DDR angefangen, mit dem Aufbau des Sozialismus im Land auch Werbung zu machen. Zwischen 1959 und 1976 wurden rund 4 000 Werbesendungen im DDR-Fernsehen ausgestrahlt. Wenig im Vergleich zum Westen, viel aber für einen Staat der Bückwirtschaft, in dem sich begehrte Waren nur über Beziehungen besorgen ließen.

In einer funktionierenden Planwirtschaft hätte planmäßig für nichts Werbung gemacht werden müssen, weil jederzeit planmäßig und bedarfsgerecht produziert worden wäre. Die Praxis allerdings  sah anders aus: "Tausend Tele-Tips", die am Vorabend ausgestrahlte Fernsehwerbesendung,  sollte Schluss machen mit dem Verstecken der "beachtlichen neuen Erzeugnisse des Siebenjahresplanes in einem verhängten Schaufenster", das das SED-Organ Neues Deutschland kritisiert hatte. Während politisch mit Slogans wie "Chemie gibt Brot, Wohlstand und Schönheit" Reklame für den Sozialismus gemacht wurde, sollte Werbung für Küchenmaschinen, Mopeds und Kaffeefilter zeigen, wie modern die DDR ist und wie gut es ihren Bürgern geht.


So kam der Minol-Pirol in die Welt, es gab eine "HO-Frühjahrsmode", Kofferradios vom VEB Stern-Radio Rochlitz und Berlin-Kosmetik, "Biox Ultra - die gute Zahnpasta" und "Esda - der Qualitätsstrumpf" wurden neben dem "Wartburg - ein zuverlässiger Wagen" angepriesen, obwohl der ohnehin nur auf Vorbestellung zu haben war. Laut eigenem Statut wollte das Werbefernsehen "auf Leitbilder orientieren, die dem entwickelten gesellschaftlichen System des Sozialismus entsprechen". Der Schriftsteller Uwe Johnson beobachtete diese Bemühungen von Westberlin aus und schrieb 1964 im Tagesspiegel: "Es werden aber tatsächlich Waren angepriesen, Seifen, Suppen, Sorten, und erstaunlicherweise mit den bekannten Mitteln der Übertreibung und anderer dreister Rhetorik."

Alles wie überall, nur aus heutiger Sicht unbeholfen und daher sympathischer. "Mein Mann und Fewa-flüssig, die beiden sind Gold wert", sagt eine Hausfrau, die mit demselben Spruch und anderem Markennamen auch in der ARD hätte auftreten können.

Die Werber fingen sich damit Kritik ein, zumal sie meist Ladenhüter bewerben mussten, die auch mit Werbung niemand haben wollte. Eier zum Beispiel, die immer beworben wurden, wenn es zu viele gab. 1972 kam dann ein Spot für einen  Geschirrspülautomaten heraus, eine Revolution der DDR-Küchen, die in einer Überflutungswelle endete. Der Spot verschwand. "AKA Elektrik" blieb, die Abkürzung stand für: "Aktiv auf dem Markt - Konzentriert in der Handelstätigkeit - Aktuell im Angebot".

Mitte der Siebzigerjahre war plötzlich Schluss mit „AKA Elektrik, in jedem Haus zu Hause“  und dem  legendären Unterleibswasser "Yvette Intim", das "nach Meinung namhafter Frauenärzte" eigentlich auch "jeder Mann" verwenden sollte. Die Werbesendung „TTT“ endete kommentarlos, indem sie aus dem Programm flog.  Zuvor hatten die Minister der DR-Regierung ganz demokratisch beschlossen, dass Werbung Quatsch sei, weil ohnehin nichts Neues mehr auf den Markt kam.

Erst Mitte der 70er-Jahre bemerkten die zuständigen Entscheidungsträger, dass da kaum noch etwas zu bewerben war und beendeten den 17-jährigen Feldversuch. Da half es auch nicht, dass wenigstens ein 1965 produzierter Spot dem Ideal der sozialistischen Fernsehwerbung schon recht nahe gekommen war. Mann und Frau sitzen am gedeckten Tisch: "Weißwein ist so recht das Getränk unserer Zeit. Für unseren Optimismus. Weißwein für glückliche Menschen, die sich gemeinsam über Vollbrachtes freuen."

Sonntag, 23. September 2018

Hermann Zickert: Der Warren Buffett aus dem Mansfeld

"Arbeiten Sie mit Ihrem Kapital! Streben Sie nach Rente, nicht nach Kursgewinn! Kaufen Sie nur marktgängige Sachen! Lassen Sie sich nicht durch Versprechungen blenden! Prüfen Sie, bevor Sie kaufen! Fragen Sie nicht den Bankier um Rat! Versäumen Sie nicht rechtzeitigen Verkauf! Machen Sie keine Bankschulden!" Ratschläge, die Hermann Zickert gab, eine Art Warren Buffett aus dem Mansfelder Land.


Zickert war der Sohn eines Fleischermeisters aus Eisleben, besuchte das Gymnasium in Sondershausen und wurde zum Börsenpionier in Deutschland: Seiner Zeit weit voraus, gilt der 1885 geborene Börsehai als Gründer der modernen Finanzmarktanalyse. Die von ihm entworfenen Werkzeuge benutzen die Analysten von n-tv bis zum Bundeswirtschaftsministerium bis heute.

Zickert war aber nicht nur ein Erneuerer des finanztechnischen Denkens, sondern auch ein Mann mit klaren Prinzipien. In Heidelberg promoviert, gründete er später die Fachzeitschrift "Spiegel der Wirtschaft", wollte sich und seine Ideen aber von niemandem vereinnahmen lassen. Noch ehe Hitler die Macht ergriff, flüchtete Zickert vor dem "schweren psychologischen Druck" (Zickert) in der Heimat nach Liechtenstein, um "einen freieren, weiteren Blick zu gewinnen".

Gerade noch rechtzeitig. 1936 verboten die Nazis den Vertrieb seiner Zeitschrift in Deutschland. Zuvor hatte Zickert sich über die Konjunkturprognosen der großen Wirtschaftsforschungsinstitute lustig gemacht: "Wenn so große Institute in ihren Forschungsergebnissen so gründlich versagen", schrieb er, "wie muss dann die Planwirtschaft aussehen, die sich auf solche Wahrheiten aufbaut!"

Zickert überlebte den Krieg im Exil, später wurde er mit seinem Blatt und seinen Lehren zum Berater unzähliger Kleinanleger. Der vergessene Börsenpionier starb 1954 in Liechtenstein.

Sonntag, 5. August 2018

DDR-Geschichte: Honeckers vergessener Aufstand gegen Moskau



An den 16. April 1983 erinnert sich Egon Krenz noch ganz genau. Damals wird der Chef der DDR-Jugendorganisation FDJ aus dem "Großen Haus" angerufen, wie die FDJ-Funktionäre unter sich den Sitz des SED-Zentralkomitees nennen. Am Apparat: Erich Honecker, höflich wie immer, weiß Krenz heute noch. "Komm doch bitte gleich mal rüber", habe der Generalsekretär und Staatschef gesagt.

Anfang eines geheimen Aufstandes


Es ist der Anfang eines Aufstandes, der bis heute geheim geblieben ist. Krenz, damals mit Mitte 40 der jüngste Großfunktionär der DDR und damit automatisch hochgehandelt für die Nachfolge des 25 Jahre älteren Staats- und Parteichefs Honecker, glaubt zuerst an ein Personalgespräch. Wird aber in den folgenden Stunden zum eigenen Erstaunen Honeckers geheimer China-Botschafter.

Eine Mission in den Haarrissen der Blockpolitik, wie Krenz in seinem Buch "China - wie ich es sehe" (Edition Ost, 160 Seiten 12,99 Euro)  beschreibt. Seit sich die Sowjetunion und China nach Stalins Tod überworfen haben, weil dessen Nachfolger Nikita Chruschtschow und Chinas Parteiführer Mao Zedong im Streit um die Führung der kommunistischen Weltbewegung immer härter aneinandergerieten, hält auch die DDR strikte Distanz zum Regime in Peking, obwohl das die DDR als einer der ersten Staaten anerkannt hatte. Dankbar kein aber gibt es nicht in der Weltpolitik.

Denn der große Bruder in Moskau erzwingt Gefolgschaft, China ist weit weg, der russische Rock näher als die chinesische Hose. So kommt es 1963 bei einem SED-Parteitag während der Rede des als Gast geladenen Chinesen Wu Xiuquan zu demonstrativen Tumulten. SED-Delegierte versuchen, den Gast mit Lärm und Getöse zu zwingen, seine als sowjetfeindlich begriffene Rede zu beenden. Wu antwortet danach kalt: Er habe nun ja die "Zivilisation" der deutschen Genossen kennengelernt.


Neuanfang ohne Moskau


20 Jahre danach ist Mao, der Massenmörder und selbsternannte Prophet des großen Sprungs zum Kommunismus, tot. Und Erich Honecker unzufrieden damit, dass die sowjetische Führung dennoch nie versucht hat, so Krenz, "eine große sozialistische Gemeinschaft vom chinesischen Meer im Osten bis an die Elbe und Werra im Westen zu bilden". der DDR-Staats- und Parteichef sieht in genau so einer Allianz eine Möglichkeit - vielleicht die letzte - den schwindenden Einfluss der selbsternannten sozialistischen Ländern auf die Weltpolitik zu stärken und den stagnierenden Ausbau des sozialistischen Weltsystems wieder in Fahrt zu bringen.

Aus Honeckers Sicht ergibt sich eine Gelegenheit zu einem ersten Schritt daraus, dass mit Hu Yaobang ein Mann die Führung der KP Chinas übernommen hat, den Honecker noch aus seiner Zeit an der Spitze der FDJ kennt. Yaobang sei ein Freund aus Jugendzeiten, erzählt er Krenz, den er, Honecker aber nicht direkt kontaktieren könne, ohne den Zorn Moskaus zu erregen.

Einsatz Krenz, Ball über die Bande. Der FDJ-Chef wird beauftragt, mit dem Chef einer chinesischen Zeitung, der sich in der DDR aufhält, zu sprechen, um diesem mitzuteilen, dass die DDR großes Interesse an guten Beziehungen zu Peking habe. Der Mann werde diese Botschaft dann an Hu Yaobang weitergeben, Moskau zwar schäumen, aber "wenn man dich dafür kritisiert", gibt Honecker Krenz mit, "kann ich das auf deine Unerfahrenheit schieben."


Honeckers Manöver gegen Gorbatschow


Das Manöver glückt. Es beginnt ein "intensiver Delegationsaustausch zwischen Berlin und Peking", wie Krenz es nennt. Die erhoffte Annäherung zwischen Moskau und den chinesischen Brüdern allerdings gelingt weder unter Juri Andropow noch unter Nachfolger Michael Gorbatschow, für den DDR-Abgesandte wie Wirtschaftschef Gerhard Schürer sogar direkte Botschaften entgegennehmen. Das Verhältnis aber bleibt angespannt, Gorbatschow lässt alle Avancen unbeantwortet. Für Egon Krenz endet sein chinesisches Abenteuer im Desaster: 1989 besucht der Hoffnungsträger der SED-Reformer China und danach lobt er das Massaker vom Tian'anmenplatz als Beitrag zur "Wiederherstellung der Ordnung".

Noch vor Antritt der Nachfolge Honeckers ist der Kronprinz verbrannt.




Samstag, 28. April 2018

Tod eines Hoffnungsträgers: Werner Lamberz und die Jagd auf Schwarzer Adler

Eigentlich war an jenem 6. März 1978 im Städtchen Beni Walid für den dreimotorigen Großraum-Hubschrauber "Super Frelon SA 321" ein striktes Nachtflug-Verbot verhängt worden. Doch dann steigt die Luftwaffen-Maschine, die erst am Morgen aus dem rund 160 Kilometer entfernten Tripolis gekommen war, abends gegen 21.30 Uhr doch noch zum Rückflug in die libysche Hauptstadt auf. Wenig später schon muss der Helikopter notlanden. Die beiden Piloten melden per Funk, dass sich eine Verkleidung am Motor geöffnet habe. Nach 20 Minuten ist eine Ersatzmaschine eingetroffen, der Flug kann fortgesetzt werden.

Unmittelbar nach dem erneuten Start aber kommt es zur Katastrophe: Der "Super Frelon" gerät ins Trudeln und fällt wie ein Stein vom Himmel. 13 Menschen sterben in der Wüstennacht, unter ihnen auch das DDR-Politbüromitglied Werner Lamberz, SED-ZK-Mitglied Paul Markowski, der Fotograf Hans-Joachim Spremberg und der Dolmetscher Armin Ernst.


Genosse mit exotischer Biografie


Werner Lamberz, 48 Jahre alt, verheiratet und Vater zweier Kinder, galt in der DDR als Hoffnungsträger. Der Sohn des Bauarbeiters Peter Lamberz, der wegen seiner Mitgliedschaft in der KPD im KZ Buchenwald landete, verkörperte einen neuen Funktionärstyp. Werner Lamberz' Biografie mutet exotisch an: Um nach der Verhaftung des Vaters weitere Repressionen von der Familie fern zu halten, schickt seine Mutter ihn zuerst zur Hitler-Jugend, mit zwölf Jahren dann sogar ins Ordensburg-Internat der Adolf-Hitler-Schule. Nach dem Krieg absolviert Lamberz eine Installateurslehre im Rheinland. Als seine Mutter stirbt, wechselt er in die Ost-Zone, wo sein Vater als Landrat arbeitet. Hier beginnt der rasante Aufstieg des Werner Lamberz zum Kronprinzen von Erich Honecker. 1947 SED-Eintritt, 1950 Parteisekretär, dann Hochschule in Moskau, 1963 Kandidat des Zentralkomitees und Chef der Abteilung Agitation, die die DDR-Massenmedien kontrolliert.

Schnell rückt er in die Volkskammer und das Politbüro auf - Hinweise darauf, dass Lamberz, ein eloquenter Plauderer, der zehn Fremdsprachen beherrscht, der kommende Mann an der Staatsspitze sein könnte. 1978 ist Lamberz bereits Honeckers Eingreiftruppe für besonders heikle Missionen: Die Affäre um die Ausreise von Manfred Krug hat er ebenso abgewickelt wie die Biermann-Krise. In Libyen nun ist er als Sonderbotschafter von Honecker unterwegs, um Revolutionsführer Muammar al-Gaddafi Militärhilfe anzubieten und Dollarkredite für die DDR zu besorgen.

Werner und der frische Wind


"Werner Lamberz war jemand, der frischen Wind mitbrachte", erinnert sich auch Ex-DDR-Planungschef Gerhard Schürer, "und er hat seine Meinung auch gegenüber Honecker vertreten." Als die DDR-Führung per Blitz-Telegramm aus Libyen vom "bv" genannten "besonderen Vorkommnis" in der Wüste erfährt, kursieren denn auch sofort Verschwörungstheorien selbst unter den Funktionären. "Angeblich habe es einen Anschlag gegeben", sagt Schürer. So munkelte man, das Attentat habe eigentlich Gaddafi gegolten, der sich nur durch Zufall nicht in der Maschine befunden hätte. Andere sahen Stasi-Chef Mielke als Drahtzieher. Im Auftrag von Honecker, der sich vor einem erstarkenden Lamberz gefürchtet habe, sei der Auftrag für den Absturz ergangen. "Es kursierten sogar Witze darüber, dass die härteste Parteistrafe jetzt ein Rundflug über Libyen ist."

Indizien gab es dafür: So hatte Lamberz' Leibwächter Rolf Heidemann den Flug nach Beni Walid aus unerfindlichen Gründen nicht mit angetreten. Nach dem Absturz verbaten sich die Libyer jede Mitarbeit der DDR bei der Untersuchung des Unglücks.


Die DDR-Führung behandelte den Absturz als "tragischen Unglücksfall". Noch in der Nacht wird der 2. Sekretär Wolfgang Pohl nach Libyen geschickt, um die Toten zu identifizieren. Nicht einmal zwölf Stunden später landet eine Maschine mit vier versiegelten Zinksärgen auf dem Flughafen Berlin-Schönefeld. Noch am selben Abend liegen die sterblichen Überreste auf den Obduktionstischen im Institut für Gerichtliche Medizin der Humboldt-Uni. Bereits bei der Öffnung der Särge stellt Professor Otto Prokop fest, "dass es sich um hochgradig verkohlte" Torsi handelt. So steht es im Obduktionsbericht, der jetzt in den Archiven der Gauck-Behörde gefunden wurde. Trotz der "äußerst erschwerten Befundserhebungen" habe bei allen als Todesursache eine "Verbrennung durch massive Hitzeeinwirkung" festgestellt werden können. "Fernerhin", schreibt Stasi-Oberst Pyka an seinen Chef Erich Mielke, "fanden sich sichere Zeichen für eine Verbrennung zu Lebzeiten."

Die Stasi sucht einen Mörder


Die Untersuchungen stützen die These vom Unglücksfall. Auch Röntgenuntersuchungen, schreibt Prokop, hätten keine Anhaltspunkte für "Einsprengungen von Fremdkörpern" ergeben, was "eine gewaltsame Todesart in Form von Sprengkörpern oder Geschossen ausschließt". Da die Skelette keinerlei Brüche aufwiesen, könne eine Explosion in großer Höhe ausgeschlossen werden. "Daraus ergibt sich als Unfallursache ein plötzlicher Absturz aus niedriger Höhe mit Brandfolge."

Während in der misstrauischen DDR-Bevölkerung immer neue Gerüchte über ein Attentat auf den beliebten Politiker die Runde machen, stellt die Stasi-Hauptabteilung IX die Ermittlungen in der "Leichensache L." (MfS) überraschend schnell ein. Die Theorie vom Unglücksfall, die Lamberz' Witwe Ingrid schon in der Todesnacht präsentiert bekam, gilt nun als amtlich. Die Libyer sind in ihrem Untersuchungsbericht zu dem Schluss gekommen, dass sich ein Rotorblatt gelöst hat und die Piloten dadurch die Kontrolle über die Maschine verloren.

Doch schon zwei Wochen später gerät diese Version ins Wanken, wie neu aufgetauchte Stasi-Dokumente jetzt belegen. Anlass ist eine Postkarte an das SED-Politbüro, die am 17. März in Halle in den Briefkasten geworfen worden war. Der Absender Mohammed Ben Yussuf, angeblich wohnhaft in der Leipziger Liebknecht-Straße 46, teilt darin mit, dass "die Verantwortung für den Abschuss des Hubschraubers die Organisation Black Eagle übernommen hat". Dabei handele es sich um eine Gruppe der Palästinensischen Befreiungsorganisation, die gegen Gaddafi kämpfe.


Organisation Schwarzer Adler


Sofort ordnet Erich Mielke republikweite Fahndungsmaßnahmen nach dem Absender an. Schnell stellte sich allerdings heraus, dass ein Ben Yussuf "unter der Adresse in Leipzig nicht wohnhaft ist". Auch die Jagd auf die ominöse "Organisation Schwarzer Adler" bringt keinen Erfolg. Bleibt nur die Postkarte, die nun durch Schriftsachverständige begutachtet wird. Von in der DDR lebenden Ausländern werden Schriftproben besorgt, und in den Bezirken Halle, Leipzig und Berlin beginnt eine flächendeckende Post-Überwachung. Ohne Ergebnis.

Schon drei Monate nach dem Absturz über der Wüste wird das komplette Material der "Leichensache L." ins Archiv gebracht. Die Gerüchte um den Tod des Honecker-Kronprinzen aber verstummten bis zum Ende der DDR nicht.

Im Februar 1990, als Lamberz' ehemaliger Leibwächter Rolf Heidemann das Material sichten will, sind Großteile der Akte verschwunden.

Mittwoch, 7. März 2018

Digitalisierung: Als Helmut Kohl die Zukunft begrub

Nein, es sind nicht die Grünen schuld, dass es mit dem Internet nicht richtig läuft in Deutschland.. Zwar machte die damals noch alternative Partei in ihrem Wahlprogramm gegen die Informations- und Kommunikationstechniken Front: Die Grünen lehnten eine "Informatisierung der Gesellschaft" ab und brandmarkten die "Computerisierung und informationstechnische Vernetzung" als Mittel zur Unterdrückung. In einem Parteitagsbeschluss unterstützten die Grünen den Widerstand gegen die neue Technik und forderten eine "bedürfnisorientierte Technikentwicklung". Abgelehnt würden die "Digitalisierung der Fernsprechnetze" und ein Aufbau von Glasfasernetzen, unterstützt ein Stopp des Kabel- und Satellitenfernsehens sowie ein Ende des Internet-Vorläufers Bildschirmtext (BTX).

Doch das Ende des Anfangs von Deutschland als einer der weltweit führenden Hightech-Nationen markierte jemand anders. Bundeskanzler Helmut Kohl, ein erklärter Freund der Wirtschaft, stellt  kurz nach seinem Amtsantritt entscheidende Weichen so, dass die damalige Bundesrepublik beim Ausbau der für das Internet bis heute notwendigen Infrastruktur so entscheidend ins Hintertreffen gerät, dass die bereits seit fünf Jahren als Staatssekretärin für den Digitalausbau amtierende CSU-Politikerin Dorotheee Bär den Beginn  ihrer zweiten Amtszeit mit der Forderung feiern kann, es müsse nun "mehr Tempo bei der Digitalisierung" her.

Tempo, das seinerzeit unter Kohls Vorgänger Helmut Schmidt durchaus vorhanden war. Im April 1981, also vor fast 40 Jahren, wurde während einer Kabinettssitzung der Beschluss gefasst, die damals noch staatseigene Bundespost zu beauftragen, "den zügigen Aufbau eines integrierten Breitband- und Glasfasernetzes vorzunehmen", wie es in einem Sitzungsprotokoll heißt. 1985 sollte der Startschuss fallen, bis 2015 wollte Schmidt die gesamte alte Bundesrepublik mit einem Glasfasernetz aufrüsten, das damals wie heute als zukunftsweisende Möglichkeit gilt, Daten zu übertragen.

Die Pläne waren fertig. Pro Jahr sollten drei Milliarden D-Mark ausgegeben werden, insgesamt also nach heutigen Preisen etwa 45 Milliarden Euro. Ein Schnäppchen in Zeiten, in denen allein der Bund pro Jahr rund die doppelte Summe ausgibt, um den Ausbau durch private Unternehmen zu fördern. Und damit bisher nur erreicht hat, dass Deutschland auf Platz 28 von 32 Staaten bei der Versorgung mit Glasfaser-Netzen liegt.

Der Grund dafür ist der Regierungswechsel. Als Schmidt ging und Kohl kam, hatte die Glasfaser keinen Freund mehr im Kanzleramt. Kohl war eng verbunden mit dem Medienmogul Leo Kirch, dessen Interesse galt dem Ausbau von Kabelnetzen zur Versorgung mit den neuen Fernsehsender Sat1 und RTL, auf die auch die CDU setzte. Mit der „geistig-moralischen Wende" von 1982 wurden die Glasfaserpläne auf den Müll geworfen und unter dem damaligen Postminister Christian Schwarz-Schilling stattdessen technische Ausbau der Verkabelung mit Kupferkabeln vorangetrieben. Schwarz-Schillings schade war das nicht: Erst kurz vor der Ernennung zum Minister verkaufte er die Anteile an der Firma, die den Ausbau übernahm.

Aus dem Ziel, Deutschland zum Vorreiter beim Einsatz von Glasfaser-Technologien zu machen und damit Vorteile für die Exportwirtschaft zu sichern, wurde nichts.

Bis heute.

Freitag, 23. Februar 2018

Saale-Paddeln: Ein Traum von einem Fluss


Jahrzehntelang galt die Saale als vergifteter Strom. Heute finden Paddler hier idyllische Landschaften. Das weiß nur leider niemand.

Es ist still an dieser engen Stelle vor der malerischen Brücke, an der der Fluss seine ganze Kraft durch eine kaum 30 Meter breite Engstelle presst. Eine Minute, länger schwimmt niemand gegen die Strömung an. Ein Flussregenpfeifer tiriliert, ein paar Frösche quaken. Die Blätter der Bäume am Ufer rauschen. Am Ufer gegenüber geht die Sonne unter.


Wäre nicht der Zug, der gerade nebenan über die Brücke donnert, die Wiese am Parkkiosk von Rolf Wintermann könnte irgendwo an einem schwedischen Flüsschen oder weit im Osten an den masurischen Seen liegen. Spiegelndes Wasser, endloses Grün, völlige Einsamkeit. Doch was sich hier bei Dehlitz, einem winzigen Flecken zwischen Weißenfels und Bad Dürrenberg, tief ins Tal duckt, ist nicht der berühmte Paddelfluss Krutynia und es ist auch kein schwedischer See in den Nordmarken. Sondern die Saale, ein Gewässer, dem noch immer das Image anklebt, stinkend, schmutzig, giftig und überaus hässlich zu sein.

Abschied von der Kloake


Nicht zufällig natürlich. Noch vor einem Vierteljahrhundert war der Fluss, der bei Zell im Fichtelgebirge entspringt und über Thüringen kommend Richtung Elbe fließt, tatsächlich mehr Kloake als Fließgewässer. Leuna, Buna und unzählige andere Fabriken leiteten ihr Abwasser mehr oder weniger ungeklärt ein. Das Saalewasser, eine braune Brühe mit unverwechselbarem Geruch, kroch schaumgekrönt durch die Landschaft. Kaum ein Fisch mehr, kaum noch Leben. Vorbei die Tage, als der 17-jährige Joseph von Eichendorff von Gimritz bis nach Trotha schwamm und der Schwimmverein Schwan am Ufer "Gut Nass, Hurra!" jubelte. Statt "silbern glänzender Wellen", wie sie der begeisterte Saale-Schwimmer Johannes Teller Anfang des vergangenen Jahrhunderts beschrieb, nur stickiger Chemienebel. Mitte der 80er <&gt; wurden trainierende Ruderer in den Cyanid-Ausdünstungen ohnmächtig, die einschlägigen Grenzwerte waren um das 50-fache überschritten worden. Nach dem Dafürhalten der zuständigen DDR-Behörden hieß das "stark verschmutzt". Und bedeutete: Baden verboten, Paddeln auf eigene Gefahr. 

Ein Ruf, der dem Fluss bis heute nachhängt - und das völlig zu Unrecht. Nicht nur, weil sein Wasser längst das Prädikat "chemisch gut" trägt. Sondern auch, weil die Saale alles hat, was sie zu einem beliebten Paddel- und Kanurevier machen könnte: Unberührte Natur mit fliegenden Bussarden und Graureihern, Bachstelzen, Enten und Nutrias, eine touristische Infrastruktur mit Zeltplätzen und Gaststätten, Sehenswürdigkeiten an beiden Ufern und zwischen ihnen einen Strom, der jedes Boot gemächlich schiebt, so dass das Paddeln auch mal unterbleiben kann.

Alles das hat die Saale. Nur Paddler und Kanuten hat sie kaum. Nach einer Untersuchung der Investitions- und Marketinggesellschaft Sachsen-Anhalts halten derzeit nur sechs Prozent der Deutschen die Saale-Unstrut-Region für eine Wassersport-Gegend. "Manchmal kommen zwei, manchmal zwölf", sagt Rolf Wintermann, der in Dehlitz die letzte Verpflegungsstation vor dem weltvergessenen Stück Strecke nach Merseburg betreibt. Das ist der Andrang an einem Wochenende. "Da ist immer mehr los", sagt Wintermann, der seinen Kiosk mit Anlegesteg und Zeltwiese nur nebenbei betreibt. "Leben kann man davon nicht.

Die Zahlen machen es deutlich. Anfang der 90er, als über den wahren Zustand der Saale berichtet werden durfte, wagten sich keine 500 Paddelboote pro Jahr auf den Fluss. Doch je sauberer die Saale später wurde, desto beliebter wurde sie. Fast 8 000 Boote waren 2009 zwischen Naumburg und Barby unterwegs, so viel wie seither nie wieder. Letztes Jahr zählten die Schleusenwärter des Wasserstraßenamtes Magdeburg nicht einmal mehr 5 500 Boote, die zwischen Frühjahr und Herbst auf dem Fluss unterwegs waren. Selbst die Unstrut, die bei Naumburg in die Saale mündet, zieht mehr als dreimal so viele Freizeitkapitäne in Kanadiern und Faltbooten an.

Wenn die Saale bepaddelt wird, dann "gehört die Strecke Camburg - Naumburg zu den am stärksten frequentierten Abschnitten", beschreibt Matthias Beyersdorfer, der Geschäftsführer des Fördervereins Blaues Band e.V. Auch die 90 Kilometer zwischen Halle und der Mündung in die Elbe werden nach Erfahrungen des halleschen Bootsvermieters Thoralf Schwade häufiger befahren als die Strecke von Naumburg nach Halle. Dabei ist die Saale gerade hier eines dieser von Menschen und Massentourismus noch völlig verschonten Gebiete, nach denen Paddler und Kanuten in ganz Europa suchen.

Dennoch setzt am Blütengrund in Naumburg am Morgen nur eine einzige Familie in Faltbooten ein, erfahrene Paddler, bei denen jeder Handgriff sitzt. Vom Start weg ist die Strömung kräftig; die Unstrut, die 400 Meter flussaufwärts in die Saale fließt, drückt mehr als die Morgensonne. Naumburg liegt nur ein paar hundert Meter hinter dem rechten Ufer, ist aber vom Wasser aus genau so unsichtbar wie es später die meisten Dörfer entlang der Route sein werden.

Das Wasser ist klar, kein "Blaues Band", wie die Werbeschilder am Ufer suggerieren, aber ein grünbraunes, das im Licht glitzert. Die Schönburg Ludwig des Springers taucht auf, danach Schloss Goseck. An der Oeblitzschleuse bietet Peter Frick Wasser- und Radwanderern Essen und kalte Getränke. Eine Stunde weiter wartet schon das Bootshaus eines Rudervereins. Es wäre Platz für zahlreiche Paddler, auf dem gemütlich dahinschlängelnden Fluss und auf der Terrasse. "Aber Paddler sind eher selten", sagt die Kellnerin.

Obwohl die Förderservice GmbH der Investitionsbank des Landes den Wassertourismus auf der Saale seit 20 Jahren auf Messen und neuerdings auch im Internet vermarktet, sind nirgendwo welche zu sehen. Stattdessen kommt Weißenfels in Sicht und mit der größten Stadt auf der Strecke auch das Gefühl, dass die alte Saale noch nicht ganz tot ist - hinter der Brückenmühlenschleuse riecht sie nur so.

Masterplan Tourismus


Hier tauchen auch unübersehbare Hinterlassenschaften des Hochwassers von 2013 auf, das den Wassertourismus auf der Saale, der Teil des Masterplan Tourismus 2020 ist, um zehn <&gt; zurückwarf. Autoreifen liegen im Uferschlamm, Kinderwagen, Badewannen, Fässer und Plastikstühle. Dreck, der niemandem gehört, wie die Wasser- und Schifffahrtsverwaltung erklärt. Es trete "kein Abfallbesitz des Bundes ein, da das hierfür erforderliche Mindestmaß an tatsächlicher Sachherrschaft nicht vorhanden ist". Zuständig seien die örtlichen Entsorgungsträger. Die vermutlich keine Schiffe haben. 

Zum Glück endet Sachsen-Anhalts hässliches Stück Wasserseite bald. Nun wird das Saaletal wieder zu einem verwunschenen Ort, an dem Outdoorfans und Freizeitkanuten durch waldige, grüne Einsamkeit treiben. Hinter Rolf Wintermanns Kiosk gibt es keine Verpflegungsmöglichkeiten mehr, nur Hindernisse. Die meisten Schleusen sind jetzt auf Selbstbedienung ausgelegt. Funktioniert eine nicht, geht unter Umständen auch niemand ans Telefon. Die noch von Wärtern betreuten Hebewerke dagegen sind wochentags geschlossen und am Wochenende nur halb besetzt. Der Masterplan für Touristen: Wer Kanu und Gepäck nicht umtragen will, übt sich in Geduld.

www.blaues-band.de
www.bootsverleih-halle.de
www.saale-unstrut.de
www.bootsverleih-halle.de