Samstag, 24. Februar 2018

Goitzsche Front: Der Bitterfelder Weg


Zum ersten Mal seit Tokio Hotel vor knapp zehn Jahren hat es wieder eine Band aus Sachsen-Anhalt an die Spitze der deutschen Albumcharts geschafft. Diesmal steht kein Masterplan und kein Großkonzern hinter dem Phänomen.

Erstmals seit 2009 steht wieder eine Band aus Sachsen-Anhalt auf dem Spitzenplatz der deutschen Albumcharts. Goitzsche Front aus Bitterfeld, vor zwei Jahren mit ihrem Album "Mon(u)ment" schon wie aus Nichts auf Platz 6 gelandet, sitzen mit ihrem neuen Werk "Deines Glückes Schmied" auf dem Hitparadenthron. Vor knapp zehn Jahren war es die Magdeburger Teenie-Gruppe Tokio Hotel, die mit einem solchen Erfolg Furore machte für ein Bundesland, dessen Rockmusikszene kaum je für überregionales Aufsehen sorgt. Und nun jetzt sind es vier junge Männer aus Bitterfeld: Christian Schulze, Maxi Beuster, Pascal Bock und Tom Neubauer, die ihre Band vor zehn Jahren eigentlich nur als Spaßkapelle gegründet hatten, dann aber immer deutlicher merkten, dass da mehr geht.

Der Unterschied zu Tokio Hotel könnte nicht größer sein. Kamen die schon mit ihrer Debütsingle überall ins Fernsehen, weil ein großes Teenie-Magazin den Hype gezielt anheizte, sind es bei ihren Nachfolgern die sozialen Netzwerke, die den Erfolg tragen. Videos wie „Der Osten rockt“, „Menschlich“ oder „Männer aus Stahl“ kommen auf Millionen Abrufe und lassen damit etablierte Ostbands der alten Garde wie Silly, Karat und die Puhdys um Längen hinter sich. Inzwischen spielen die vier Musiker regelmäßig vor ausverkauftem Haus, jedes Konzert wird angegangen wie ein Endlauf bei Olympia, höchste Konzentration, dann alles geben, was da ist.

Das sei alles nicht geplant gewesen, beschreibt Gitarrist Maxi Beuster, der als letzter zur Band stieß, die der heute seine Familie nennt. Irgendwie aber funktionierte es, irgendwann bemerkten die vier Bitterfelder, dass sie zusammen etwas zustandebringen können, was in vielen Menschen eine Saite zum Schwingen bringt. Niemand hier hatte die Absicht, Größen wie Ed Sheeran, Justin Timberlake, Helene Fischer oder Peter Maffay in den Charts hinter sich zu lassen. Aber nun ist es passiert: „Deines Glückes Schmied“, ein handfestes, gefühlsseliges und erdigen Album, angefüllt mit 16 Hymnen an das Leben, die Liebe und das Leid, katapultiert Beuster, Schulze, Bock und Neubauer in Sphären, von denen sie nicht einmal geträumt haben.

Aber darauf hingearbeitet, das haben sie, ohne Kompromisse zu machen. Echt sein, sich nicht anpassen und machen, was man selbst für richtig hält - seit der 29-jährige Bock und seine Kindergartenkumpel Schulze und Neubauer ihre Band vor neun Jahren mit wenig Können und viel Euphorie gründeten, sind die Musiker aus Bitterfeld diesem Grundsatz treu geblieben. Es ging nie um Image, Stromlinienform und Mode. „Sondern darum, zu machen, was man glaubt, tun zu müssen“, wie Bock sagt. Maximilian Beuster, mit 23 der Jüngste der Band, bestätigt das. „Wir sind wirklich nicht nur Bandkollegen, sondern die allerbesten Freunde.“

Immer noch müssen die Bandmitglieder Urlaub nehmen, um auf Tour gehen zu können. Demnächst geht es los - erst solo, dann als Anheizer für die Kollegen von Frei.Wild. Eine neue Herausforderung. "Vor so vielen Leuten haben wir noch nie gespielt", sagt Maximilian Beuster und es klingt nach Respekt und Vorfreude. Der legendäre Bitterfelder Weg, er  führt weiter, immer weiter. Mal sehen, bis wohin, sagen sie selbst.



Konzerttrermine in diesem Jahr

Freitag, 23. Februar 2018

Saale-Paddeln: Ein Traum von einem Fluss


Jahrzehntelang galt die Saale als vergifteter Strom. Heute finden Paddler hier idyllische Landschaften. Das weiß nur leider niemand.

Es ist still an dieser engen Stelle vor der malerischen Brücke, an der der Fluss seine ganze Kraft durch eine kaum 30 Meter breite Engstelle presst. Eine Minute, länger schwimmt niemand gegen die Strömung an. Ein Flussregenpfeifer tiriliert, ein paar Frösche quaken. Die Blätter der Bäume am Ufer rauschen. Am Ufer gegenüber geht die Sonne unter.


Wäre nicht der Zug, der gerade nebenan über die Brücke donnert, die Wiese am Parkkiosk von Rolf Wintermann könnte irgendwo an einem schwedischen Flüsschen oder weit im Osten an den masurischen Seen liegen. Spiegelndes Wasser, endloses Grün, völlige Einsamkeit. Doch was sich hier bei Dehlitz, einem winzigen Flecken zwischen Weißenfels und Bad Dürrenberg, tief ins Tal duckt, ist nicht der berühmte Paddelfluss Krutynia und es ist auch kein schwedischer See in den Nordmarken. Sondern die Saale, ein Gewässer, dem noch immer das Image anklebt, stinkend, schmutzig, giftig und überaus hässlich zu sein.

Abschied von der Kloake


Nicht zufällig natürlich. Noch vor einem Vierteljahrhundert war der Fluss, der bei Zell im Fichtelgebirge entspringt und über Thüringen kommend Richtung Elbe fließt, tatsächlich mehr Kloake als Fließgewässer. Leuna, Buna und unzählige andere Fabriken leiteten ihr Abwasser mehr oder weniger ungeklärt ein. Das Saalewasser, eine braune Brühe mit unverwechselbarem Geruch, kroch schaumgekrönt durch die Landschaft. Kaum ein Fisch mehr, kaum noch Leben. Vorbei die Tage, als der 17-jährige Joseph von Eichendorff von Gimritz bis nach Trotha schwamm und der Schwimmverein Schwan am Ufer "Gut Nass, Hurra!" jubelte. Statt "silbern glänzender Wellen", wie sie der begeisterte Saale-Schwimmer Johannes Teller Anfang des vergangenen Jahrhunderts beschrieb, nur stickiger Chemienebel. Mitte der 80er <&gt; wurden trainierende Ruderer in den Cyanid-Ausdünstungen ohnmächtig, die einschlägigen Grenzwerte waren um das 50-fache überschritten worden. Nach dem Dafürhalten der zuständigen DDR-Behörden hieß das "stark verschmutzt". Und bedeutete: Baden verboten, Paddeln auf eigene Gefahr. 

Ein Ruf, der dem Fluss bis heute nachhängt - und das völlig zu Unrecht. Nicht nur, weil sein Wasser längst das Prädikat "chemisch gut" trägt. Sondern auch, weil die Saale alles hat, was sie zu einem beliebten Paddel- und Kanurevier machen könnte: Unberührte Natur mit fliegenden Bussarden und Graureihern, Bachstelzen, Enten und Nutrias, eine touristische Infrastruktur mit Zeltplätzen und Gaststätten, Sehenswürdigkeiten an beiden Ufern und zwischen ihnen einen Strom, der jedes Boot gemächlich schiebt, so dass das Paddeln auch mal unterbleiben kann.

Alles das hat die Saale. Nur Paddler und Kanuten hat sie kaum. Nach einer Untersuchung der Investitions- und Marketinggesellschaft Sachsen-Anhalts halten derzeit nur sechs Prozent der Deutschen die Saale-Unstrut-Region für eine Wassersport-Gegend. "Manchmal kommen zwei, manchmal zwölf", sagt Rolf Wintermann, der in Dehlitz die letzte Verpflegungsstation vor dem weltvergessenen Stück Strecke nach Merseburg betreibt. Das ist der Andrang an einem Wochenende. "Da ist immer mehr los", sagt Wintermann, der seinen Kiosk mit Anlegesteg und Zeltwiese nur nebenbei betreibt. "Leben kann man davon nicht.

Die Zahlen machen es deutlich. Anfang der 90er, als über den wahren Zustand der Saale berichtet werden durfte, wagten sich keine 500 Paddelboote pro Jahr auf den Fluss. Doch je sauberer die Saale später wurde, desto beliebter wurde sie. Fast 8 000 Boote waren 2009 zwischen Naumburg und Barby unterwegs, so viel wie seither nie wieder. Letztes Jahr zählten die Schleusenwärter des Wasserstraßenamtes Magdeburg nicht einmal mehr 5 500 Boote, die zwischen Frühjahr und Herbst auf dem Fluss unterwegs waren. Selbst die Unstrut, die bei Naumburg in die Saale mündet, zieht mehr als dreimal so viele Freizeitkapitäne in Kanadiern und Faltbooten an.

Wenn die Saale bepaddelt wird, dann "gehört die Strecke Camburg - Naumburg zu den am stärksten frequentierten Abschnitten", beschreibt Matthias Beyersdorfer, der Geschäftsführer des Fördervereins Blaues Band e.V. Auch die 90 Kilometer zwischen Halle und der Mündung in die Elbe werden nach Erfahrungen des halleschen Bootsvermieters Thoralf Schwade häufiger befahren als die Strecke von Naumburg nach Halle. Dabei ist die Saale gerade hier eines dieser von Menschen und Massentourismus noch völlig verschonten Gebiete, nach denen Paddler und Kanuten in ganz Europa suchen.

Dennoch setzt am Blütengrund in Naumburg am Morgen nur eine einzige Familie in Faltbooten ein, erfahrene Paddler, bei denen jeder Handgriff sitzt. Vom Start weg ist die Strömung kräftig; die Unstrut, die 400 Meter flussaufwärts in die Saale fließt, drückt mehr als die Morgensonne. Naumburg liegt nur ein paar hundert Meter hinter dem rechten Ufer, ist aber vom Wasser aus genau so unsichtbar wie es später die meisten Dörfer entlang der Route sein werden.

Das Wasser ist klar, kein "Blaues Band", wie die Werbeschilder am Ufer suggerieren, aber ein grünbraunes, das im Licht glitzert. Die Schönburg Ludwig des Springers taucht auf, danach Schloss Goseck. An der Oeblitzschleuse bietet Peter Frick Wasser- und Radwanderern Essen und kalte Getränke. Eine Stunde weiter wartet schon das Bootshaus eines Rudervereins. Es wäre Platz für zahlreiche Paddler, auf dem gemütlich dahinschlängelnden Fluss und auf der Terrasse. "Aber Paddler sind eher selten", sagt die Kellnerin.

Obwohl die Förderservice GmbH der Investitionsbank des Landes den Wassertourismus auf der Saale seit 20 Jahren auf Messen und neuerdings auch im Internet vermarktet, sind nirgendwo welche zu sehen. Stattdessen kommt Weißenfels in Sicht und mit der größten Stadt auf der Strecke auch das Gefühl, dass die alte Saale noch nicht ganz tot ist - hinter der Brückenmühlenschleuse riecht sie nur so.

Masterplan Tourismus


Hier tauchen auch unübersehbare Hinterlassenschaften des Hochwassers von 2013 auf, das den Wassertourismus auf der Saale, der Teil des Masterplan Tourismus 2020 ist, um zehn <&gt; zurückwarf. Autoreifen liegen im Uferschlamm, Kinderwagen, Badewannen, Fässer und Plastikstühle. Dreck, der niemandem gehört, wie die Wasser- und Schifffahrtsverwaltung erklärt. Es trete "kein Abfallbesitz des Bundes ein, da das hierfür erforderliche Mindestmaß an tatsächlicher Sachherrschaft nicht vorhanden ist". Zuständig seien die örtlichen Entsorgungsträger. Die vermutlich keine Schiffe haben. 

Zum Glück endet Sachsen-Anhalts hässliches Stück Wasserseite bald. Nun wird das Saaletal wieder zu einem verwunschenen Ort, an dem Outdoorfans und Freizeitkanuten durch waldige, grüne Einsamkeit treiben. Hinter Rolf Wintermanns Kiosk gibt es keine Verpflegungsmöglichkeiten mehr, nur Hindernisse. Die meisten Schleusen sind jetzt auf Selbstbedienung ausgelegt. Funktioniert eine nicht, geht unter Umständen auch niemand ans Telefon. Die noch von Wärtern betreuten Hebewerke dagegen sind wochentags geschlossen und am Wochenende nur halb besetzt. Der Masterplan für Touristen: Wer Kanu und Gepäck nicht umtragen will, übt sich in Geduld.

www.blaues-band.de
www.bootsverleih-halle.de
www.saale-unstrut.de
www.bootsverleih-halle.de


Samstag, 17. Februar 2018

FDJler mit Fingern am Hintern: Wir DDR-Amerikaner


Der Tabubruch ist komplette Handarbeit. Sieben Zentimeter lang, fünf breit und mit klitzekleinen Mäusestichen hinten an die Tasche der Jeanshose genäht. Ein Affront aus Baumwolle, der Klassenfeind auf Unterwandertour in der DDR Ende der 70er Jahre. Schwurfinger, die das Victory-Zeichen zeigen, das ist schrecklich genug, denn in der finalen Phase des Kalten Krieges zählt nicht mehr, dass dessen Erfinder Winston Churchill seinerzeit einem Land vorstand, das gegen den sogenannten Hitlerfaschismus verbündet war mit dem Bruderland der DDR, der großen sozialistischen Sowjetunion. Es kann ja auch nicht zählen, denn die ideologischen Kriegsführer im Westen haben den Stoffpatch mit der Schwurhand mit den amerikanischen Farben zum Überbringer einer klaren Botschaft gemacht. Wir werden siegen. Ihr werdet verlieren.


Nachdem die willige Freundin das „Aufnäher“ genannte Stück Stoff auf die Jeans gepappt hatte, wurde der Träger der Hose zum Verkünder der Wahrheit des Gegners im Ringen der Systeme. Egal, ob die Jeans eine Levis, Wrangler, Edwin oder Wisent war, wo das Victory-Zeichen in US-Flaggenfarben prangte, schrillte der Klassenkampf-Alarm. Lehrer bezogen ideologische Schützengräben, Direktoren luden in ihr Büro, Pionierleiter eilten mit Bastelscheren durchs Treppenhaus, um den Angriff der 5. Kolonne Washingtons auf das Herz des sozialistischen Bildungssystems abzuwehren.


Das von einem sogenannten Sowjetmenschen entworfene und der Uno vom sozialistischen Brudervolk geschenkte Schwerter-zu-Flugscharen-Symbol zu tragen, war schrecklich. Doch die Schwurfinger des amerikanischen Imperialismus übertrafen alles. Eltern mussten antreten und ihren Nachwuchs gegen den Vorwurf des Verrats an den Grundsätzen von Frieden, Freundschaft und Solidarität verteidigen. FDJ-Leitungen waren gezwungen, ihr Nichteingreifen mit Blindheit zu entschuldigen. Fiel ein Victory-Aufnäher einer Volkspolizei-Streife auf der Straße auf, hieß es „mitkommen, Klärung eines Sachverhaltes“.


Und der ließ sich nie mit dem Hinweis klären, dass der staatsfeindliche Aufnäher aus dem befreundeten Ungarn oder von einem Straßenmarkt im RGW-Bruderland Polen stammte. „Wir sind hier in der DDR“, sprach der Wachtmeister da, „hier gelten unsere sozialistischen Gesetzlichkeiten.“ Die eine völkerverbindenden Verbindung von DDR-Boxerjeans, steif, unausbleichbar und mit abspringenden Knöpfen, mit Amerikanergruß aus einer polnischen Kellernäherei nicht vorsah.


Eben das machte es ja so spannend. Je weiter weg Amerika in der DDR-Propaganda rückte, je mehr aus Amerikanern bluttrünstige, mordgierige, die Welt unterjochende Monster wurden, desto reizvoller schien es, selbst Amerikaner zu sein, und sei es nur ein bisschen, durch lange Haare, Jeans und ein Stück Stoff am mageren Teenager-Arsch. Ein Risiko war ja auch kaum dabei, denn außer einer Stellungnahme, abzugeben vor dem FDJ-Kollektiv, das Mühe hatte, nicht in Gelächter auszubrechen, drohte höchstens ein Tadel beim Morgenappell. Erwischt zu werden brachte damit auch noch Anerkennung von allen, die auch lieber Amerikaner gewesen wären als kleines Neubaukind.


Donnerstag, 8. Februar 2018

Vollendete Einheit: Erstmals kein Ostdeutscher unter den Ministern


Zahlen lügen nicht, auch nicht die über den Zustand der deutschen Einheit, ausgedrückt durch die Zahl der gebürtigen Ostdeutschen am Kabinettstisch. Dort saß all die Jahre seit der Wiedervereinigung stets mindestens ein gebürtiger Ostdeutscher im Ministeramt: Lange war das Hans-Dietrich Genscher, später Wolfgang Tiefensee, schließlich Manuela Schwesig. Es galt auch als Symbol,  dass Ostdeutschland wenigstens irgendwie in der Regierung vertreten war - so wie die Parteien stets darauf achteten, dass die einzelnen westdeutschen Landesverbände ja nach Stärke vertreten waren, so galt der Ossi im Regierungsamt als wichtiges Signal in die neuen Länder: Ihr seid vertreten, ihr seid dabei, ihr werdet nicht nur verwaltet, er regiert selbst mit.

Nie reichte die Zahl der Ostdeutschen zwar, ihren Anteil an der Gesamtbevölkerung zu repräsentieren - sowohl bei CDU als auch bei SPD, der FDP und den Grünen waren die Landesverbände in den alten Ländern immer stärker. Aber der neuen Großen Koalition fehlt nun erstmals nicht nur die Kraft für „Visionen“, wie die Linke beklagt. Sondern auch die Kraft, an bisher üblicher Symbolik festzubehalten. Was sich da in Berlin demnächst als neue Regierung zusammenfindet, wird, bleibt es bei der derzeit bekannten Besetzung der Ämter -  die erste bundesdeutsche Regierung ohne jeden ostdeutschen Minister - selbst 1958, 1968, 1978 und 1988 saßen mehr Leute mit einem Geburtsort östlich der Elblinie als Minister im Kabinett als im Jahre 2018.

In dem liegt die Quote bei genau Null. Ein Zustand, der keineswegs normal, sondern Ausdruck einer Entwicklung ist, die bereits seit einigen Jahren anhält. Wo rein rechnerisch zwei bis drei Minister im Osten geboren sein müssten, ist es keiner. Dafür stammen zwei von der Saar und drei aus Bayern.

Das könnte ein Zufall sein. Doch es ist wohl keiner. In der scheidenden Groko werden 57 von 60 Staatssekretärsstellen von gebürtigen Westdeutschen besetzt. Bis zum krankheitsbedingten Wechsel in Schwerin waren drei von sechs ostdeutschen Ministerpräsidenten gebürtige Westdeutsche (inkl. Berlin). In der Landesregierung von Sachsen-Anhalt sitzen derzeit so wenige ostdeutsche Minister wie noch nie seit 1990. Kein Wunder: Nach den Ergebnissen einer Studie der Friedrich-Schiller-Universität Jena besetzen Ostdeutsche bundesweit nur 1,7 Prozent der Führungspositionen.

Wenig für 17 Prozent der Bevölkerung. Natürlich: Die in Hamburg gebürtige Bundeskanzlerin wird gern als Ausgleich bemüht, in dem der Geburtsort zur Nebensache erklärt wird. Wichtig sei nur die Sozialisation Merkels in der DDR, nicht ihre Herkunft. Doch diese Argumentation lenkt eher vom Phänomen ab: Neben Angela Merkel sitzen im Vorstand der CDU ausschließlich gebürtige Westdeutsche. 

Warum ist das so? Warum ist die Vertretung Ostdeutscher in den gesellschaftlichen Institutionen, Parlamenten und in wirtschaftlichen Leitungsfunktionen heute niedriger als sie jemals nach 1990 war?

Statt die Frage zu stellen und nach einer Ursache des rätselhaften Phänomens zu suchen, haben sich die Groko-Verhandler entschlossen, Normalität durch Verzicht auf die Symbolik einer Beteiligung Ostdeutscher an der Leitung von Ministerien zu behaupten.

Wo es nach 28 Jahren, in denen eine ganze Generation, die die DDR nur als Kind und Jugendlicher erlebt hat, Universitäten absolvierte, um heute mit Mitte 40 über eine Ausbildung und einen Erfahrungsschatz zu verfügen, der sich kaum von westdeutschen Altersgenossen unterscheiden dürfte, eigentlich eine Veränderung hin zu mehr ostdeutscher  Repräsentanz geben müsste, wird sie weniger. Schließlich sind die, die da jetzt kommen, keine gelernten DDR-Lehrer mehr, keine sozialistisch sozialisierten Funktionäre und keine durch den Verlust ihrer Arbeitsplätze gleich nach der Vereinigung frustrierten Altkader.

Und trotzdem tauchen sie nicht auf. Sind das fortgesetzte Zufälle? Oder sind Ostdeutsche zu dumm? Unqualifiziert? Haben sie nicht die richtigen Verbindungen? Treten sie falsch auf? Einen Grund muss es geben, aber wo die Frage nicht gestellt wird, wird er im Dunkeln bleiben.

Das wirklich Frappierende dabei ist nicht der Fakt an sich, sondern die Aussage die er trifft: Wie ein kompletter Ostverzicht im Osten ankommen wird, konnte man sich selbst in dem Raumschiff ausmalen, in dem die Groko-Verhandler seit Wochen durch ihren eigenen Kosmos geflogen sind. Sie haben offenbar dennoch vor, darüber hinwegzusehen. Weil die Kraft nicht für soetwas auch noch reicht. Weil dort Westdeutsche mit Westdeutschen über ganz andere Dinge verhandeln. Weil es vielleicht auch schon völlig egal ist.

Man weiß es nicht. Aber mehr muss im Osten auch niemand wissen über die Bedeutung, die Ostdeutschland in den kommenden dreieinhalb Jahren haben wird.

Ostdeutschland: Ein Land ohne eigene Eliten






Samstag, 3. Februar 2018

Werkunterricht in der DDR: Das geheimnisvolle Holzstück


Ein Holzstück, eigenartig geformt, glattgeschliffen und von rätselhafter Bedeutung. Das Holz ist weich, Buche vielleicht, es hat ein paar Druckstellen und am Rand ist hier und dort etwas weggesplittert. Ein benutzter Gegenstand, augenscheinlich nicht aus einer Fabrik, sondern aus der Hand eines Laien. Passgenau gefertigt für einen Zweck, der heute ein Rätsel ist: Im Werkunterricht der Polytechnischen Oberschule der DDR war der Holzklotz zumindest in Schulen, deren Einzugsgebiet in Neubaustädten lag, Pflicht.

In den Kellern der Schulen, wo sich die Werkräume mit ihrem Duft aus Holzspänen, Lötkolben, Kanalisation und Kinderschweiß befanden, schnallten sich bereits die Jüngsten aus der 1. Klasse Schürzen um und begannen, an Werkstücken zu feilen, Vogelhäuschen zu zimmern und Löcher in Plastikstücke zu bohren, aus denen Brieföffner wurden, die dann zu Weihnachten stolz verschenkt und von den Eltern glücklich angenommen wurden, wiewohl jeder über zehn wusste, dass sie niemals von irgendjemandem benützt werden würden.

Der Werkunterricht, später erweitert um die fürchterliche Fächer Einführung in die Sozialistische Produktion und Produktive Arbeit, dienten dazu, der nachwachsenden Generation erste handwerkliche Fertigkeiten für das Leben in einem Land zu vermitteln, das ohne das weitverzweigte Netz aus Dienstleistungen auskommen musste, das heutige Gesellschaften auszeichnet. Einen Nagel einschlagen, eine Schraube drehen, Zangen benutzen und Löcher bohren – der DDR-Mensch, der nach den Idealvorstellungen seiner proletarischen Führung ein polytechnisch gebildetes Wesen von hohem Intellekt, großer Bildung, leidenschaftlicher Liebe zur Kultur und fabelhafter handwerklicher Geschicklichkeit sein sollte, begann früh, sich die ersten Überlebenstechniken anzueignen.


Das Holzstück zu formen, aus einem groben Scheit, gehörte dazu. Es musste zugesägt werden, dann angerissen, schließlich mit einer Raspel bearbeitet und dann mit Feile und Sandpapier seidenweich gestriegelt werden. Die seltsame Form verdankte sich der vorgesehenen seltsamen Nutzung: Das Holzstück war dafür gedacht, ins standardisierte Fensterprofil der Neubauwohnungen geschoben zu werden, wo es als Ausgleich für die häufig fehlenden Thermostate für Lüftung sorgte.



Donnerstag, 1. Februar 2018

Donots: Im Gegenwind surfen


Kurz vor dem ersten Vierteljahrhundert der Bandgeschichte setzen die Donots aus dem Münsterland mit dem zweiten deutschsprachigen Album Maßstäbe.


Als der weltenbummelnde Punk Frank Turner ihnen damals vor fünf Jahren beim Album "Wake the Dog" bei einem Song half, war das ein Ritterschlag. Als Rise Against-Gitarrist Tim McIlrath wenig später bei "Das Neue bleibt beim Alten" in die Saiten griff, war klar, dass Anerkennung für schnelle, scharfe Punkmusik nicht von der Sprache abhängt, in der gesungen wird. Mit "Karacho" wechselten die Donots vor drei Jahren dann wirklich und vollständig vom Englischen ins Deutsche.

Aus der Band, die zwei Jahrzehnte lang Punk im Stil von The Clash, Sham 69 und The Jam gemacht hatte, wurde ein Quintett, das auf Augenhöhe mit den Toten Hosen, Sportfreunden Stiller und Tocotronic spielte. Nur dass Sänger Ingo Knollmann, sein Bruder Guido an der Gitarre, der zweite Gitarrist Alex Siedenbiedel, Bassist Jan-Dirk Poggemann und Trommler Eike Herwig ein ganz klein wenig energischer zur Sache gehen. "Lauter als Bomben", das neue Werk der Punkband aus Ibbenbüren, ist ein lautes, rebellisches Album aus donnernden Drums, rotzigen Gitarren und leidenschaftlichem Gesang, das an Vorbilder wie The Offspring, Green Day oder die Dropkick Murphys erinnert.

Auch im politischen Anspruch, der die Münsterländer nicht nur mit Green Day, sondern auch mit den Mecklenburger Kollegen von Feine Sahne Fischfilet und Jennifer Rostock verbindet. Hemdsärmlig rocken die fünf Musiker hier "Geschichten vom Boden" und sie drohen "Keiner kommt hier lebend raus", ehe "Alle Zeit der Welt" und "Das Dorf war LA" ein wenig Tempo herausnehmen. Das Fundament der Musik ist immer klassischer Punk, etwa Marke Social Distortion oder The Alarm. Doch wie viele Bands haben auch die Münsterländer zugleich Heavy Metal und Folk als Einfluss entdeckt. Guido Knollmann spielt hier schon auch mal den Ansatz eines Gitarrensolos und die Rhythmusgruppe wechselt das Tempo vom T.Rex-Shuffle zum schwermetallischen Rumba in "Rauschen".

Bruder Ingo erzählt seine Kleinstadtgeschichten mit großer Inbrunst. "Von genug nie genug, von zu wenig viel zu viel, werden wir jemals reichen?" antwortet er in "Aschesammeln" auf Konstantin Weckers Klassiker "Genug ist nicht genug". "Eine letzte Runde" nimmt dann einen Reggae-Rhythmus, um vom Ende einer langen Kneipennacht zu berichten: "Wenn wir jetzt gehen, dann gemeinsam, und wenn es sein muss vor die Hunde, noch eine letzte letzte Runde."

Ein Stimmungslied mit Hoho-Chor, das den schweren Ton der meisten übrigen Songs ein wenig aufbricht. Davon abgesehen aber geht es hier hauptsächlich darum, im "Gegenwind surfen" zu lernen. Widerstand leisten gegen die Verwertungslogik der Wirtschaft, gegen die Verführbarkeit für populistische Losungen, gegen die Versuchung, alles immer und sofort zu brauchen.

"Man hat die Verantwortung, bei rechter Hetze dagegenzuhalten", hat Ingo Knollmann erklärt, als ihn das Jugendmagazin "Neon" zur Motivation seiner Band befragt hat, sich immer wieder und unumwunden in den Kampf gegen neue Nazis und altes faschistisches Gedankengut zu stürzen. Es gehe darum, Jugendliche nicht mit den falschen Gedanken allein zu lassen, sondern ihnen Orientierung zu geben, so gut man könne. "Wenn man als Band die Kids da draußen wirklich unmittelbar mit Herz und Kopf erreichen kann, dann sollte man das auf jeden Fall tun", glaubt Knollmann.

"Lauter als Bomben" ist denn auch ein politisches Album geworden, ohne in plumpe Propaganda abzustürzen. Die Botschaft der Donots ist dennoch jederzeit klar, aber sie wird nicht mit ermüdender Penetranz gesungen wie bei manchen gutwilligen Kollegen. Im Visier haben Lieder wie "Der Trick mit dem Fliegen" oder "Apollo Creed" zuallererst den Bewegungsapparat, die Refrains schreien nach Hallen, die jedes Wort mitsingen. Aber die werden die fünf Musiker auf der anstehenden Tour zur Genüge zu hören bekommen.