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Samstag, 10. März 2018

Medien: Die Angst vor der 5. Gewalt



Das Journalisten-Ehepaar Petra Gerster und Christian Nürnberger hat ein Buch zur Verteidigung der vielkritisierten "Lügenpresse" geschrieben. Aber der Plan der beiden Insider geht nicht richtig auf.


Man tut eigentlich nur, was man immer getan hat. Und auf einmal ist alles anders. Petra Gerster ist irgendwann eine Wandlung aufgefallen, die sie nicht verstanden hat. Die Chefmoderatorin der "heute"-Nachrichten im ZDF empfing Signale eines Vertrauensverlustes, die Leute vor dem Schirm schimpften häufiger, "Lügenpresse" hieß es plötzlich auch in Richtung des öffentlich-rechtlichen Fernsehsenders, bei dessen Frauenmagazin "Mona Lisa" Gerster einst ihre Karriere begonnen hatte.

Damals in den 90ern, so erinnert sie sich, sei ein Grundvertrauen dagewesen zwischen Zuschauern und Journalisten, zwischen Sender und Empfänger. Die Bürger könnten sich nicht zu jeder Detailfrage eine eigene Meinung und ein sicheres Urteil bilden, meint Gerster, sie müssten denen vertrauen, die Experten auf ihrem Gebiet seien. "Erodiert dieses Vertrauen, erodiert die Demokratie", glaubt Petra Gerster, die zusammen mit ihrem Ehemann, dem Journalisten Christian Nürnberger, ein Buch geschrieben hat, das nach den Ursachen des Vertrauensverlustes sucht und vor seinen Folgen warnt.

Es ist ein Buch aus der Innenperspektive, das sich bemüht, denen draußen zu erklären, wie das Nachrichtengeschäft läuft. Dass das überhaupt nötig ist, analysieren Gerster und Nürnberger, liege überhaupt nur an jener fünften Gewalt, die sich den drei verfassungsmäßigen Legislative, Judikative und Exekutive und jener aus sich selbst heraus wirksamen 4. Gewalt der Medien ungebeten angeschlossen habe. Soziale Netzwerke, "ohne deren Existenz der Vertrauensverlust marginal geblieben wäre", wie die Autoren vermuten.

Das ist auch schon das ganze Problem. Nicht eine Berichterstattung, die zumindest von Teilen der Zuschauer als bevormundend oder manipulativ empfunden wird, sehen Petra Gerster und Christian Nürnberger als Ursache des angespannten Verhältnisses zwischen den etablierten Medien und ihrem Publikum. Sondern die sozialen Netzwerke: Anfangs nur vereinzelt vorgetragene Kritik von Laien an den journalistischen Profis habe durch Facebook, Twitter und Co. zu einer "nie dagewesenen Gegenöffentlichkeit" geführt. Die nicht ernst genommen, sondern von den Kritisierten als unsinnig weggewischt worden sei. "Woraus die Kritiker ableiteten, dass sie recht hatten."

Es ist nun, wo das Kind im Brunnen liegt, ein ehrenwertes, aber mühseliges Unterfangen, die "Verunsicherten, die Fragen und Zweifel haben, aber noch empfänglich sind für Argumente", davon zu überzeugen, dass dem nicht so ist. Zumal, wenn sich beide Autoren entschließen, ihre Argumentation mit den üblichen Beweisen zu begründen. So sind Facebook und Twitter natürlich auch hier wieder "Medien, die tagtäglich eine Überdosis Gift aus Lügen, Gerüchten, Verschwörungstheorien, Aberglauben und Fake News verspritzen". Eine Behauptung, die die täglich allein bei Facebook eingestellten zwei Milliarden neuen Kommentare, die überwiegend weder Gift noch Lüge noch Aberglauben enthalten, einfach für unwichtig erklärt, um in der "Überdosis Gift" einen bequemen Schuldigen an der wachsenden Kritik an der eigenen Arbeit zu finden.

Das "Misstrauensvotum", von dem Gerster und Nürnberger selbst schreiben, es ist bei den beiden Autoren nicht angekommen. Wenn es dann darum geht, zu erklären, dass etwa ARD und ZDF keine "Staatssender" sind, dann arbeitet sich das Autorenduo ausschließlich am ZDF ab. Das Verfassungsgericht hatte dessen Verwaltungsrat 2014 als "zu staatsnah" bezeichnet und gefordert, dass der Anteil von Politikern von 40 Prozent auf ein Drittel reduziert werden müsse. Das sei auch geschehen, führen Gerster und Nürnberger an - seit Juli 2017 seien unter den zwölf Mitgliedern nur noch vier Vertreter von Bundesländern.

So wahr das ist, so richtig ist auch, dass es nebenan bei der ARD ganz anders aussieht. Im MDR-Verwaltungsrat haben zum Beispiel bis heute fünf von sieben Mitgliedern ein Parteiticket. Nur zwei der Frauen und Männer, die den Auftrag haben, die Geschäftsführung der MDR-Intendantin zu überwachen, sind im bürgerlichen Beruf als Professoren an einer Universität unabhängig. Alle anderen sitzen in einem Landtag, waren früher einmal Bürgermeister, Abgeordneter oder im Vorstand ihrer Partei.

Ein Umstand, der Gerster und Nürnberger ebenso entgangen zu sein scheint wie der, dass die unabhängige "Kommission zur Ermittlung des Finanzbedarfs der Rundfunkanstalten", die derzeit jährlich rund acht Milliarden Euro an die öffentlich-rechtlichen Anstalten verteilt, alles andere als eine "unabhängige" Institution ist. Die Mitglieder des Gremiums werden nicht öffentlich nominiert oder gewählt. Sondern, so heißt es im Gesetz, von den "Ländern entsandt" - also von den Ministerpräsidenten ausgewählt.

Handverlesen, was am Ende herauskommt. Vom früheren persönlichen Minister-Referenten über einen ehemaligen Fraktionsassistenten im Landtag, dem Ex-Chef einer Senatskanzlei und früheren Staatssekretär bis hin zum einstigen Abteilungsleiter in einem Ministerium und dem früheren Volontär eines der Sender, denen die KEF Geld zuteilt, ist alles vertreten, was nicht direkt ein Parteiamt hat. Aber so nahe dran ist, dass das "unabhängig" im Namen nach Etikettenschwindel riecht.

Nichts, was von Gerster und Nürnberger zu erfahren wäre. Erzählen die beiden alten Nachrichtenkämpen von Machtkonzentrationen im Medienbereich, dann am liebsten über die im Ausland: Die altbekannten Rubert Murdoch und Silvio Berlusconi tauchen da auf, neun Seiten lang. Die deutschen Pressezaren dagegen sind auf drei Seiten abgehandelt. Schließlich seien Hubert Burda und Frank Otto zwar "auch schwer reiche Medienunternehmer", aber beide verstünden sich "eher als Kaufleute denn als politisch agierende Verleger". Das Medienimperium der SPD, die über die Deutsche Druck- und Verlagsgesellschaft mbH Miteigentümerin von 40 Zeitungen mit einer Gesamtauflage von etwa 2,2 Millionen verkauften Exemplaren ist, kommt gar nicht vor.

Es ist natürlich schwer, einem Buch zu trauen, das seine Wahrheiten so offenkundig selektiv auswählt. Wenn Gerster und Nürnberger in der Folge von den Umständen berichten, unter denen Nachrichten entstehen, verarbeitet, verbreitet und am Ende gesendet werden, dann tun sie das faktenreich und anhand von vielen Beispielen auch sehr anschaulich.

Doch auch hier streift das schreibende Paar die wichtigsten Punkte nur wie versehentlich: Eine Klage von Reporter ohne Grenzen gegen den Bundesnachrichtendienst (BND) wegen dessen Bespitzelung von Journalisten wird erwähnt. Das Urteil Bundesverwaltungsgerichtes, das es dem BND seit Dezember 2017 verbietet, Verbindungsdaten aus Telefongesprächen von Reporter ohne Grenzen zu speichern, nicht.

Noch lässiger fliegen Gerster und Nürnberger über das "im Oktober verabschiedete Gesetz zur Vorratsdatenspeicherung" (VDS) - gemeint ist wohl der Oktober 2015, vergessen wurde, dass die VDS trotz des Parlamentsbeschlusses zur Wiedereinführung bis heute ruht, weil Gerichte und europäische Institutionen ernsthafte Bedenken wegen ihrer Verfassungsmäßigkeit und ihrer Übereinstimmung mit Europarecht hegen.

Wer solche Fehler macht, muss eigentlich über Fake News schweigen.

Mittwoch, 7. März 2018

Digitalisierung: Als Helmut Kohl die Zukunft begrub

Nein, es sind nicht die Grünen schuld, dass es mit dem Internet nicht richtig läuft in Deutschland.. Zwar machte die damals noch alternative Partei in ihrem Wahlprogramm gegen die Informations- und Kommunikationstechniken Front: Die Grünen lehnten eine "Informatisierung der Gesellschaft" ab und brandmarkten die "Computerisierung und informationstechnische Vernetzung" als Mittel zur Unterdrückung. In einem Parteitagsbeschluss unterstützten die Grünen den Widerstand gegen die neue Technik und forderten eine "bedürfnisorientierte Technikentwicklung". Abgelehnt würden die "Digitalisierung der Fernsprechnetze" und ein Aufbau von Glasfasernetzen, unterstützt ein Stopp des Kabel- und Satellitenfernsehens sowie ein Ende des Internet-Vorläufers Bildschirmtext (BTX).

Doch das Ende des Anfangs von Deutschland als einer der weltweit führenden Hightech-Nationen markierte jemand anders. Bundeskanzler Helmut Kohl, ein erklärter Freund der Wirtschaft, stellt  kurz nach seinem Amtsantritt entscheidende Weichen so, dass die damalige Bundesrepublik beim Ausbau der für das Internet bis heute notwendigen Infrastruktur so entscheidend ins Hintertreffen gerät, dass die bereits seit fünf Jahren als Staatssekretärin für den Digitalausbau amtierende CSU-Politikerin Dorotheee Bär den Beginn  ihrer zweiten Amtszeit mit der Forderung feiern kann, es müsse nun "mehr Tempo bei der Digitalisierung" her.

Tempo, das seinerzeit unter Kohls Vorgänger Helmut Schmidt durchaus vorhanden war. Im April 1981, also vor fast 40 Jahren, wurde während einer Kabinettssitzung der Beschluss gefasst, die damals noch staatseigene Bundespost zu beauftragen, "den zügigen Aufbau eines integrierten Breitband- und Glasfasernetzes vorzunehmen", wie es in einem Sitzungsprotokoll heißt. 1985 sollte der Startschuss fallen, bis 2015 wollte Schmidt die gesamte alte Bundesrepublik mit einem Glasfasernetz aufrüsten, das damals wie heute als zukunftsweisende Möglichkeit gilt, Daten zu übertragen.

Die Pläne waren fertig. Pro Jahr sollten drei Milliarden D-Mark ausgegeben werden, insgesamt also nach heutigen Preisen etwa 45 Milliarden Euro. Ein Schnäppchen in Zeiten, in denen allein der Bund pro Jahr rund die doppelte Summe ausgibt, um den Ausbau durch private Unternehmen zu fördern. Und damit bisher nur erreicht hat, dass Deutschland auf Platz 28 von 32 Staaten bei der Versorgung mit Glasfaser-Netzen liegt.

Der Grund dafür ist der Regierungswechsel. Als Schmidt ging und Kohl kam, hatte die Glasfaser keinen Freund mehr im Kanzleramt. Kohl war eng verbunden mit dem Medienmogul Leo Kirch, dessen Interesse galt dem Ausbau von Kabelnetzen zur Versorgung mit den neuen Fernsehsender Sat1 und RTL, auf die auch die CDU setzte. Mit der „geistig-moralischen Wende" von 1982 wurden die Glasfaserpläne auf den Müll geworfen und unter dem damaligen Postminister Christian Schwarz-Schilling stattdessen technische Ausbau der Verkabelung mit Kupferkabeln vorangetrieben. Schwarz-Schillings schade war das nicht: Erst kurz vor der Ernennung zum Minister verkaufte er die Anteile an der Firma, die den Ausbau übernahm.

Aus dem Ziel, Deutschland zum Vorreiter beim Einsatz von Glasfaser-Technologien zu machen und damit Vorteile für die Exportwirtschaft zu sichern, wurde nichts.

Bis heute.

Samstag, 3. Februar 2018

Werkunterricht in der DDR: Das geheimnisvolle Holzstück


Ein Holzstück, eigenartig geformt, glattgeschliffen und von rätselhafter Bedeutung. Das Holz ist weich, Buche vielleicht, es hat ein paar Druckstellen und am Rand ist hier und dort etwas weggesplittert. Ein benutzter Gegenstand, augenscheinlich nicht aus einer Fabrik, sondern aus der Hand eines Laien. Passgenau gefertigt für einen Zweck, der heute ein Rätsel ist: Im Werkunterricht der Polytechnischen Oberschule der DDR war der Holzklotz zumindest in Schulen, deren Einzugsgebiet in Neubaustädten lag, Pflicht.

In den Kellern der Schulen, wo sich die Werkräume mit ihrem Duft aus Holzspänen, Lötkolben, Kanalisation und Kinderschweiß befanden, schnallten sich bereits die Jüngsten aus der 1. Klasse Schürzen um und begannen, an Werkstücken zu feilen, Vogelhäuschen zu zimmern und Löcher in Plastikstücke zu bohren, aus denen Brieföffner wurden, die dann zu Weihnachten stolz verschenkt und von den Eltern glücklich angenommen wurden, wiewohl jeder über zehn wusste, dass sie niemals von irgendjemandem benützt werden würden.

Der Werkunterricht, später erweitert um die fürchterliche Fächer Einführung in die Sozialistische Produktion und Produktive Arbeit, dienten dazu, der nachwachsenden Generation erste handwerkliche Fertigkeiten für das Leben in einem Land zu vermitteln, das ohne das weitverzweigte Netz aus Dienstleistungen auskommen musste, das heutige Gesellschaften auszeichnet. Einen Nagel einschlagen, eine Schraube drehen, Zangen benutzen und Löcher bohren – der DDR-Mensch, der nach den Idealvorstellungen seiner proletarischen Führung ein polytechnisch gebildetes Wesen von hohem Intellekt, großer Bildung, leidenschaftlicher Liebe zur Kultur und fabelhafter handwerklicher Geschicklichkeit sein sollte, begann früh, sich die ersten Überlebenstechniken anzueignen.


Das Holzstück zu formen, aus einem groben Scheit, gehörte dazu. Es musste zugesägt werden, dann angerissen, schließlich mit einer Raspel bearbeitet und dann mit Feile und Sandpapier seidenweich gestriegelt werden. Die seltsame Form verdankte sich der vorgesehenen seltsamen Nutzung: Das Holzstück war dafür gedacht, ins standardisierte Fensterprofil der Neubauwohnungen geschoben zu werden, wo es als Ausgleich für die häufig fehlenden Thermostate für Lüftung sorgte.



Mittwoch, 24. Januar 2018

Vor 25 Jahren: Dynamo Dresdner Drunter und Drüber

Vor 25 Jahren stand Dynamo Dresden vor Aus. Die Bilanz des Dresdner Fußballs nach anderthalb Jahren Bundesliga war ernüchternd: Die Klasse zwar gehalten, aber die Kassen waren leer. Die besten Spieler sind verkauft, doch die Millionen verschwunden. 16,4 Millionen Mark Schulden hatten die damals letzten Ost-Vertreter im Reigen der besten deutschen Kicker aufgehäuft. Gründe dafür gab es so viele, wie es Interessen im Gerangel um die Macht im maroden Klub gab. Dynamo war ein Verein der Widersprüche und Widersinnigkeiten, ein Objekt für Liebe und Geschäfte. Und auch die Rettung durch den hessischen Bauunternehmer Rolf-Jürgen Otto würde nicht die letzte bleiben.


Ein Krimi aus dem Jahr 1992.



Pascale, der Wirt der Dynamo-Schenke, hat schon gewaltige Schlachten erlebt. "Aber was uns heute Abend bevorsteht", poltert er, "hat ein anderes Kaliber." Heute Abend geht es nicht um Fußball. Heute Abend geht es um Glauben. "Wenn wir nämlich nicht mehr an uns selber glauben", wird Rolf Hekker, der in den Fünfzigern "ein knochenharter halblinker Läufer der Dynamo-Oberligaelf" gewesen sein will, später prophezeien, "dann wählen wir heute Abend den Otto und beten zu. Gott, dass er uns nicht belogen hat."


Um das Selbstbewußtsein der Dynamos ist es schlecht bestellt. Trotz achtbarem Platz 10 in der laufenden Saison steht es böse um den letzten ostdeutschen Fußballverein in der ersten Bundesliga, der von sich selbst sagt, er spiele nicht nur für Sachsen, sondern für die Fußballfans in allen fünf neuen Ländern.


Schalke auf sächsisch



Dynamo Dresden war in der alten DDR ein "Polizeisportverein", was Vereinsmitglieder vorsorglich immer erwähnen, um den Verdacht auszuräumen, Dynamo Dresden sei - wie die verabscheute Konkurrenz vom Berliner FC Dynamo - eine "Stasimannschaft" gewesen. "Dynamo - das ist unsere Show" hieß es damals in der Dresdner Vereinshymne - doch nie war der Spruch wahrer als heute. Gruppen und Grüppchen streiten beharrlich um die Macht, Rücktritte, Abtritte und verbale Tritte gegen gegnerische Schienbeine haben Dynamo den Ruf eines Skandalvereins eingebracht. 


Dynamo Dresden, das ist Schalke auf sächsisch. Hier gibt es Männer, die sich "Freunde" nennen, einander aber spinnefeind sind. "Retter" konkurrieren mit "Helfern"; "Geldgeber" und "Vertragspartner" entpuppen sich in schöner Regelmäßigkeit als Beutelschneider, Journalisten gruben im Vorleben von Präsidenten, Präsidenten wiederum setzten, so erzählen Eingeweihte, Detektive auf Journalisten an. Der einst gefürchtete "Dynamo-Kreisel" dreht sich denn auch nicht mehr auf unten auf dem Platz, wo die Mannschaft um Kapitän Müller gegen den Abstieg kickt, sondern in der Geschäftsstelle, die in einem angegrauten Betonflachbau neben dem Rudolf-Harbig-Stadion residiert.


Bei Dynamo, sagen die Dynamo-Fans, gibt es so viele Meinungen wie Mitglieder. Die sich daraus ergebenden Konflikte werden mit Verbissenheit ausgetragen: Staatsanwälte beschäftigen sich mit dem Geschäftsgebahren des Klubs, Stasivorwürfe wurden erhoben und widerlegt, Anzeigen erstattet und zurückgezogen. Paragraphen, Verträge und diverse "Formfehler" in ihnen sind längst so wichtig wie Spiele, Tore und Punkte. Gleich eine Handvoll Anwälte verdient nicht schlecht an dem Verein, dessen letzter Präsident nicht zu sagen wusste, "wie ich den Bus zum nächsten Auswärtsspiel bezahlen soll."



Dynamos Schicksal sind die Umstände. Und Dynamos Schicksal sind die Menschen, die sich vom ersten Spieltag in der 1. Liga mühten, mit den Umständen klarzukommen. Warum das nicht gelang? Reinhard Hafner, einst begnadeter Mittelfeldspieler, erklärt es mit allgegenwärtigen "Fallstricken, über die jeder Neuling in diesem Geschäft gestolpert wäre."

Dieter Burmester dagegen, von Haus aus Autohändler, ist Anhänger der "Anschluss-Theorie." "Dynamo hat dieselben Probleme gehabt wie all die Ost-Betriebe, die sich auf einmal mit der westlichen Konkurrenz auseinandersetzen mussten", referiert er. Es habe "keine Schonzeit" für die Sachsen gegeben, "wir sind ins Wasser geworfen worden und mussten sofort losrudern." Burmester, gebürtiger Bremer und letzter Dynamo-Interimspräsident, muss es wissen. Hat er doch seine Zelte gleich nach der Einheit an die Elbe verlegt und sich den eben aus der Oberliga in die 1. Bundesliga beförderten Dynamos als Sponsor angedient. 

"Damals", erzählt der "Wahlsachse" mit dem nasal gesnackten "R" der Norddeutschen, "hatten wir hier 84 hauptamtliche Klubmitarbeiter, 84!" Ahnung von Buchhaltung, Vertragsgestaltung und Management hatte keiner - folglich schlug die Stunde der "Berater." Im Ergebnis wurde*da mal eine Vertragsklausel "vergessen" wie beim Matthias-Sammer-Verkauf an Stuttgart. Dort mal Geld zum Fenster herausgeworfen, wie beim Stadionumbau, für den Dynamo Millionen blechte, obwohl das Stadion der Stadt gehört. 

Schlechte Spieler

Schlechte Spieler wie der Leverkusener Page wurden für gutes Geld teuer gekauft, worüber sich die Insider bei den Westklubs vor Lachen immer noch die Bäuche halten. Das Sagen im Verein hatte die Gruppe um den schütterhaarigen Wolf-Rüdiger Ziegenbalg, einen in Radeberg beheimateten Rundfunkhändler, der "immer den besten Willen" hatte, aber schon mal mit der Einsicht kokettiert, dass "ich wohl ein bisschen zur Selbstdarstellung neige." Unter Selbstdarsteller Ziegenbalg, einem eifrigen Amateur im Profi-Geschäft, war der große Wurf gelungen: Spielen in der Bundesliga. Aber Bundesliga, die Ernüchterung folgte auf dem Fuße, ist kein Spiel.


Schon kurz nach Saisonbeginn '91 steht "Boards & Sports", die Hamburger Werbeagentur, die alle Vermarktungsrechte an Dynamo hält, vor dem Konkurs. Fieberhaft macht sich das Präsidium auf die Suche nach neuen Geldgebern. Fündig allerdings wird ein anderer. Dynamo-Geschäftsführer Manfred Kluge, ein fülliger, gamsbärtiger Mensch mit Geschäftssinn und dem Blick für Gelegenheiten, nimmt Kontakt zum Saarbrücker Werbemann Georg Rebmann auf und überredet diesen, mit seiner Firma "Sorad" neuer Partner von Dynamo zu werden. Wolf-Rüdiger Ziegenbalg, seitdem nach eigener Ansicht "um etliche Illusionen ärmer geworden", unterschreibt die Verträge 14 Tage später, "weil die Frage stand: Sorad oder Pleite." Sorad hilft Dynamo mit einem 2,5 Millionen-Darlehen aus dem Gröbsten, der Klub scheint gerettet. Der Preis dafür ist die knebelvertraglich besiegelte Umarmung Rebmanns, der nur "das Beste für beide Seiten" will. Und fortan 40 Prozent aller Dynamo-Einnahmen einstreicht.


"Belege in Kartons gestapelt"



Das Loch in der Kasse des letzten ostdeutschen Erstligisten wird nun täglich um rund 30 000 Mark größer, "ganz einfach weil", erklärt Ziegenbalg, "mehr Geld 'rausging, als 'reinkam." "Aber die Zustände in der Buchführung", schimpft Dieter Burmester, "waren so katastrophal, daß das gar keiner gemerkt hat." Solange Geld da war, wurde auch welches ausgegeben. 


Burmester schildert die Zustände in der Geschäftsstelle: "Keine Nachweisführung, dafür Belege in Kartons gestapelt; marode Finanzen, über die aber keine konkrete Übersicht." Der Sessel von Wolf-Rüdiger Ziegenbalg wackelt nun bereits beträchtlich. Aber noch einmal setzt sich der "Ursachse" durch: "Wir Sachsen brauchen keine Wessi-Hilfe", kreiert er einen neuen Dynamo-Leitspruch, der den selbstverliebten sächsischen Fans, die sich ohnehin beständig von West-Schiedsrichtern und West-Funktionären benachteiligt fühlen, runtergeht wie Öl. 

Statt des importierten Helmut Schulte, dem das "Dresdner Umfeld nicht gefällt", entert Ex-Trainer und Ex-Manager Klaus Sammer die Bank. Reinhard Hafner, der die Dynamos in die Bundesliga trainiert hatte, dann aber für den Hamburger Schulte Platz machen musste, "weil wir jetzt einen erfahrenen Mann auf der Bank brauchen" (Ziegenbalg), besteigt den Managerstuhl. Die "sächsische Lösung", der Not gehorchend von Ziegenbalg in "schlaflosen Nächten" ausgebrütet, findet den Beifall der Fans. Und die Fußballwelt in Dresden ist wieder in Ordnung, auch wenn keines der wirklichen Probleme gelöst ist.


Otto heizt den Ofen



Rolf-Jürgen Otto, von humorig veranlagten Sachsen in Umkehrung seiner Initialien auch zynisch "J. R." genannt wie das Ekel aus der Fernsehserie "Dallas", hat Dynamo Dresden seitdem immer mal wieder gerettet. "Hätte der nicht dann und wann mal was in die Tüte gepackt", bestätigt Burmester, "wäre der Ofen lange aus." Rolf-Jürgen Otto ist in Dresden dennoch so unbeliebt wie kein zweiter. Ein kleiner, feister Mann mit Doppelkinn und beginnender Wirbelglatze ist der Frankfurter Bauunternehmer, der das "Hauptaugenmerk meiner Geschäftstätigkeit" vor zwei Jahren nach Sachsen verlegt hat und dort "Millionen investiert."


Otto, der in Dresden den Architekten Walter Hoff kennenlernt, hat ein "großes Fußballherz." Früher sponsorte er Tischtennisvereine und hielt Rennpferde, versuchte sich auch mal beim hessischen Oberligisten Neu-Isenburg, als aber der Aufstieg nicht gelang, gab Rolf Otto, damals noch ohne "Jürgen", sein Mäzenatentum auf. Erst in Dresden kam die Liebe zur schönsten Nebensache der Welt wieder über den 52-Jährigen. Mit ihm, dem millionenschweren Unternehmer, tritt Mitte vergangenen Jahres ein neuer, schwergewichtiger Mitspieler auf die umkämpfte Dynamo-Bühne.


Umkämpfte Bühne


Ziegenbalg ist als Schuldiger am Schlamassel um die Klubfinanzen ausgemacht. Der Radeberger soll gehen. An seine Stelle soll Walter Hoff, Ottos Busenund Geschäftsfreund, treten. Aber obgleich Hoff, ein langhaariger Playboytyp, als Morgengabe für den Fall seiner Wahl einen auf anderthalb Millionen dotierten Otto-Scheck vorweisen kann, fällt der Ludwigsburger Präsidentenimport bei den Sachsen durch. Der geschickte Taktierer Ziegenbalg, ganz auf seinen Ost-Bonus setzend, bleibt Chef im Verein, in dem die wahre Macht allerdings längst Sorad-Chef Rebmann in Händen hält.


Burmester und der aus Süddeutschland stammende Georg Schauz rücken nunmehr fest ins Präsidium. Unter diesem Trio wird der Verein, der nach dem Versuch, die Sorad-Verträge einseitig zu kündigen, "nahezu handlungsunfähig" ist, mehrmals vom ehemals für Sorad tätigen Wirtschaftsprüfer Walter Knief durchleuchtet. Dessen Fazit: "Der Stand des Vereines ist in höchstem Maße gefährdet, der Konkurs droht." Im Streit zwischen Ziegenbalg, dem "Totengräber des Vereins" (Freundeskreis), und Sorad-Chef Rebmann schlägt sich Otto im Dezember dennoch überraschend auf die Seite des Dynamo-Präsidenten. 

Das allerdings nur, um die Brocken acht Tage später mit dem Hinweis, Dynamo sei "ein Faß ohne Boden", wieder hinzuschmeißen. Erst solle Ziegenbalg gehen, dann wolle er, Otto, auch wieder Geld lockermachen. Ziegenbalg weigert sich. Nun überschlagen sich die Ereignisse. Rebmann droht mit Schadenersatzforderungen in Höhe von 15 Millionen und Pfändung der Vereinskasse. Otto winkt mit Millionen, rückt aber keinen Pfennig heraus. Erst ein neues Gutachten von Knief gibt den Ausschlag - Silvester tritt der gestresste Ziegenbalg, der sich "nach wie vor unschuldig" fühlt und verschlungenen Verschwörungstheorien nachhängt, ab. Burmester übernimmt kommissarisch, aber, wie er sagt "ohne weitere Ambitionen." Eine Provinzposse.


Da Geschichte sich, wenn überhaupt, dann als Farce wiederholt, findet der vorerst letzte Akt im Dresdner Drunter und Drüber passenderweise im großen Saal des Hygienemuseum statt. Nach dem Rücktritt von Wolf-Rüdiger Ziegenbalg hat sich eine neue Koalition gebildet: Die Otto-Gruppe geht jetzt mit dem Rumpfpräsidium Burmester zusammen.


Der "Freundeskreis", die ehemalige "offizielle" Opposition im Verein, hat sich nach Herzattacken und Kreislaufschwächen ihrer Führungspersönlichkeiten aufgelöst. Neugegründet dagegen hat sich das "Rettungsgremium", dessen Mitglieder - darunter Opernsänger Gunter Emmerlich, Sachsens Innenminister Eggert und andere Prominente - eine "sächsische Lösung" für Dynamo suchen, aber lange nichts als kämpferische Parolen vorzubringen imstande sind.


Die Gegenseite


Dagegen ist die Aufgabenverteilung auf der Gegenseite klar: Autohändler Burmester und sein Copilot Georg Schauz, ein Elan versprühender Endzwanziger, der mit Vorliebe bayrische Trachtenjakketts trägt, bereiten die Wahlversammlung vor, auf der Rolf-Jürgen Otto zum neuen Dynamo-Präsidenten gekürt werden soll. Otto revanciert sich dafür mit zwei Plätzen in seiner "Regierungsmannschaft." Weitere Rollen sind mit Dynamo; Anwalt Christoph Schickhardt, wie Hoff aus Ludwigsburg stammend und dem Otto/Hoff-Imperium verbunden, und Peter Knief, dem Hamburger Wirtschaftsprüfer, besetzt. Schickhardt ist von der Regie als Veranstaltungsleiter vorgesehen, Knief hält den Bericht des unabhängigen Wirtschaftsprüfers, in dem gesagt wird, daß es schlechter als schlecht steht und „der Verein Montag morgen zum Konkursrichter gehen muß, wenn die Mitglieder nicht jemanden wählen, der für die dringendsten Verbindlichkeiten in Höhe von rund fünf Millionen Mark geradesteht."

Für's Geradestehen kommt nurmehr einer in Frage: Otto, von seinem Clan umlagert, hockt pausbäckig in der ersten Reihe und beobachtet zufrieden, wie Burmester, Schickhardt und Knief für ihn Wahlkampf machen. Für Burmester ist er der „einzige akzeptable Kandidat, der das mitbringt, was wir brauchen: Geld und Abmachungen mit Herrn Rebmann, um die Knebelverträge zu lösen oder nachzubessern." Burmester warnt die knapp 600 Dynamo-Mitglieder im Saal: „Jeder, der sich hier heute abend versündigt, macht sich zum Totengräber des Klubs."


Totengräber des Klubs


Knief bekräftigt die Worte des Interimspräsidenten: „Heute ist nicht der Tag, über die Vergangenheit zu diskutieren, heute ist der Tag, über die Zukunft zu entscheiden." Und Zukunft, soviel hat unterdessen auch der letzte im Saal begriffen, heißt bei Dynamo Otto.

Die alten Männer auf der Seitentribüne aber zürnen. „Sturmreif schießen nenne ich sowas", nörgelt der schmerbäuchige Ex-Halblinke Rolf Hecker verachtungsvoll. Man könne seinetwegen auch „Erpressung" dazu sagen. Falk Reinhardt, Dynamo-Nachwuchsschiedsrichter und „Mitglied seit Anfang der Siebziger", ärgert sich, „daß nur Hanseaten, Hessen und Bayern da unten 'rumsitzen, als Sachse verstehst Du ja kein Wort von derem Gequatsche!"


Die Sachsen sind eigen


Ausgerechnet da sind die Sachsen eigen: Einerseits tragen sie ihrem Premier Biedenkopf ausdauernd nach, daß er „sich noch nie auf dem Platz hat blicken lassen" (Reinhard), andererseits ist ihnen Otto, der auch nach zwei Jahren Ostengagement noch im Hotel lebende Hesse mit dem zum „Seh" umgeschliffenen „S" und der Liebe zu Dynamo, auch bloß suspekt. Daß der letzte Ostverein künftig von „zwielichtigen Zugereisten" (Fankneipier Wolfgang Bellmann) geführt werden könnte, berührt die sensibelsten Empfindlichkeiten der Alteingesessenen. Darauf angesprochen, fallen sie ins Philosophieren. Dynamo, das sei ein Stück sächsische Lebensart. 


Ein Glaube. Eine Lebenseinstellung. "Eine Religion. Hekker und seine Freunde sitzen seit 30 Jahren jedes Wochenende auf der Tribüne - Einmischung „von Leud'n, die uns goar ni' verstehn gönn, gönn mir hier goar ni' gebrauch'n", schimpfen sie. Otto hat zwar die Millionen und dazu die Stirn, sich in einer von Wutanfällen unterbrochenen Rede als „verliebt in den hiesigen Menschenschlag" und als „einer von euch Sachsen" zu bezeichnen."

Aber die wachsamen Dynamo-Fans hören doch nur heraus, „dass da eener unseren Verein koofen will, dem jedes Mittel recht ist." Das wird klar, als sich Ex-Präsident Ziegenbalg zu Wort meldet. Er, so der Ex-Präsident, wolle zu den Ursachen der jetzigen Situation sprechen, „um die künftige Vereinsführung zu warnen". Unruhe im Präsidium. Schickhardt, dem jede Abweichung von der Tagungsregie körperliche Schmerzen zu bereiten scheint, lehnt ab.

Ziegenbalgs Antrag wird nicht abgestimmt. Ziegenbalg, beantragt Otto-Intimus Hoff, solle nach erfolgter Wahl unter Punkt 10/Sonstiges, zu Wort kommen. Darüber läßt Schickhardt eilig abstimmen. Hoffs Antrag wird abgelehnt. Im Saal wird vielstimmig gebrüllt: ,;Antrag! Antrag! Ziegenbalg soll reden!" Die Szenerie erinnert an die letzten Tage im Parlament der verendenden DDR. Schickhardt schafft es irgendwie, diesmal nicht abstimmen zu lassen. „Fünf Minuten gebe ich Ihnen, Herr Ziegenbalg", sagt er stattdessen. Der Expräsidenten jedoch sieht sich außerstande „drei Jahre Präsidentenzeit in fünf Minuten abzuhandeln."

Das wiederum tut Schickhardt leid. Aufatmen im Präsidium. Ziegenbalg geht. Tumult im Saal. Eine Traube von Mitgliedern folgt dem Ex-Präsidenten. Nur links vorn wird die Rückkehr zur Tagesordnung beklatscht. „Da sitzt die KKH", klärt Theo Stahlschmid, ein nach der Wende aus Stuttgart zurückgekehrter gebürtiger Sachse, die zahlreichen Journalisten beim Bier in der nun restlos überfüllten Pausenbar bereitwillig auf, „weil ich es unmöglich finde, wie hier 500 Ostler von fünf Westlern über den Tisch gezogen werden."

350 neue Mitglieder hat das Präsidium Dynamo Dresdens seit dem Rücktritt von Ziegenbalg aufgenommen - darunter auch „fast die komplette KKH-Belegschaft", wie Ziegenbalg weiß.

Schwelende Liebe entdeckt


Nicht um Fußball geht es hier, sondern um Macht und um Pfründe. Georg Schauz, Ottos Kandidat für den Posten des Schatzmeisters, kommt von der KKH. Das ist nicht alles: Auch ein Gutteil von Ottos 600 sächsischen Bauarbeitern soll in den letzten Wochen vor der Entscheidungsschlacht ihre schwelende Liebe zu Dynamo entdeckt und einen Antrag auf Mitgliedschaft gestellt haben. Und: Peter Vogt, von Schickhardt in die Wahlkommission berufen, ist Verkäufer im Autohaus Burmester. Und: Hans-Jürgen Behr, der „Alibi-Sachse" (Freundeskreis-Anwalt von Kummer) in Ottos Regierungsmannschaft, ist Bürgermeister ausgerechnet in Weißig, dem Ort, in dem Bau-,
löwe Otto die Hälfte des Grund und Bodens gekauft hat, um Millionen zu investieren.

Nein, Rolf-Jürgen Otto hat nichts dem Zufall überlassen. „Was hier läuft, ist eine Farce", winkt Hansi Kreische, einer aus der Dynamo-Traummannschaft der siebziger Jahre, der heute die Dynamo-Amateure trainiert, beim Pausenbier im Foyer mutlos ab. Kreische, wie Ex-Stürmerkollege Ralf Minge stiller Unterstützer der vom Rettungskomitee mit Hilfe der Stadt bis zur letzten Sekunde betriebenen „sächsischen Lösung", sieht enttäuscht aus, weil er sich „unter Demokratie doch etwas anderes vorgestellt"' hatte als daß „die Leute mit Geld und Winkeladvokatenmethoden gezwungen werden, irgendwas zu tun, was ihnen eigentlich gegen den Strich geht." 


Aber „eins wirst Du noch sehen, Hansi", fällt ihm die 72jährige Dynamo-Trainerlegende Walter Fritzsch da vom Nachbartisch tröstend ins Wort, „solche wie der Otto kommen und gehen, Dynamo Dresden aber bleibt."

Sonntag, 21. Januar 2018

Digitale Agenda Sachsen-Anhalt: Im Land Über­mor­gen

Mit der "Digitalen Agenda" wollte Sachsen-Anhalt einen großen Sprung in die Zukunft wagen. Zwei Jahre später liegt ein Papier vor, das Plattitüden bündelt und den Ereignishorizont um ein weiteres Jahr nach hinten verschiebt. Bis 2030 soll nun eine "Gigabit-Gesellschaft" entstehen - wenn die wolkigen Versprechen irgendeinen Praxiseffekt zeitigen. 



Es begab sich im Jahre 2015, 25 Jahre nach der Geburt des World Wide Web, zehn Jahre nach der flächendeckenden Einführung von DSL und fünf Jahre nach Inbetriebnahme des ersten LTE-Funkmastes, dass die Landesregierung beschloss, ernst zu machen mit der Zukunft. Ein Vorhaben, das mit großer Geste gestartet wurde: Ein "digitaler Thesenanschlag" gab 108 Stichpunkte vor, die Sachsen-Anhalts Bürgerinnen und Bürger diskutieren sollten, um einen Fahrplan aufzustellen, nach dem das bisher weit hinten in der Hightech-Hitparade rangierende Land durchstarten sollte.

Kaum eine Resonanz


Schon die Resonanz auf den Thesenanschlag zeigte, dass daraus nicht viel werden würde. In zwei Jahren liefen 103 Wortmeldungen ein, nicht mal ein Kommentar pro These. Über Facebook, wo jedes Katzenbild massenhaft Reaktionen provoziert, meldete sich ein einziger Hinweisgeber. Und zu Themen wie digitale Infrastruktur betraf die Mehrzahl der Einträge Hinweise auf die schlechte Versorgung mit schnellem Internet im eigenen Ort.

Beim Thema "Verwaltung als Service" fanden die Initiatoren in ihrem Abschlussbericht selbst heraus, dass es "keine öffentlichen Kommentare der Landesministerien" zu irgendwelchen Vorschlägen oder Hinweisen gegeben habe. Das angekündigte Zwiegespräch mit dem Bürger, es fand nicht statt. Kein Wunder, denn die Hürden, sich einzubringen, waren hoch: Statt einer Kommentarfunktion gab es nur die Möglichkeit, eine E-Mail zu schreiben. Die landete in der Staatskanzlei und die stellte sie "nach Prüfung so schnell wie möglich online".


Hitparade der Plattitüden


Und so liest sich das Abschlussdokument der großen Plandiskussion um den digitalen Neustart des virtuell abgehängten Landes wie eine Hitparade an virtuellen Plattitüden. Ein Berg kreiste. Und gebar eine Multimedia-Maus: "Wir bauen unsere digitale Infrastruktur aus", heißt es da, "wir helfen Unternehmen, den digitalen Wandel voranzutreiben" und "wir lassen niemanden im digitalen Wandel zurück". Ganz am Ende findet sich ein Versprechen, bei dem das Land sich selbst konkret in die Pflicht nimmt: "Wir bauen die öffentliche Verwaltung zu einem digitalen Dienstleister um."

Zehn Jahre nach Einführung des elektronischen Personalausweises hört sich das nach einem Scherz an, es ist aber völlig ernst gemeint. Sachsen-Anhalt bietet derzeit genau vier Anwendungen für den e-Perso, neben der bundesweiten Möglichkeit der elektronischen Abgabe der Steuererklärung kann man sich bei der Hochschule Harz elektronisch anmelden und in zwei Landkreisen Autos elektronisch abmelden. Nun ist der E-Perso bundesweit ein Rohrkrepierer - doch vier Anwendungen sind selbst im Vergleich mit Mecklenburg wenig. Zumal Landesbehörden selbst keine einzige Anwendung anbieten.

Das soll nun besser werden, verspricht die Digitale Agenda. Allerdings bleibt sie bei Einzelheiten wolkig. In den "kommenden Jahren" solle "die öffentliche Verwaltung zu einem digitalen Dienstleister für die Bürgerinnen und Bürger sowie Unternehmen unseres Landes weiterentwickelt" werden, heißt es seltsam datumslos. Und auch inhaltlich fehlt den Bandwurmsätzen jede Festlegung: Als "Grundprinzip" bei der Umsetzung diene "dabei die enge Kooperation zwischen Bund, Ländern und Kommunen" und "ausgehend von der Strategie Sachsen-Anhalt digital 2020, dem 2017 beschlossenen Onlinezugangsgesetz, dem 2018 zu verabschiedenden E-Government-Gesetz sowie befördert durch die Entwicklungen auf Bundes- und europäischer Ebene" werde das Land "eine neue E-Government-Strategie verabschieden".

Estland macht vor, Sachsen-Anhalt nicht nach


Wo Länder wie Estland - mit 1,3 Millionen Einwohnern halb so groß wie Sachsen-Anhalt - seit Jahren von der Geburt über die Wahl bis zur Sterbeurkunde hunderte elektronische Dienstleistungen anbieten, schickt sich Sachsen-Anhalt an, eine neue Strategie für das sogenannte E-Government zu verabschieden. Basis dafür ist der Plan, bis 2030 "Kurs auf die Gigabit-Gesellschaft" zu nehmen. Daten sollen dann landesweit in einer Geschwindigkeit von einem Gigabit pro Sekunde ausgetauscht werden - 20-mal schneller als die 50 Mbit, die bis 2010 erreicht werden sollten und heute vielerorts noch Zukunftsmusik sind.

Ein neuer Plan, denn neun Jahre nach der ersten Landesinitiative zum Anschluss ländlicher Regionen ans schnelle Internet und sechs nach der von der Landesregierung verabschiedeten Strategie "Sachsen-Anhalt digital 2020" liegt das Land bei der Internet-Nutzung noch immer auf dem vorletzten Platz aller Bundesländer und bei der Breitbandverfügbarkeit in weiten Flächen unter 50 Prozent.

Zum Thesenanschlag:
www.digital.sachsen-anhalt.de

Freitag, 12. Januar 2018

Saudi-Arabien: Ein Bayer im Reich der Ölprinzen

Toni Riethmaier lebte zehn Jahre lang im unzugänglichsten Land der Welt - er lernte eine Gesellschaft kennen, in der die Lüge zum Alltag gehört und Gesetze nur soweit respektiert werden, dass niemand ihre Verletzung bemerkt.



Das Himalaya-Königreich Mustang gilt als schwer erreichbar, Nordkorea sogar als unzugänglich. Doch den Titel als das Land der Welt, in das Touristen überhaupt nicht vordringen können, trägt ein anderer Staat. Saudi-Arabien, das 1932 gegründete Öl-Königreich, das sich im Grunde im Privatbesitz der Familie Saud befindet, kennt keinen Tourismus, keine Touristenvisa und keine Durchreisegenehmigung für westliche Ausländer. Es ist abgekapselter als die frühere Sowjetunion, abgeschiedener als Bhutan und schwerer zu erreichen als die Sperrzone um den havarierten ukrainischen Atomreaktor von Tschernobyl.

Toni Riethmaier hat es dennoch geschafft. Der gebürtige Nürnberger wurde eines Tages gefragt, ob er nicht Lust habe, in der saudi-arabischen Hafenstadt Dschidda ein italienisches Restaurant aufzubauen. Riethmaier, ein abenteuerlustiger Gastronom, dachte nach. Und sagte schließlich zu, diese einzige Möglichkeit zu nutzen, das verschlossene Königreich kennenzulernen: Als ausländischer Arbeitnehmer, ein sogenannter Expat, der von einem saudischen Sponsor ins Land geholt, betreut und ein bisschen auch überwacht wird.

Es wird ein Trip in eine andere Welt, eine Reise, die am Ende zehn Jahre dauert und den heute 34-Jährigen zum intimen Kenner einer Gesellschaft macht, die von außen betrachtet fremd und rätselhaft, intolerant und stockkonservativ wirkt. Riethmaier, der zuvor schon in Singapur, Dubai, auf den Malediven und in China gelebt und gearbeitet hatte, erfährt das Land der Scheichs allerdings ganz anders: Saudi-Arabien, lernt er, spielt nach anderen, oft schwer verständlichen Regeln. Doch hinter der streng muslimischen Fassade und unter den Verschleierungen, die dank der wahhabistischen Staatsreligion ganz besonders kleine Sichtfenster haben, finden wilde Partys statt, wird auch Alkohol getrunken und selbst des strenge Sex-Verbot für Unverheiratete wird von jüngeren Saudis allenfalls symbolisch ernstgenommen.

Die wildesten Feten seines Lebens habe er in Saudi-Arabien erlebt, schreibt Riethmaier in seinem Buch "Inside <>", das einen pragmatischen Blick in eine fremde Kultur wirft, die zwischen Tradition und Zukunftssehnsucht schwankt. Die Macht der Sauds, ausgeübt von einem Königshaus, das seine Basis in rund 7 000 Prinzen hat, ruht auf der strengen Koranauslegung, die westliche Einflüsse strikt draußen hält. Doch im Land, das aus westlicher Sicht ununterbrochen Menschenrechte verletzt, hinrichtet, steinigt und auspeitscht, gärt es. Junge Leute wollen mehr Freiheit, Frauen wollen Autofahren, die Bevölkerung möchte ein Wort mitreden über die grundlegende Politik des Landes.

Ein wenig werden die Zügel gelockert, zumal manche Regel nach Riethmaiers Beobachtungen ohnehin nur formal eingehalten wird. Frauen dürfen nicht etwa nicht Autofahren, weil sie das nicht können, sondern weil sie eine Panne haben könnten. Dann ständen sie allein auf der Straße und ein fremder Mann könnte sich ihnen nähern - eine Katastrophe. Allerdings wohl vermeidbar, denn von fremden Autofahrern mitgenommen zuwerden - selbst von Taxen - ist im Grunde auch verboten, das Verbot aber wird umgangen, indem Fahrer und Mitfahrerin stillschweigend davon ausgehen, dass man sich kennt, weil man ja schließlich in einem Auto fährt.


Samstag, 16. Dezember 2017

Internet am Ende: Klappe zu, Zukunft tot



Aus dem offenen Internet der Vergangenheit ist durch die Megakonzerne ein System aus geschlossenen Netzwerken geworden. Die Freiheit ist online auf dem Rückzug

Als Mark Zuckerberg vor 15 Jahren den Programmcode für Facemash schrieb, wäre vielleicht noch etwas zu retten gewesen. Doch als Zuckerberg dann in einer Februarnacht des Jahres 2004 Facebook anschaltete, war es zu spät. Der 19-jährige Programmierer, kein besonders ehrlicher Mensch, kein besonders beliebter und auch keiner, der seinen Kommilitonen bis dahin besonders positiv aufgefallen wäre, hatte die Welt ein für allemal verändert. Und das, was wir bis heute "Internet" nennen, wirksam zerstört.

Denn seit Facebook seinen Erfolgszug angetreten hat, ist nichts mehr wie vorher. Sollte das www, wie das Internet eigentlich richtiger genannt werden müsste, ursprünglich ein Ort sein, an dem alle Informationen für jedermann frei zugänglich sind, miteinander verbunden durch Trillionen von Querverweisen, so setzte mit der Geburt von Zuckerbergs Baby ein anderer Trend ein. Statt einer offenen, weiten Landschaft, durch die jeder gehen konnte, gern auch anonym und unerkannt, wurden nun Burgen gebaut, Schlösser und Städte, in denen nur angemeldete Besucher geduldet werden. Manchmal ist, wie beim Kurznachrichtenportal Twitter, reinschauen noch erlaubt. Andere Netzwerke aber schotten sich komplett ab.

In ist, wer drin ist. Wer draußen steht und neugierig guckt, der möge sich anmelden, seine Kreditkartendaten hinterlegen und dann erst darf er mitmachen.

Ein Konzept, das nicht auf freien Fluss von Informationen zielt, sondern auf die Vermarktung von Daten und die Monetarisierung von Inhalten. Wer seine Kunden so gut kennt wie Facebook, Google, LinkedIn oder Twitter, der kann Werbepartnern maßgeschneidertes Publikum für ihre Kampagnen bieten. Die geben ihre Budgets dann mit dem ruhigen Gewissen aus, genau die Zielgruppe zu treffen, der sie ihre Produkte verkaufen wollen.

Das offene Netz mit seiner wabenartigen Struktur kann da nicht mehr mithalten. Auch hier schon strömte immer alles auf den größten Haufen, damals bei Yahoo, bei Myspace oder ICQ. Doch so mächtig wie die drei großen westlichen Webkonzerne Google, Facebook und Amazon und ihre asiatische Konkurrenz von Alibaba, Samsung, Tencent und Baidu waren in der Geschichte der Menschheit noch nie einzelne private Unternehmen.

War früher der Internet-Browser das Tor zu allen Diensten im Netz, so braucht es seit der Erfindung der App selbst den nicht mehr. Statt offener Türen in alle Richtungen hat das neue soziale Netz nur noch eine Öffnung - die zum Angebot des Herstellers der App, die nichts anderes ist als die Lesezeichen, die Menschen früher in eine Browserleiste legten. Nur dass sie jetzt den Desktop belegen und Nutzer dazu erziehen, das anzuklicken, was da ist, und nicht nach Dingen zu suchen, die es nicht sind.

Das Internet wird nach Ansicht des US-Forschers André Staltz so zum "Trinet": Suchen bei <>, Kaufen bei Amazon, Unterhalten bei Facebook. Google und Facebook zusammen erzeugen heute 70 Prozent des Datenverkehrs in Nordamerika, dazu kommt das Netzkino Netflix und Amazons Kinodienst prima. Das Internet mit seinen unzähligen Quellen ist, verglichen mit der Menge an Daten, die heute aus den Clouds der großen Tech-Konzerne abgerufen werden, nur ein winziger Zwerg, der kaum noch relevant ist.

Schuld sind die Nutzer, die Freiheit für Bequemlichkeit opfern. Am besten zu sehen ist das bei Facebook, das für viele kein Netzwerk aus zufälligen Einträgen und einer geheimnisvollen ordnenden Hand ist, sondern ein Informationsmedium. Etwa ein Drittel der Klicks auf Links hier bleibt innerhalb der Facebook-Welt hängen - Facebook-Nutzer verweisen auf Facebook-Posts, auf komplette eingestellte "Instant Articles" oder Bilder. 


Weil aber ohne die großen Netzwerke, vor allem ohne die Klickmaschine Facebook noch weniger Aktivität draußen ankäme, müssen Angebote aus dem noch freien Teil des Internets ihre Inhalte zwangsläufig in den Facebook-Katalog einstellen, weil hier die Zuschauer und Leser sind, die man auf seine eigenen Angebote hinweisen möchte. Reicht denen dann die zweizeilige Ankündigung einer Nachricht als Nachricht, profitiert nur Facebook vom eingestellten Teaser.

Das, was früher einmal das Internet war, eine Party, auf der jeder mittanzen durfte, der eine Idee hatte, für die sich viele Menschen begeistern ließen, wird so zu einer geschlossenen Veranstaltung, die sich im Trinet der Giganten abspielt. Dorthin fließt deshalb auch der Löwenanteil der Werbegelder, dort werden Gewinne eingefahren, deren Höhe es jedem Wettbewerber unmöglich macht, auf Augenhöhe aufzuschließen. Klappe zu. Und Zukunft tot.


Fefe beschreibt, wie weit der Einfluss von Google wirklich reicht

Samstag, 9. Dezember 2017

HDR-Fotos und Filter-Apps: Wenn alle Bilder schöner werden


Smartphones haben das Fotografieren zum Hobby von Millionen gemacht. Die meisten von ihnen wissen nur noch nicht, wie sich die eigenen Aufnahmen mit ein paar Handgriffen zu Kunstwerken machen lassen.

Wenn das Motiv stimmt, wird abgedrückt. Bei Partys, Spaziergängen, Konzerten klicken die Auslöser. Die erste Frühlingsblume, der letzte Schnee, der schöne Sonnenuntergang - immer und überall sind sie heute dabei, die Kameras, die in Wirklichkeit aufgebohrte Telefone sind. Nahm Vati einst noch ganze drei Filme mit in den zweiwöchigen Urlaub, knipst ein begeisterter Hobby-Fotograf dieselbe Menge von 108 Fotos heute an einem Nachmittag. Zu Tausenden und Hunderttausenden landen sie dann bei sozialen Netzwerken wie Flickr, Instagram oder Facebook.

Nur wundert sich dort mancher dann doch, dass seine Werke nicht die gebührende Aufmerksamkeit finden. Und eigentlich auch mit dem Auge des Künstlers selbst betrachtet nicht so toll aussehen wie manches Foto der Konkurrenz. Das hat mehr Farbe. Mehr Brillanz. Mehr Tiefe, Räumlichkeit, eine fast schon gemäldeartige Struktur. Wie machen die das nur?, fragt der Neueinsteiger sich unweigerlich. Und: Wie bekomme ich das auch hin?

Kein Problem, denn was vor einigen Jahren noch eine kostspielige Software und einen aufwendigen Bearbeitungsvorgang erforderte, erledigen heute sogar schon kostenlose Smartphone-Apps. Kleine Programme wie Pixlr, Polarr, Pho.to, Lightroom oder Camera MX verschaffen Fotografen fast unbegrenzte Möglichkeiten, ihre Bilder aufzubessern, zu verfremden, Stärken zu betonen, Schwächen wegzuretuschieren und eine besondere Atmosphäre durch die Verwendung von Filtern zu schaffen.

Die hat der Dienst Instagram einst als Erfolgsmodell entdeckt, die hat inzwischen jede halbwegs brauchbare Foto-App zu Dutzenden an Bord. Selbst einfache Kamera-Apps wie Kamera, Open-Kamera oder das universelle Bildprogramm Google Fotos erlauben es mit ein, zwei Klicks, einem Bild das gewisse Etwas mitzugeben, das vorher nicht da war. Spezialisierte Programme dienen hingegen zum Herauskitzeln besonderer Effekte: Color Splash erlaubt die Farbverschiebung innerhalb eines Bildes, das danach vielleicht nur noch schwarz-weiß ist, aber alle Rottöne beibehalten hat. Andere Apps sorgen für Comic- oder Zeichenstift-Effekte, machen Zeitlupenaufnahmen oder schaffen Platz für Sprechblasen.

An Fotokünstler und die, die sich als solche verstehen, richten sich speziellere Apps, die einen weit größeren Funktionsumfang haben als die Standardfilter von Google Fotos und Instagram. Programme wie Adobe Lightroom, Snapseed, Pixlr Express, Polarr und Camera MX verfügen über einen nahezu unüberschaubaren Bestand an Filtern, Reglern, Auto-Korrektur-Einstellungen und Effekten, die sich beliebig miteinander kombinieren lassen.

Weil alle Programme kostenlos sind und auf allen Smartphones mit halbwegs aktueller Android-Software laufen, ist die Entscheidung, welches man benutzt, nur eine Frage eines ausgiebigen Tests. Adobe Lightroom etwa ist das professionellste Programm, es hat den größten Funktionsumfang und keine übermäßig komplizierte Bedienung. Gerade das absolut Ernsthafte an der App aber wird manchen Gelegenheitsfotografen abschrecken, denn ohne etwas Beschäftigung mit der App werden die eigenen Bilder eher zufällig besser. Pixlr Express dagegen ist einfach, schnell durchschaut und kompakt, es fehlt der App aber ebenso wie denen von Polarr, Magix und Aurora am Überraschungseffekt.

Mit dem geizt dafür die App Snapseed nicht, die vom kalifornischen Unternehmen Nik Software entwickelt wurde - weshalb Google wenig später zuschlug und die Firma aufkaufte. Snapseed wird über neun Werkzeuge und elf Filtergruppen gesteuert, unter jedem einzelnen Punkt warten dann klug sortierte weitere Einstellungsmöglichkeiten, die kombiniert oder nacheinander angewendet werden können. Schon nach kurzer Einarbeitungszeit erzielen auch Anfänger erstaunliche Resultate. Googlenutzer haben zudem den Vorteil, dass Snapseed zumindest teilintegriert in Googles Bildprogramm Fotos ist. Dadurch wird jeder einzelne Arbeitsschritt an einem Bild als neues Foto gespeichert. Wem die Arbeit am Handydisplay zu mühsam ist, der kann auch auf eine Desktop-Variante des Programms zurückgreifen.


Sonntag, 26. November 2017

Ostrock und die Stasi: Der Feind mit der Klampfe


Der Staatssicherheit waren sie schon von Berufs wegen verdächtig - kaum irgendwo sonst wurde angestrengter überwacht und spioniert als im Milieu der Rock- und Popmusik des Arbeiter- und Bauernstaates. Ostrocker wurden so zu Opfern, aber auch zu Tätern.


Zumindest Kurt Hager war die Situation nicht geheuer. "Wie ich Dir schon sagte", schrieb der Kulturverantwortliche des SED-Politbüros Anfang April 1984 an Stasichef Erich Mielke, "haben sich durch die Ablehnung der Reisefähigkeit einiger auch international einsetzbarer Gruppen Probleme auf dem Gebiet der Rockmusik ergeben". Hager forderte Konsequenzen. "Wir müssen in dieser Frage großzügiger sein", mahnte er Mielke. Die "unterschiedliche Behandlung der Rockgruppen" führe zu einer Situation, "in der wir mit diesen Gruppen schwierige Auseinandersetzungen bekommen".

Schlechte Stimmung nach BAP


Die Stimmung in der DDR-Rockszene Mitte der 80er Jahre war so schon schlecht genug. Eine geplante DDR-Tour der BRD-Gruppe BAP, von der die DDR-Szene sich insgeheim eine weitere Öffnung erhofft hatte, war nach einem Streit um einen kritischen Liedtext abgesagt worden. Das erste Gastspiel des Hamburger Sängers Udo Lindenberg hatte nahezu ausschließlich vor handverlesenem Publikum stattgefunden, eine bereits angekündigte Tour ließen die DDR-Verantwortlichen anschließend still sterben. Der Bluesmusiker Hansi Biebl reiste in den Westen aus. Ausreiseanträge hatten auch Hans-Joachim Neumann, Chef von "Neumis Rock-Circus", die Sängerin Angelika Mann und der Gitarrist Udo Weidenmüller gestellt. Und die Wunden, die der Weggang einer ganzen Künstlergeneration mit Leuten wie Veronika Fischer, Manfred Krug oder Nina Hagen gerissen hatten, brannten immer noch. Kurz:

Die Situation war mal wieder ernst. Im Politbüro, wo man sich seit Anfang der 60er Jahre immer wieder auch mit dem ungeliebten Phänomen Popmusik auseinandergesetzt hatte, verteilte Erich Mielke am 24. April höchstpersönlich die neueste "Information über die Ergebnisse der Überprüfung der Reisefähigkeit von Rock-Musikformationen der DDR in das nichtsozialistische Ausland". Schlechte Nachrichten. Von 500 Amateurgruppen und 85 professionell arbeitenden Rockbands attestierte die Staatssicherheit ganzen sechs die uneingeschränkte Reisefähigkeit. Namhafte Gruppen wie City, Silly, Prinzip und Wir mussten daheim bleiben, obwohl sich, wie Kurt Hager zuvor noch an seinen Politbüro-Kollegen Mielke geschrieben hatte, "die leitenden Genossen des Ministeriums für Kultur für die Gruppen einsetzen und Gastspielangebote aus dem NSW vorliegen".

"Politisch negative Haltung"


Doch das hatte die besseren Argumente: Silly-Sängerin Tamara Danz unterhalte Verbindungen zu Personen, die die DDR illegal verlassen hätten, sie habe im übrigen eine politisch unzuverlässige Gesamthaltung und stelle ihre Wohnung für Treffen von Westberliner Bürgern mit politisch-negativen DDR-Bürgern zur Verfügung, teilte das Organ mit. Citys Toni Krahl habe ebenso wie Bassist Manfred Henning "eine politisch-negative Haltung zur DDR", er sei außerdem wegen staatsfeindlicher Hetze vorbestraft. Der City-Lichttechniker Rolf J. sei "1991 Nichtwähler" gewesen und pflege Beziehungen zu einem im Westen gebliebenen Techniker der Gruppe Kreis. Von Wir-Sänger Wolfgang Ziegler wußte man, dass er gegen die Zollbestimmungen verstoßen hatte, über Silly-Techniker Alfons D. lag der Hinweis vor, "wonach er nach Möglichkeiten sucht, die DDR ungesetzlich zu verlassen". "Die hatten immer Informationen abrufbar", ist sich City-Chef Toni Krahl heute sicher, "da konnten sie jeweils das hernehmen, was sie für einen Dämpfer politisch für nötig hielten."

Dann konnte auch Hager nichts mehr machen. Der Kessel blieb zu. Und der Druck stieg. Die Staatssicherheit aber war auf der Hut. Und Rockmusiker waren Mielkes Männern schon von Berufs wegen verdächtig. Langhaarig, erfahrungsgemäß häufig einer "feindlich-negativen Haltung" verdächtig und zu keiner Institution richtig dazugehörig - das passte nicht in den ordentlichen kleinen Sozialismus der DDR. Also durften Künstler wie Karat-Sänger Herbert Dreilich und Renft-Chef Klaus Jentzsch, Karussell-Bassist Claus Winter oder City-Sänger Toni Krahl zwar einerseits zu "gesellschaftlichen Höhepunkten" wie den Weltfestspielen und "Rock für den Frieden" in die Saiten greifen, andererseits aber wurden sie wie Feinde des System unter Beobachtung gehalten. Ein "zweiter Fall Biermann, ein zweiter Fall Renft-Combo", lautete die Devise, müsse unter allen Umständen verhindert werden.

Biermann und Renft verhindern


Ein zunehmend schwieriger werdendes Vorhaben. "Vorliegenden Hinweisen zufolge", meldete die Stasi ihrem Minister im Jahr 1983, "steigt die Anzahl der Rockformationen ständig an. Das erschwert eine sorgfältige Auswahl und Überprüfung der Personen erheblich." Außerdem läge, empört sich der zuständige Offizier, bei zentralen staatlichen Stellen keine "zentrale personelle Übersicht" über die Mitglieder der Gruppen vor. Es fehlten insgesamt Kader- und andere Unterlagen, aus denen die persönliche und gesellschaftliche Entwicklung der einzelnen Gruppenmitglieder ersichtlich sei. "Daraus resultiert eine nicht ausreichende einheitliche staatliche und gesellschaftliche Einflussnahme, Erziehung und Kontrolle der Gruppenmitglieder".

Zumal, wie der Potsdamer Musikwissenschaftler Peter Wicke bestätigt, "kein homogener Apparat über dieser Art Kultur thronte". Ganz im Gegenteil vertrat meist ein "ganzes Geflecht von Leitungsinstanzen und Kommissionen sehr unterschiedliche Ansichten". So konnte es durchaus vorkommen, daß das Ministerium für Kultur die Produktion einer Platte genehmigte, deren Sendung im Rundfunk von der Kulturabteilung des SED-Zentralkomitees verboten wurde, noch ehe die Platte fertig war. Auch kam es vor, daß Gruppen in bestimmten Städten oder Bezirken Auftrittsverbot hatten, sie gleichzeitig aber im staatlichen Fernsehen spielen durften.

Auftrittsverbot, aber Fernsehauftritte


"Einheitliche politische Orientierungen werden bisher nicht genügend erarbeitet", hieß das dann bei den Männern des MfS. Eine Klage, die die Stasi von Anfang an führte. Seit den frühen 60er Jahren hatten junge Leute, die inspiriert von den Beatles und den Rolling Stones irgendwo Rock'n`Roll oder Beat spielten, immer wieder für Ärger gesorgt. Beatmusik galt als Werkzeug des Klassenfeindes, ja, als "Splitter des Pfahles im Fleisch des Sozialismus" , wie es in einer Akte geheimnisvoll heißt.

Kulturdarbietungen wie die der "Diana-Show-Band", die in Tigerfelle gekleidet "wildes Remmidemmi" (Junge Welt) zu machen pflegte, passten nicht in die Landschaft. Nach einer kurzen Phase der Öffnung für die neue Mode aus dem Westen, in der eine Beatles-Platte bei Amiga erscheinen und die FDJ eine "Gitarrenmusikbewegung" initiieren durfte, übernahmen bald wieder die Hardliner das Kommando.

Wie Dokumente aus dem SED-Parteiarchiv belegen, war der Kurswechsel langfristig vorbereitet worden. Schon 1964 ließ sich der damalige SED-Sicherheitschef Erich Honecker regelmäßig eine Aufstellung der "sicherheitsrelevanten Vorfälle bei Beat-Veranstaltungen" erarbeiten, in der jedes zu Bruch gegangene Bierglas und jeder wegen zu langer Haare "aufgegriffene" Jugendliche penibel aufgelistet wurde.

Harte Rhythmen staatsgefährdend


Nach dem berüchtigten 11. Plenum des ZK der SED im Dezember "gaben wieder die Sicherheitsorgane die ästhetischen Maßstäbe vor", meint Rockforscher Peter Wicke, "und nach deren Meinung waren harte Rhythmen nun mal eine staatsgefährdende Übung". Doch was man anfangs noch verbieten oder mit Polizeigewalt niederknüppeln konnte, ließ sich nie völlig vernichten. "Jede verbotene Band kehrte unter anderem Namen zurück", beschreibt Wicke, "und auch die Fans entwickelten immer neue Selbstbehauptungsstrategien." Rückzugsgefechte um Haarlängen, Bekleidungsmode und Sprachregelungen kündigten die Kapitulation des Systems an. "Da offensichtlich Beat-Formationen differenzierten Bedürfnissen unserer Jugend entsprechen", vermerkt ein Papier des Kulturministeriums, könne man mit Verboten nicht mehr arbeiten.

"Es kommt vielmehr darauf an, die jugendgemäße Tanzmusik weiterzuentwickeln". Angesichts der Gefahr, die man in den "zumeist unkontrollierten Aktivitäten zahlreicher Gruppen" und einer "Wirksamkeit, die sich nicht in Übereinstimmung mit unserer Kulturpolitik befindet" sah, setzte die DDR-Führung verstärkt auf Eingliederung. Jugendliche Musik ja, aber gepflegt muss sie sein. "Niemand hat etwas gegen eine gepflegte Bittmusik", verkündete nun auch Staats-und Parteichef Walter Ulbricht, der kurz zuvor zum Schrecken aller Rockfans noch öffentlich gefragt hatte: "Ist es denn wirklich so, dass wir jeden Dreck, der vom Westen kommt, kopieren müssen? Muss man denn dieses Yeah, Yeah, Yeah nachmachen?".

Immer dieses yeah, yeah und yeah


Erst, als es nicht mehr anders ging, taute das Eis, Rock durfte hoffähig werden. Die Staatssicherheit allerdings redete immer ein Wörtchen mit. In kaum einem anderen Lebensbereich der DDR wurde angestrengter überwacht und ausgiebiger spioniert als in der DDR-Rock- und -Liedermacherszene. "Je ausgeprägter die ästhetischen Ressentiments gegen eine bestimmte Art Musik", sieht Wicke einen direkten Zusammenhang, "umso größer wurde die staatsgefährdende Wirkung eingeschätzt." Überall witterte das MfS Gefahr, überall hatte es seine Männer sitzen: In Singeclubs und hinter den Schlagzeugen, in Bandbüros und bei den Konzert- und Gastspieldirektionen, bei der Plattenfirma Amiga und in den Radiosendern.

"Schlüsselpositions-IM Rose" und GMS "Erika", IMS Peters, IM Höhne und unzählige andere besorgten Textabschriften, ehe die Lieder eingespielt wurden, Männer wie der spätere ORB-Moderator Lutz Bertram, der Liedermacher Gerhard Gundermann oder auch die "Firma"-Sängerin Tatjana meldeten diffuse Stimmungsschwankungen in den Gruppen weiter und informierten über illegal aus dem Westen eingeschmuggelte Verstärkertechnik.

"Biet" statt Beat


Und überall kamen die Männer von der Sicherheit, die noch 1974 gelegentlich "Biet" statt "Beat" schrieben und die Wirkung der gleichnamigen Musik einem "aufreizenden Rhythmus, der unter Nutzung modernster elektronischer Mittel in Überlautstärke dargeboten wird" zuschrieben, zu spät. Phänomene wie das des Fans, der seiner Lieblingsband zu jedem Auftritt nachreist, bemerkte man erst, als die Fans als schon als "sogenannter Anhang" von 100 bis 150 Personen "überregional in Erscheinung" traten.

Und auch da versteht das Ministerium noch nichts: "Regelrechte Anführer oder Organisationen sind bislang nicht bekannt", heißt es in einem Bericht über das "rowdyhafte, negative, asoziale und dekadente Verhalten" der DDR-Rockfans anno 1974 verwundert. Die Rockmusiker in der DDR waren sich durchaus über ihre seltsame Lage im Klaren. Zwischen Verbot und Vereinnahmung, Fallenlassen und Fördern, Kriminalisierung und Kooperation, so Peter Wicke, "vollführten sie eine komplizierte und risikoreiche Gratwanderung".

Rocker auf Gratwanderung


Einerseits die Ansprüche des Publikums, das sich an westlichen Rockbands orientierte, andererseits eng beschränkte Möglichkeiten, an Bühnentechnik, Plattenverträge und Medien Auftritte zu kommen. Dazu die Auflagen, Erwartungen und Instrumentalisierungsabsichten des SED-Apparates, der nie verstand, worum es bei Rockmusik eigentlich ging - Rockmusiker in der DDR war auch ein Diplomatenjob. Einer der "Diplomaten" war Puhdys-Keyboarder Peter Meyer. Unter dem Decknamen "Peter" lieferte er ab 1973 "Informationen zu Personen und Sachverhalten", wie es im Abschlussbericht der Hauptabteilung XX heißt. Mit zunehmenden Erfolgen und der damit verbundenen häufigen Gastspieltätigkeit seiner Rockgruppe im NSW sei dann allerdings eine kontinuierliche Zusammenarbeit nicht mehr möglich gewesen.

Meyer, der nach der Wende bekundete, nur im Auftrag seiner Kollegen mit dem MfS gesprochen zu haben, wollte wohl auch nicht mehr. Die Puhdys hatten alles erreicht. Das MfS konnte ihnen nicht mehr helfen. "In den Mittelpunkt seiner Ausführungen bei Treffs rückten persönliche Probleme, vor allem zur Reisefähigkeit von Gruppenmitgliedern", klagt Meyers Führungsoffizier. Dadurch habe der IM nur noch "wenig operativen Wert". Achtzehn Tage nach dem Mauerfall wird Meyer "abgelegt". Der Großteil seiner Akte wurde vernichtet. Die Empfehlung der Staatssicherheit, daß "gesellschaftlich und künstlerisch nicht genügend geeignete Rockmusikformationen" einer "anderen gesellschaftlich nützlichen Tätigkeit zugeführt" werden sollten, konnte nicht mehr in die Praxis umgesetzt werden.



Sonntag, 29. Oktober 2017

Stephen King: Horror-König triumphiert mit 70


Stephen King musste erst 70 Jahre alt werden, um seinen Kritikern endlich als echter Autor zu gelten.

Es hat Jahrzehnte gedauert und es hat Stephen King, der heute seinen 70. Geburtstag feiert, immer gewurmt. So viele Bücher der Mann aus Maine auch schrieb, in so vielen Stilarten er sich erprobte, so viele Millionen Exemplare er auch verkaufte. Dieses Vorurteil, es ging nicht weg: Stephen King schreibt „Horrorromane“, er ist ein besserer Groschenheftautor, talentiert im Umgang mit Sprache. Aber uninteressiert an allem, was tiefer dringt als Reißzahn, Schwert und tödliches Virengift.

King, aufgewachsen als Sohn einer Alleinerziehenden, die sich mit Gelegenheitsjobs durchschlagen musste, hat die Zeit gut ausgehalten. Seit er mit Ende 20 „Carrie“ veröffentlicht hatte, geschrieben in einem ärmlichen Wohnwagen, während der Autor tagsüber als Englischlehrer jobbte, blieb der kommerzielle Erfolg dem begeisterten Freizeitgitarristen treu. King wurde erst zum Bestsellerautor, dann zum Schriftsteller mit den höchsten Auflagen weltweit. Mit Büchern wie „The Stand“, „Es“ und der opulenten Reihe „Der Dunkle Turm“ entwarf er düstere Welten, in die ihn Millionen Leser begleiteten.

Nur ernstgenommen wurde der Vielschreiber nicht, der bis heute mehr als 70 Romane und Geschichtensammlungen veröffentlicht hat. Im Zwiespalt zwischen Erfolg und Selbstzweifeln suchte King Zuflucht in Drogen und im noch eifrigeren Schreiben. Bis ein schwerer Unfall ihn so außer Gefecht setzte, dass er Jahre brauchte, um wieder der Alte zu werden.

Seitdem aber läuft es für King. Er erhielt den National Book Award und endlich wurden seine Bücher, die immer auch die Geschichte von Kleinstadtamerika erzählen, auch im seriösen Feuilleton besprochen. Und wichtiger noch: Hollywood, mit dem King seit Stanley Kubricks „Shining“-Verfilmung von 1980 eher ernüchternde Erfahrungen gemacht hatte, entdeckte seine Bücher neu. Mit „Puls“, „der Dunkle Turm“ und „Es“ kamen und kommen in den letzten beiden Jahren gleich drei King-Bücher ins Kino. Die Neuverfilmung seines Klassikers „Es“ schaffte dabei einen Start wie noch nie zuvor ein Horrorfilm.

Mittwoch, 18. Oktober 2017

Ken Follett: Unter Got­tes­krie­gern


Mit 69 Jahren hat der walisische Auflagenmillionär Ken Follett den dritten Teil seiner vor 30 Jahren begonnenen Jahrhundertsaga um die Säulen der Erde geschrieben.


Es geschah mitten in einer epochalen Zeitenwende, dass der walisische Thrillerautor Ken Follett aus dem Glied trat. Der 40-Jährige, geboren in Cardiff und berühmt geworden mit dem Bestseller "Die Nadel", legte 1989/1990 ein Buch vor, das ganz anders war als alles, was er bis dahin geschrieben hatte. Nichts weniger als "Die Säulen der Erde" wollte das gleichnamige 1 300-Seiten-Werk beschreiben, dessen Handlung im Jahr 1135 beginnt und ein knappes halbes Jahrhundert später endet.

Ein großes Wagnis, denn die Geschichte um den Baumeister Tom Builder und die Entstehung der - fiktiven - Stadt Kingsbridge und ihrer Kathedrale bediente alles, nur nicht Folletts Stammpublikum. Ein großer Wurf dennoch, wie 26 Millionen verkaufte Bücher beweisen. Vor zehn Jahren ist der streng religiös erzogene Fabrikant von Thrillern wie "Roter Adler" dann noch einmal zurückgekehrt in die mittelalterliche Welt von Kingsbridge, um die Nachkommen seiner ursprünglichen Helden zu besuchen. Auch "Die Tore der Welt" wurde ein Welterfolg, sodass Follett nun mit nur zehn Jahren Abstand "Das Fundament der Ewigkeit" folgen lässt. 

Per Schnelldurchlauf sind 200 weitere Jahre ins Land gegangen. Die Erben der Tom Builders, Edmund Woolers und der Grafen von Shiring leben jetzt im Spannungsfeld einer neuen Zeit, die zerrissen wird vom blutigen Glaubenskrieg zwischen Katholiken und Protestanten. Ned Willard, Sohn einer anfangs erfolgreichen Handelsfrau aus Kingsbridge, gerät mitten hinein in diese mörderische Ära, in der die europäischen Königshäuser mal gegen- und mal miteinander um die Vorherrschaft auf dem Kontinent streiten, wobei nie ganz klar ist, ob ihnen die Religion dabei Antrieb oder gern genutzte Waffe ist. 


Ken Follett, zuletzt mit seiner epischen "Century"-Trilogie der Porträtmaler des 20. Jahrhunderts, mischt auch hier wahre Ereignisse und historisch verbürgte Personen mit ausgedachten Figuren wie Ned Willard, seiner Jugendliebe Margery Fitzgerald und dem skrupellosen Spion Pierre Aumande. Ziel ist immer, ein Bild wirklicher Ereignisse zu zeichnen, von denen heute, nicht einmal 500 Jahre später, niemand mehr auch nur das Geringste weiß. 


Erbittert und gnadenlos schlachteten Franzosen damals Franzosen, Engländer zündeten Engländer an, Spanier ermordeten nicht nur zehntausende Holländer, sondern sie versuchten auch, das unter Königin Elisabeth vom wahren Glauben der römischen Kirche abgefallene England zu erobern. Feuer und Schwert für den falschen Glauben. Den Tod für jeden, der nicht abschwor. 


Gotteskrieger auf beiden Seiten, gelenkt von machtgierigen Adelsgeschlechtern wie den Guise, den Stuarts, den Bourbonen und den Tudors, für die das ganze Leben ein "Game of Thrones" ist. Es verliert der, der zu viele Skrupel hat und zu wenige Männer unter Waffen. 


Oh, nein. Früher war nicht alles besser. Das Europa, in das Ken Follett seine Leser entführt, ist für die meisten seiner Bewohner ein trister, von religiöser Intoleranz beherrschter Erdteil, auf dem Abweichungen umgehend grausam bestraft und Konflikte mit brutaler Härte ausgetragen werden. Folletts eigentliches Thema, auch hier wieder in eine Handlung eingebettet, die es schwer macht, den 1 160-Seiten-Band aus der Hand zu legen, ist die Freiheit des Individuums in den Grenzen seiner Zeit. Dass Königin Elisabeth Katholiken nicht hinrichten lässt wie ihre Vorgängerin Maria I., die protestantische Bischöfe nach Ketzergesetzen auf dem Scheiterhaufen verbrennen ließ, gilt schon als Fortschritt in den dunklen Tagen Mitte des vergangenen Jahrtausends. 


Europa ist, was den Adel und die mächtigen Handelshäuser betrifft, fast schon globalisiert, eine Gemeinschaft mit offenen Grenzen und länderüberschreitendem Handel. Die einfachen Menschen aber leben nicht nur in sklavischer Abhängigkeit von ihren Feudalherren, sondern auch unfrei in dem, was sie denken und glauben dürfen. Erst im jahrzehntelangen Krieg zwischen den Christen hier und den Christen da, der allein in der Bartholomäusnacht von Frankreich anno 1572 bis zu 15 000 Opfer forderte, wird die Religionsfreiheit erkämpft, die Follett als die Freiheit nennt, die Europa den Weg aus der Gewaltherrschaft in die Demokratie wies. 


Der Preis aber ist auch hier, in der an Familiensagen wie "Dallas" oder "Denver Clan" angelehnten populären Darstellung durch den Meister der authentischen Erfindung hoch. Es wird geliebt, aber meist unglücklich. Es wird gehasst, verraten, intrigiert, geboren, gelitten und gestorben. Alle handelnden Figuren fahren die Achterbahn der Gefühle hoch und wieder runter, während die Zeitläufte um sie herum in Blut, Elend und Tränen ertrinken. Ned Willard, um dessen Lebensweg herum Ken Follett diesen bemerkenswert heutigen dritten Band seiner Jahrhundert-Trilogie gebaut hat, schaut am Ende zufrieden zurück. Aber ob er wirklich glücklich ist?