Sonntag, 11. September 2016

9/11, 15 Jahre danach: Die Mutter aller Lügen


Verräter. Verbrecher. Verschwörer. Falsche Bärte und gefälschte Fährten, kalte Spuren und heiße Eisen. Nein, auch nach 15 Jahren ist noch nicht alles über den 11. September 2001 erzählt, noch nicht jede Möglichkeit ausgelotet. Das hat William Cooper gerade erst bewiesen: Mit dem mühsam zusammengekehrten Video "10 erschütternde Fakten zu 9/11" holte er sechs Millionen Klicks bei Youtube. Zuschauer waren die, die auch nach anderthalb Jahrzehnten noch an den unzähligen Rätseln rund um den Angriff auf Amerika knabbern. Was heißt auch. Erst recht.

Natürlich, denn Khalezov bezichtigt nicht nur die US-Regierung der Lüge über die Anschläge. Das tun sie alle, die Wahrheitssucher und Verschwörungstheoretiker, die Aufdecker und Aufklärer. Auch der in Palästina geborene Isländer Elias Davidsson, im Hauptberuf Komponist, weiß genau, wie es nicht war: So, wie es offiziell behauptet wird.


Atombombe im Fundament


Das World Trade Center wurde am 11. September 2001 gar nicht von Flugzeugen getroffen! Es gab keine Flugzeuge. Es gab keinen Mohammed Atta, jedenfalls keinen, der ein Attentäter war. Wie alle anderen Männer, der der Mittäterschaft an den Anschlägen beschuldigt werden, ist Atta für Davidsson ein "unschuldiger Muslim". Für alles andere gebe es keine Beweise.


Immerhin, wieder etwas richtig Originelles im seit zehn Jahren währenden Streit um den wahren 11. September. Seit dem Tattag ist schon so ziemlich alles enthüllt worden: Es gab keine Flugzeuge, nur eine kontrollierte Sprengung. Es gab keine Attentäter, sondern einen "Inside Job" von US-Regierungskreisen. Ins Pentagon schlug kein Flieger ein, sondern eine Rakete. Dafür wurde die von Passagieren zurückeroberte vierte Maschine von einem Jäger abgeschossen.



Die "Mutter aller Lügen" nennen bekennende Ungläubige die Ereignisversion der US-Regierung, in der Al-Qaida-Terroristen, begünstigt durch allerlei Schlampereien, vier Flugzeuge entführen und zu Waffen umfunktionieren konnten.


Denn das wäre viel zu einfach. Und keine Erklärung für die Unmenge an Ungereimtheiten, die ein Blick auf den Bericht zutage fördert, den der US-Kongress 441 Tage nach den Anschlägen vorlegte. Wie etwa konnte es den Terroristen gelingen, trotz Einreiseverbotes in den USA Flugunterricht zu nehmen? Wie schafften es Terrorpiloten, denen Fluglehrer jede Befähigung zum Steuern einer Kleinmaschine absprachen, große Jets zielgenau in die WTC-Türme zu steuern? Wieso wurden die Stahlträger der Türme vom brennenden Kerosin geschmolzen, obwohl doch der Schmelzpunkt von Stahl weit über der Verbrennungstemperatur von Flugzeug-Treibstoff liegt?

Anzeichen für Sprengungen

Weshalb schließlich sahen Augenzeugen vor dem Einsturz Anzeichen für Sprengungen? Warum stürzte das Hochhaus WTC 7 ein, obwohl es kaum von Trümmern getroffen worden war? Wie konnte eine Boeing von 38 Metern Breite nach dem Angriff auf das Pentagon in einem nur fünf Meter breiten Loch verschwinden? Und wie schafften es Passagiere in den entführten Flugzeugen, mit ihren Handys zu telefonieren? Wo doch später Versuche ergaben, dass es unmöglich ist, eine Verbindung zu bekommen?

Abweichende Antworten haben Dauerkonjunktur, vor allem im Internet. In zahllosen Foren diskutieren selbsternannte "Truther" seit anderthalb Jahrzehnten ruhelos angebliche und wirkliche Widersprüche. Wahrheitsfilme wie "Zeitgeist" oder "Loose Change" erreichen ein Millionenpublikum. Vortragsreisende von Elias Davidsson knibbeln lose Ende zusammen und drehen der offiziellen Version einen Strick. Zuletzt speiste sich das Phänomen der Tea-Party in den USA aus dem Lager der "9/11 Truther", in dem sich die versammeln, die die amtliche Geschichte vom Angriff der Attentäter aus den Bergen von Afghanistan nicht glauben wollen.

Der Zweifel ist nicht nur im Zielland der Anschläge eine Industrie geworden, die sich von den zahllosen ungeklärten Widersprüchen der offiziellen 911-Geschichte ernährt. Vielmehr markiert das Zweifeln nach dem 11. September den Beginn einer Ära, in der immer mehr Menschen an immer mehr Dingen zweifeln.

Früher Fall für Gespensterjäger

Früher waren Verschwörungstheorien ein Fall für Gespensterjäger. Die Mondlandung gefälscht, der Ufo-Unfall von Roswell. Oder die Ermordung John F. Kennedys , der natürlich nicht von einem einzelnen Schützen erschossen, sondern im Auftrag von CIA, dem Vizepräsidenten und der Militärindustrie hingerichtet wurde. Ebenso übrigens wie Prinzessin Diana , von der man leider bis heute nicht weiß, wie sie die Pläne der geheimen Weltregierung störte. Aber tot ist sie, was nach der Überzeugung von Verschwörungstheoretikern ganz klar beweist, dass sie jemanden im Wege gewesen sein muss. warum sonst sollte sie tot sein?

Wer Spaß an Fantasiespielen hatte, spann die Geschichten vom "Unternehmen Capricorn" weiter. Manche verglichen Fotos. Anderen lachten über die "Mothman-Prophezeiungen".  „Nur weil du paranoid bist, heißt das nicht, dass sie nicht hinter dir her", hat der US-Schriftstelle Joseph Heller schon vor vielen Jahren festgestellt. Und so war es ja auch.

Wie im Film „Fletschers Visionen", in dem Mel Gibson als New Yorker Taxifahrer Jerry Fletcher die von Julia Roberts gespielte Staatsanwältin Alice Sutton so lange mit verqueren Verschwörungstheorien behelligt, bis sich herausstellt, dass es tatsächlich eine ganz hoch angebundene Verschwörung gegen den US-Präsidenten gibt, zeigt sich in der wahnhaften Furcht vor Beobachtung und Überwachung ein notwendiger Überlebensreflex. Es ist ja so, und es ist eigentlich noch viel schlimmer.

Seit Snowden ist das bekannt. Das Ausmaß der Überwachung des öffentlichen Lebens durch westliche Geheimdienste ist größer als es sich Verschwörungstheretiker je hatten erträumen lassen. Seit  der NSU ist klar, dass Geheimdienste und Nazi-Terroristen einander immer zuarbeiteten. Die Unverletzlichkeit der Wohnung und die Behauptung, es gebe ein vom Gesetzgeber geschütztes Fernmeldegeheimnis, sind dahin.

Und mit ihnen auch das Vertrauen weiter Teile der Bevölkerung in die eigene Urteilskraft.

Die Spinner haben Recht

Die Spinner hatten Recht! Die Wahnsinnigen wussten mehr über das wahre Leben als Klugen, entspannt zurückgelehnt lebenden Internetauskenner! Ein Schock, dessen Nachwirkungen inzwischen überall zu beobachten sind.

Nicht nur bei den 9/11-Forschern, sondern auch bei den Reichsbürgern, nach deren Ansicht die Bundesrepublik nicht existiert, wenn man sich selbst zum Staat ausruft.

Die Gewissheiten sind mit demselben Tempo verschwunden, mit dem der Staat selbst Hand an seine Rechtsgrundlagen legte. Die EU-Verträge waren irgendwann nur noch Papier, in den EZB-Rechtsvorschriften fand sich eine monetarisierbare Lücke. Die Grenzen gingen auf, das vertrauen ging runter.

Inzwischen halten Teile der Bevölkerung nicht mehr nur Roswell, Hitlers Flucht nach Argentinien und die Existenz von Reptiloiden für durchaus möglich. Sondern auch, dass Angela Merkel  bei der Stasi war und bis heute in Erich Honeckers Auftrag handelt.

Denn wenn es möglich ist, dass, wie die Bundesregierung tapfer schwört,  niemand davon gewusst hat, dass die CIA die Kanzlerin abhört, dann gibt es eigentlich nichts mehr, was mit einiger Fantasie nicht auch noch vorstellbar wäre. In einem Hangar auf der amerikanischen Air Force Base Wright- Patterson lebt ein Außerirdischer? Jemand hat einen Vergasermotor entwickelt, der nur acht Liter Benzin auf 500 Kilometer verbraucht, die Autokonzerne aber haben das Patent aufgekauft und halten es unter Verschluss? Microsoft-Chef Bill Gates ist in Wirklichkeit der Teufel persönlich, denn korrekt heißt er William Henry Gates III. Wenn man die Buchstaben seines Namens in Codes der Computersprache ASCII umwandelt, ergibt das 666, die Ziffer des Gottseibeiuns. Vielleicht gibt es sogar ein Abhörsystem namens Echelon, mit dem die CIA jedes Telefongespräch, jede E-Mail und jedes Fax weltweit abfangen und mitlesen kann?

Echelon - vom Gerücht zur Tatsache in 30 Jahrem

Gibt es. Wirklich. Echelon etwa war drei Jahrzehnte lang ein unbestätigtes Gerücht. Jeder konnte die riesigen Abhöranlagen in Bad Aibling oder dem malloiquinischen Puig Major de Son Torrella sehen. Aber selbst europäische Spitzenpolitiker beteuerten, worum es sich handele, sei nicht ganz klar. Erst 2001 gelang es einer offziellen Untersuchungskommission des europäischen Parlaments, die bereits 1976 durch den NSA-Mitarbeiter Winslow Peck öffentlich gemachte Existenz des Systems sicher zu bestätigen. 2015 besuchte die Bundesdatenschutzbeauftragten Andrea Voßhoff den Stützpunkt. Sie fand massive Rechtsverstöße, "die herausragende Bedeutung haben und Kernbereiche der Aufgabenerfüllung des BND betreffen". Zwölf offizielle Beanstandungen ausgesprochen. Weiter geschah nichts.

Das Volk protestierte nicht. Es nahm vielleicht nicht einmal zur Kenntnis. Es erwartete wohl auch gar nichts anderes.

Vertrauen lässt sich nur einmal verlieren, dann ist es für immer weg.

Freitag, 2. September 2016

Luther in schlechtem Licht: Wer nichts hat, nimmt eben das


Jahrelang war es das brutalstmögliche Frühaufstehen, mit dem Sachsen-Anhalt weltweit für Aufsehen sorgen wollte. Hunderttausende Euro wurden verbraten, um mit Schildern an Autobahnen deutlich zu machen, dass hier früher aufgestanden wird als anderswo. Ganze Plakatserien sollte es anfangs geben, daraus wurde - die Ansprüche sind bescheiden - dann zwar nur aller paar Jahre mal ein neues Motiv. Aber sechs Millionen kostete der Spaß. Ein paar davon will die EU inzwischen zurück.

Doch zumindest durch den leichten Hang ins Absurde wurde der Claim "Wir stehen früher auf" am Ende doch zumindest ein wenig berühmt.

Zeit für einen Neuanfang, befand die Landesregierung. Und griff tief in die Kiste mit der Landesgeschichte. „Sachsen-Anhalt Ursprungsland der Reformation“ ist nun anstelle von „Willkommen im Land der Frühaufsteher“ auf den Schildern zu lesen, die künftig entlang der Landesgrenze an den Autobahnen stehen sollen. Zwei zusammengesetzte Substantive. Ein Artikel. Ein Fremdwort. Und ein halber Rechtschreibfehler. Sachsen-Anhalt in einem grammatikalisch unvollständigen Satz auf den Punkt gebracht.

„Wir wollen ab jetzt situativ auf bestimmte Ereignisse im Land hinweisen", begründet ein Regierungssprecher die Wahl des Slogans, der noch eine Ecke kantiger ist als der frühere.

"Bestimmte Ereignisse im Land". Die sich vor 500 Jahren abgespielt haben.

Wer nichts hat, nimmt eben das.

Irgendwie passt dann auch der Rest. Der Ministerpräsident baute sich bei der Vorstellung der Kampagne, die keine sein soll, jedenfalls "keine vollständige", wie es offiziell heißt, so unglücklich auf, dass er den Agenturfotografen den freien Blick auf die einzige Botschaft der Plakate verbaut. "luther-erleben.de" steht genau da, wo man es hinter der Gestalt mit den hängenden Anzugschultern und den schmalen Zitronenlippen nicht lesen kann.

Für ein Hinweisbanner auf die Kampagne beim Landesportal haben sich die Initiatoren für eine abweichende Schriftart in anderer Farbe entschieden. Nein, hier gibt es kein einheitliches Design! Vielleicht, um zu unterstreichen, dass es gar keine richtige Kampagne ist. Deshalb unterblieb wohl auch eine Verlinkung von sachsen-anhalt.de zu luther-erleben.de. Suchmaschinen danken das, das wissen sie in Magdeburg. Und beachten es: Wenn man auf der Startseite des Landesportals sachsen-anhalt.de links oben auf das Sachsen-Anhalt-Logo klickt, kommt man direkt - richtig, auf die Startseite von sachsen-anhalt.de, auf der man sich gerade befindet.

Zum Ausgleich aber hat der Präsentator das Plakat bei der Öffentlichkeitspremiere so günstig ins Licht gestellt, dass dunkle Schatten sich von der Seite ins Bild schieben.

Von rechts dunkler Schlagschatten. Hinten ein Parkverbotsschild. Vorn institutionalisierte Bewegungslosigkeit.

Sachsen-Anhalt in einem Foto.

Fest steht schon jetzt: Wen diese Werbung nicht an Saale oder Elbe lockt, der ist zu schnell gefahren.

Mittwoch, 24. August 2016

Ausbau der Überwachung: Die Codeknacker vom Amt


Whatsapp und Google bieten ihren Nutzern inzwischen Verschlüsselung serienmäßig. Die Bundesregierung reagiert darauf: Eine neue Behörde soll die Sicherheitsalgorithmen entschlüsseln.

Google machte den Anfang, aber der war bescheiden. Als der Suchriese, nebenher auch einer der größten E-Mail-Anbieter weltweit, im Dezember 2013 ankündigte, den Kommunikationsverkehr seiner Kunden künftig standardmäßig zu verschlüsseln, war das mehr Versprechen als Realität. Weil Verschlüsselung nur funktioniert, wenn Sender und Empfänger mitmachen, war letztlich nur rund ein Drittel der Mails keine elektronische Postkarte, in die jeder hineinschauen konnte.

Doch das hat sich geändert. Weil immer mehr E-Mail-Dienste und Messenger auf Verschlüsselung setzen, sind heute im Durchschnitt mehr als 85 Prozent aller E-Mails chiffriert, die Googles G-Mail-Dienst sendet und empfängt. Der Benutzer selbst merkt das nicht, denn bei ihm kommt immer Klartext an, weil nur die Übermittlung verschlüsselt wird.

Doch ein Problem damit haben Ermittlungsbehörden: Greifen sie irgendwo zwischen Sender und Empfänger in einen Mailwechsel ein, können sie zwar die Daten abgreifen. Nur lesbar zusammensetzten können sie sie nicht, weil ihnen der Schlüssel zum Schloss fehlt. Auch bei Whats-app oder der aus Sachsen-Anhalt stammenden Messenger-App Chiffry hat jede Nachricht ihr eigenes Schloss mit einem eigenen Schlüssel, so dass nicht einmal die Anbieter die über ihre Server laufenden Inhalte in Klartext verwandeln können. In den USA verurteilte ein Gericht Apple dazu, chiffrierte Kundendaten - in diesem Fall ein Passwort - an einen Geheimdienst herauszugeben. Dabei hat sich herausgestellt, dass der Konzern dazu gar nicht in der Lage war.

Gut für die Nutzer, schlecht für Ermittler und Geheimdienste. Die Bundesregierung plant deshalb nach einem Bericht des sogenannten Rechercheverbundes von Süddeutsche Zeitung, NDR und WDR die Einrichtung einer neuen Code-Knacker-Behörde. In dieser„Zentralen Stelle für Informationstechnik im Sicherheitsbereich“ - abgekürzt Zitis - sollen 400 Mitarbeiter Techniken für die Überwachung des Internets und von Messenger-Diensten entwickeln. Ihre Aufgabe sei es, damit Strafverfolgern und Staatsschützern zu helfen, künftig auch verschlüsselte Botschaften im Netz mitlesen zu können. Entsprechende Pläne sollen zwei Staatssekretäre aus dem Bundesinnenministerium und das Kanzleramt Abgeordneten der Regierungsparteien bereits vor Beginn der Terrorwelle vorgestellt haben, die Deutschland zuletzt erschütterte.

Zumindest beim Selbstmordanschlag von Ansbach spielten verschlüsselte Whatsapp-Chats offenbar eine Rolle, so dass die Pläne zum Start von Zitis im kommenden Jahr nun noch mehr regierungsamtlichen Schub bekommen. Der Bundesinnenminister schließt sich Frankreichs Kampagne gegen verschlüsselte Kommunikation an, bei der die Tatsache allein, dass Menschen unbeobachtet vom Staat kommunizieren, zum Verdachtsmoment erklärt wird. De Maiziere möchte nun für sich "rechtsstaatlich eng begrenzte Möglichkeiten geben, verschlüsselte Kommunikation zu entschlüsseln", wobei die enge Begrenzung wie immer nicht lange halten wird.

Gesucht werden für die künftige Bundescodeknackerbehörde derzeitvor allem IT-Spezialisten. Bis zum Jahr 2022 soll das neue Alt bereits 400 Mitarbeiter beschäftigen. Für das kommende Jahr sei ein Budget im niedrigen zweistelligen Millionenbereich geplant.

Der ehemalige Bundesbeauftragte für den Datenschutz, Peter Schaar, hat den Aufbau von Zitis inzwischen harsch kritisiert. Die Strafprozessordnung liefere keine Rechtsgrundlage für den Einsatz von Staatstrojanern. Thomas de Maizière hatte im Stil einer großen Semantikers auf diesen Umstand reagiert: "Die Behörden müssen technisch können, was ihnen rechtlich erlaubt ist", hatte er in Umkehrung seiner Absichten verlautbart, als liege es am technischen Unvermögen, dass der Staat nicht bei allen seiner Bürgern mitlesen darf. Nicht an grundgesetzlichen Regelungen.

Montag, 22. August 2016

Bioo Lite: Handy-Strom aus dem Blumentopf

Eine ganz normale Grünpflanze lädt das Smartphone auf? Beim Bioo Lite geht das:
Grün ist der Grundgedanke, grün auch die Umsetzung. Das spanische Unternehmen Arkyne Technologies hat wirklich einen Blumentopf entwickelt, der Handys auflädt.

Was im ersten Moment etwas seltsam klingt, ist weder Spinnerei noch Schwindel: Der Bioo Lite-Topf verfügt unter dem Platz, den Erde und Blattpflanze benötigen, über eine zweite Etage, in der in einem Substrat Bakterien leben, die mit Wasser reagieren, wenn die Pflanze beginnt, Kohlendioxid in Sauerstoff umzuwandeln und der in den Boden gelangt, wo ihn das Wasser aufnimmt.

In einem Video erklärt Arkyne genau, wie der grüne Strom in der ebenfalls in der Tiefe des Topfes verborgenen Batterie landet. Ehe er von dort aus über ein einfaches USB-Kabel zu einem - hübsch in einem Steinchen versteckten - USB-Anschluss gelangt, an den man Handy oder Tablet zum Aufladen hängen kann.

Von da an funktioniert alles wie an jeder anderen Steckdose: Laut den Erfindern kann eine Pflanze genug Energie liefern, um ein Smartphone bis zu dreimal pro Tag aufzuladen. Dabei wird sowohl nachts als auch tagsüber Strom produziert. Es wird von rund 3,5 Volt und 500 Milliampere gesprochen, abhängig sei das davon, welche Art Pflanze im Topf steckt. Um die nachzuladen, braucht Bioo Lite nichts Besonderes: Regelmäßiges Gießen reicht völlig aus.

Mehr zum Elektrotopf:
www.bioo.tech

Samstag, 20. August 2016

Das letzte Konzert des Rio Reiser: Ein König dankt ab

Rio Reiser im Jahr 1990 in der Schorre in Halle. Damals waren die Hallen noch ausverkauft.

Er weiß es an diesem Tag im Mai 1996 noch nicht, aber der Mann, der sich Rio Reiser nennt, wird heute sein letztes richtiges Konzert spielen. Einmal noch all die Lieder, wobei er seine größten Hits weglässt. Einmal noch alles geben, auch wenn die Halle längst nicht mehr ausverkauft ist. Ein paar Tage später wird er ein Konzert nicht mehr zu Ende spielen können. Alle anderen sagt er ab. Drei Monate später wird Reiser tot sein. Aber das Konzert war gut, und zwar so gut:


Erstmal zieht er immer die Schuhe aus. Kann kommen, was will – Rio Reiser setzt sich, schlüpft aus den Slippern und zerrt die blauen Frotteesocken von den Füßen. Ein Ritual. Ralf Möbius, wie Rio eigentlich heißt, tritt barfuß auf, egal, ob Mitte der 70er im Hinterhof eines besetzten Hauses, Mitte der 80er in der ausverkauften Seelenbinderhalle in Berlin oder Mitte der 90er in der kaum halb gefüllten Schorre in Halle. Danach geht er zum Mikro und singt: "Alles was ich sagen kann / ist schon längst gesagt".

Sechs lange Jahre hat Rio nicht mehr auf der Bühne gestanden. "Irgendwie keine Lust" habe er gehabt, und außerdem jede Menge anderes zu tun. Rio Reiser, der als Sänger der Anarcho-Polit-Combo Ton Steine Scherben ein Kapitel deutscher Rockgeschichte schrieb, komponierte die Musik zu einem Theaterstück, er spielte die Hauptrolle in einem "Tatort", machte ein Musical, verfaßte ein Buch und produzierte daheim auf seinem Bauernhof im verträumten Fresenhagen Platten von Freunden wie Lutz Kerschowski, der ihn jetzt als Gitarrist begleitet. Die Welt draußen hat ihn darüber ein bißchen vergessen, den einstigen "König von Deutschland". Vorbei die Zeiten, als ihn tausende Fans für Hits wie "Blinder Passagier" feierten, als ihn die versammelte deutsche Rockprominenz zum besten Texter kürte und Alt-68er, Popfans und Punks ihn gleichermaßen liebten. Heute ziehen die Jungen zu Green Day oder den Boyzone, die Mittleren treffen sich bei den Toten Hosen und die 68er pilgern zu Pur.

Reiser allerdings stört das nicht im mindesten. Die geschwollenen Augenlider fest zugekniffen, die Hände um die Gitarre geklammert, steht er da und singt. Für sein Comeback hat sich der 46jährige immerhin etwas ganz besonderes ausgedacht. Im Vorprogramm bietet er Deutschlands einzigen Minnesänger Nikolai von Treskow auf, im Abspann läßt er die Berliner Klamauk-Kapelle Knorkator lärmen.

Nichts paßt zusammen, und das ist beabsichtigt. Rio Reiser, immer für Überraschungen gut, tut weiterhin alles, Erwartungen nicht zu befriedigen. Jahrelang riefen sie in Konzerten nach alten Scherben-Stücken wie "Macht kaputt was Euch kaputt macht", aber Rio war das bald "zu blöd". Heute schreien sie nach seinen eigenen Hits -und er spielt sie nicht. Kein "König von Deutschland", kein "Alles Lüge", kein "Geld". Einer wie Reiser macht es sich selber schwer, bleibt so weitgehend unfaßbar für die Pop-Industrie und also integer immerdar.

Reiser hat gekokst und gespritzt, er qualmt wie ein Schlot und stürzt Alkoholika hinunter, als gäbe es kein Morgen mehr. Aber allen Verlockungen, den Pop-Clown zu machen und einmal im Leben richtig Geld zu verdienen, hat er widerstanden. "Ich will ich sein / anders will ich nicht sein", singt er, und das großartige "Laß" uns ein Wunder sein", bei dem seine nach den Griffen tastenden Finger den Kampf mit den Saiten aufgeben. Reisers neue Lieder, letztes Jahr erschienen auf einer Platte namens "Himmel & Hölle", sind zarter, zornloser, zurückgenommener denn je.

Der Mann, der einst jugendliches Revoluzzertum und Unangepaßtheit personifizierte, ist jenseits der 40 zum stillen Beobachter der Zeitläufte geworden. Rio rockt nicht mehr, er singt, als balanciere er barfuß über Glasscherben, und wenn er schon mal aufschaut zur staunenden Menge, dann zielt sein Blick weit über die Köpfe ins Dunkel, wo er "Licht, Liebe und Hoffnung" (Rio) sieht. "Wann, wenn nicht jetzt?, wo, wenn nicht hier, wie, wenn ohne Liebe, wer, wenn nicht wir?", fragt er tapfer, obwohl er die Antworten kennt. Und als einzige Zugabe gibt es das Liebeslied "Junimond": "Es ist vorbei, bye, Junimond, es ist vorbei".


Mittwoch, 17. August 2016

Olaf Schubert: Der Spaßvogel in der Ostbaracke

Sein Kapital ist das Gesicht, aus dem er so fassungslos und entsetzt, so gleichgültig und ernsthaft zugleich gucken kann. Olaf Schubert, hoher Scheitel, Fusselhaar und über dem schmächtigen Brustkorb den unerlässlichen Pullunder, staunt dann in die Runde, die meist gerade brüllend lacht. Lacht über etwas, das Schubert gerade gesagt hat. Aber kann das sein? Dass Menschen sich vor Vergnügen ausschütten wollen, nur weil er einen durch ein Delta an Nebensätzen mäandernden Monstersatz nach viermal durchatmen und dreimal neu ansetzen zu einem glücklichen Ende gebracht hat?

Es hat eine ganze Weile gebraucht, bis Olaf Schubert, der eigentlich Michael Haubold heißt, es geglaubt hat. Bis dahin tourte der gebürtige Plauener, der heute neben Cindy aus Marzahn, dem Eisleber Duo Elsterglanz und dem Dresdner Uwe Steimle zu Ostdeutschlands Comedy-Elite gehört, mit seiner Band DekaDance durch die Lande. Schon diese Kapelle war nicht gänzlich ernst gemeint. Zum Programm gehörten Ausschweifungen über die Grenzen des guten Geschmacks hinaus, die Musiker trugen wundersame Verkleidungen und es wurde viel Unsinn erzählt. „Women back in the Kitchen“ sangen sie damals oder auch „Döbeln in the Sky“ und eine Bläsertruppe stieß dazu ins Horn, dass die Wände wackelten.

Bilder von damals zeigen Olaf Schubert in komischen Kittelschürzen, Lederjacken und Lindenberg-Hosen. Ein linkischer Kerl, dem der Schalk im Nacken sitzt. Es dauert denn auch ein halbes Jahrzehnt, bis das humorige Talent des selbst ernannten „Mittlers zwischen Kunst und Sozialabbau“ auch außerhalb der kleinen Säle entdeckt wird, in denen DekaDance auftreten. Hatte der Künstler seine ersten Jahre noch als ruhelos Reisender zwischen kleinen Klubs verbracht, in denen er seine abstrusen Protestgedichte und Aktionshörspiele mit hohem Einsatz, aber gegen ein geringes Salär vortrug, öffneten sich mit Beginn des neuen Jahrtausends die großen Tempel des deutschen Humors bis weit hinüber in den humortechnisch immer noch abgeschirmten Westen.

Schubert, der seine Hörspiele traditionell im halleschen Überschall-Tonstudio von „Zorn“-Autor Stephan Ludwig einspielt, gastiert seitdem im „Quatsch Comedy Club“ und bei „Night Wash“, er heimst Kleinkunstpreise und anno 2008 schließlich sogar den Deutschen Comedypreis als „Bester Newcomer“ ein. Dazwischen bespielt der Sachse Open-Air-Arenen wie die Pferderennbahn in Halle.

Ungeachtet des Umstandes, dass der Wahldresdner eine hochartifizielle Art von Humor pflegt, die von Anspielungen, unerwarteten Wendungen und gezielten Schlägen unter die Gürtellinie lebt, werden seine Bühnenprogramme nun zur besten Sendezeit im Fernsehen gezeigt. Zuletzt erst übernahm die ARD die vom MDR produzierte Fernsehshow „Olaf verbessert die Welt“, weil die überaus erfolgreich bei jungen Zuschauern ist.


Ebenso unverdrossen wie prinzipiell unverstanden steht Schubert nun dort auf der großen Bühne, im Scheinwerferlicht, immer noch begleitet von Bert Stephan, seinem alten DekaDance-Kollegen, und immer noch im Rauten-Pullunder, den, so will es die Legende, seine Oma ihm einst gestrickt hat. Olaf Schubert ist ein Star, ein Comedian, er spielt in der Liga von Dieter Nuhr, Mario Barth und Atze Schröder. Aber auf seine Art: Schubert sucht nach dem Tabu, um es grob zu verletzen, er ist politisch unkorrekt, beleidigend und unterwürfig zugleich und er verballhornt Begriffe und Bedeutungen, bis sie ganz neu erkennbar werden. Sich selbst nennt er deshalb stolz den „Rufer in der Wüste, Gegner der Finsternis und Vergewaltiger des Bösen“.

Der Spaßvogel in der Ostbaracke singt mit Gießkannenstimme und verhaspelt sich. Dann sattelt er den nächsten halben Satz und reitet ins Klischee, während die stets leicht verstellte Stimme in einem selbsterdachten weich dahinfließenden Bildungssächsisch Floskeln so lange aufbläst, bis sie begleitet von einem erstaunten „Oh!“ vor aller Augen platzen. Eine Kunstfigur, die noch mehr mit dem Mann dahinter verschmolzen ist als im Fall von Gilbert Rödiger und Sven Wittek, die nur alsDuo Elsterglanz wahrgenommen werden, und Ilka Bessin, die ihre erfolgreiche Kunstfigur „Cindy aus Marzahn“ erst vor wenigen Wochen aus Überdruss am Verwechseltwerden beerdigt hat.

Schubert, der kürzlich erst einen Feuerwehrschlauchfetischisten im neuen Film der Elsterglanz-Kollegen gespielt hat, wird für Schubert gehalten, die Erfindung. Nicht für Haubold, den Lenker, Denker und Texter hinter den Grammatik-Gebirgen und bizarren Zeitformverzerrungen, der öffentlich nie aus dem Schatten des „Wunders im Pullunder“ (Schubert über Schubert) tritt.


Nur so kann das Kunstkonzept Olaf Schubert funktionieren: Wenn die Person auf der Bühne das zu sein scheint, was sie zu sein vorgibt - ein an Selbstüberschätzung leidender Besserwisser, von nichts eine Ahnung, aber zu allem aussagebereit. Schubert schwätzt vom „erweiterten Infinitiv mit Kapuze“, von einer „Durchsetzung der deutschen Sprache mit Anglizismen, vor allem mit englischen“ und er erzählt von bizarren Begebenheiten aus seinem Alltagsleben als freischaffender „Betroffenheitslyriker“ (Schubert). Mit dem Lachen über ihn, der so verzweifelt versucht, so zu tun, als habe er alles im Griff, lachen die Leute immer auch über sich selbst.


www.olaf-schubert.de
www.objekt5.de

Samstag, 13. August 2016

Manuel Schmid: Ein Stern, der seinen Namen trägt



Der neue Stern-Meißen-Sänger legt mit „Seelenparadies“ sein zweites Solo-Album vor. Es versammelt Klavierballaden, Demmlertexte und viel Gefühl.

Er kam nach dem großen Streit und er kam aus dem Nichts. Manuel Schmid meldete sich vor vier Jahren, als Stern-Chef Martin Schreier gerade auf der Suche nach einem neuen Sänger war. Schmid stammt aus Altenburg, er sang in kleinerem Rahmen und er sang immer auch Lieder von Stern Meißen. Schmid war damals Ende 20. Die Band, bei der er einsteigen wollte, war doppelt so alt.

Aber es klappte. Mit seiner warmen, bis in sehr hohe Lagen reichenden Stimme hat der gelernte Keyboarder und studierte Audio-Ingenieur sich inzwischen längst einen Platz in den Herzen der Stern-Fans erobert. Schmid singt Klassiker wie „Kampf um den Südpol“ und „Was bleibt“ auf eigene, aber unterdessen akzeptierte Art. Und eben die pflegt er auch auf „Seelenparadies“, seinem gerade erschienenen zweiten Solo-Album, das mit „Also was soll aus mir werden“ auch eine modernisierte und als Duett inszenierte Version eines Stern-Klassikers enthält.

Der Rest sind Schmid-Kompositionen, die der Freund von Melancholie und Romantik mit Unterstützung von Puhdys-Basser Peter Rasym, Ex-Stern-Keyboarder Marek Arnold und Dirk Zöllner eingespielt hat. Schmid pflegt dabei eine zarte Gangart, die immer harmonisch bleibt und nicht vor Klischees zurückschreckt.

In „Hüte deinen Traum“ sind die Augen groß und die Seelen fest verbunden, „Worte sind wie Bilder“ wird von A-Capella-Gesang begleitet, und das Stück „Seelenlieder“ ist als Hommage an den verstorbenen ehemaligen Stern-Sänger Reinhard Fißler ausgewiesen, der sich am Anfang noch einmal selbst per Telefon zu Wort meldet. Zusammen mit Dirk Zöllner singt Manuel Schmid dann Teil zwei der Ode. Und den Schlusspunkt setzt, wie als Handschlag mit der Vergangenheit, ein neuvertonter Text von Kurt Demmler.

Mittwoch, 10. August 2016

Heimatgeschichte: Das Flugzeug-KZ am Rande der Stadt


Zugewachsen, von einem Zaun umgeben, mit Warnschildern versehen. Ein Hundeübungsplatz ist hier, ansonsten nur Ruinen, überwachsen, überwuchert. Eine Szenerie wie in der "Zone" aus  Tarkowskis "Stalker". Dabei handelt es sich bei dem Platz in der Frohen Zukunft, der bis heute von Wachtürmen überragt wird, um historisch belasteten Boden: Hier saßen einst die Siebel-Flugzeugwerke. Deren Hauptgebäude war das gegenüberliegende Haus, in dem heute das Landesverwaltungsamt residiert.

In den Siebel-Werken mussten in den Jahren des 2. Weltkriegs Zwangsarbeiter für die deutsche Rüstungsproduktion schuften. Der Journalist Nico Wingert hat vor Jahren beschrieben, wie 550 Häftlinge täglich aus dem KZ "Birkhahn-Mötzlich", einer Außenstelle des KZ Buchenwald, einem nahegelegenen Kriegsgefangenenlager an der Osramstraße, einem Zwangsarbeiterlager in der heutigen Kleingartenanlage Freundschaft und dem Fremdarbeitslager in der Frohe Zukunft zu den Produktionsstätten marschieren mussten, die heute verborgen und vergessen hinter einer dichten Hecke direkt an der Ausfallstraße liegen.

Hier rüstete das Dritte Reich Görings Luftflotte aus. Die Häftlinge, so hat Wingert herausgefunden, waren vor allem mit der Fertigung von Tragflächen und der Montage von Sturzkampfflugzeugen und Bombern der Baureihen Ju 88 und Ju 188 beschäftigt. SS-Einheiten bewachten das Gelände, von dem heute selbst ältere Hallenser nicht mehr zu sagen wissen, was es einst war. Ein Siebel-Flieger hingegen hat es bis ins Stadtmuseum geschafft.

Nach dem verlorenen Krieg wurde der Betrieb enteignet, aus dem Außenlager am Goldberg wurde eine Gartenanlage und aus dem Produktionsgelände ein GST- und Polizei-Schießplatz. Nach dessen Schließung verwilderte das Gelände immer mehr und immer malerischer, der Hundeverein nutzt nur einen Teil der Fläche, auf dem Rest überwuchern wilde Ranken die Reste der einstigen Bebauung.

Spuren der unseligen Vergangenheit sind nur noch wenige zu finden. Verrosteter Stacheldraht hängt hier und da an bröckligen Betonpfeilern, Stahltore rosten vor sich hin, bewacht von Schildern, die abenteuerlustigen Kindern den Zutritt verbieten sollen. "Bis heute", schrieb Nico Wingert vor fast zehn Jahren im "Stern", "gibt es kein Hinweisschild und auch keine Gedenktafel: Das Vergessen des ehemaligen Außenlagers des KZ Buchenwald scheint total zu sein."

Ist es immer noch.

Dienstag, 2. August 2016

Sandow: Ein Film ohne Bilder


Sandow-Sänger Kai-Uwe Kohlschmidt kombiniert auf seinem neuen Album „Den Himmel malen“ Fiktion und Erinnerung, Musik und Vergangenheit.

Was sie taten, war in den Augen der sozialistischen Kulturbürokraten unerhört. Auf offener Bühne bemalt ein Mann nackte Frauen, eine Band spielt dazu apokalyptische Musik. Songs, die kaum als solche zu erkennen sind. Rock, der nicht nach DDR klingt, sondern nach New York, Tokio oder London.

Die Band hieß Sandow, der Maler Hans Scheuerecker. Keine gewöhnliche Band, auch wenn ihr größter Hit „Born in the GDR“ wie eine normale Rockhymne daherkam. Und kein Maler wie jeder andere, denn Scheuerecker, geboren in Thüringen, aber ansässig in Cottbus, hatte in der DDR über Jahre hinweg vergebens versucht, zum Kunststudium zugelassen zu werden.

Doch auch das war die DDR in ihren letzten Jahren: In Nischen unterhalb der staatlichen Anerkennung gelang es Künstlern, sich dem Konformitätsdruck der Zulassungskommissionen zu entziehen und zu tun, was sie tun wollten.

Der Preis dafür war, dass die Staatssicherheit nie weit weg gewesen ist. Scheuerecker fand nach dem Zusammenbruch 800 Seiten Akten über sich, zusammengetragen von 70 IM. 800 Seiten, die der 64-Jährige sich zu lesen weigerte. Stattdessen ließ Scheuerecker, 2011 mit dem Brandenburgischen Kunstpreis geehrt, das Sandow-Chef Kai-Uwe Kohlschmidt tun.

Den schüttelte zuerst der „Ekel“, wie er sagt. Dann aber faszinierte ihn der eigentümliche Stasi-Sound aus „Einfalt, Dummheit und armseliger Missgunst“. Eine Heerschar von Denunzianten umschwirrt einen jungen Bohemien, „rätseldeutet sein Tun“ (Kohlschmidt). Es geht nun nicht mehr darum, zu urteilen oder gar zu verurteilen. Sondern darum, aus dem Konvolut von Bürokratensprache, Hinterrückshetze und Plänen zur Zersetzung ein Hörspiel zu machen.

„Den Himmel malen“ hat Kohlschmidt den 79 Minuten langen und überaus aufwendig gestalteten Film ohne Bilder genannt, der fast vollständig auf einem Boot auf der Ostsee spielt - wo der größte Teil des ungewöhnlichen Werkes auch aufgenommen wurde.
„Produzieren im Raum“ nennt der Musiker und Theatermacher seine Herangehensweise. Sechs Rollen, sechs Sprecher, ein Boot, das wirklich fährt. „Die Story und ihre Figuren nehmen Besitz von uns“, beschreibt Wolfgang Wagner, der den Max Scharnegger spricht, in dem unschwer der echte Scheuerecker zu erkennen ist.

Es geht um einen schillernden Maler, um den Kreis seiner Bewunderer, um seine Liebhaberinnen und Jünger und um den dunklen Geist der Stasi, der die Beziehungen zwischen Freunden noch aus Jahrzehnten Abstand vergiften kann. Alles ist inspiriert von den Akten, hat aber mit der wahren Geschichte nichts zu tun. Hier sitzt der Stasi-Mann todkrank auf einer Insel und wartet darauf, den von ihm verehrten wie bespitzelten Maler ein letztes Mal missbrauchen zu können.

Scharnegger solle ihm den Himmel malen, fordert der Stasi-Offizier, der vom Überwacher zum Fan und vom Fan zum Mäzen geworden ist, dessen Ankäufen der Maler nach dem Aufbruch in die freie Kunstwelt alles verdankt.

Wo ist Schuld? Wo bleibt die Sühne? Hier endet die Geschichte nicht im langsamen Vergehen der Zeit, nicht im Verschwimmen der Erinnerung und dem Zuwachsen von Wunden. Sondern in einem reinigenden Abschied auf hoher See, bei dem die Opfer und der Täter im selben Tränenmeer schwimmen.

Gelöst ist nichts, denn es gibt keine Lösung.

Das Doppelalbum enthält eine DVD mit einem Film zum Making Of
und ist in einer Sonderedition mit einem limitierten Siebdruck von Hans Scheuerecker erhältlich.

www.kaiuwekohlschmidt.net
www.mangan25.de

Donnerstag, 28. Juli 2016

Fäuste-Abriss Halle: "Ich mach das platt, wir essen pünktlich."


Vor 13 Jahren wurde mit dem Abriss des "Fäuste"-Denkmals in Halle begonnen, das den einen als Teil des Stadtbild und Stück Geschichte, anderen aber als lästige Erinnerung an die DDR galt. 

Als die Stadtverwaltung plante, den ungeliebten Riebeckplatz zu einem modernen, schicken, ganz aus Beton gegossenen Monument des Aufschwungs Ost zu machen, fand sich ein Grund, das seit über 30 Jahren vor dem ehemaligen "Haus des Lehrer" stehen Denkmal zu schleifen. Der Versuch einer Leipziger Initiative, das 15 Meter hohe Betonmonster zurückbauen und andernorts wieder errichten, scheiterte. Angeblich ständen Urheberrechte der Überlassung, dem Abbau und der Neuerrichtung anderswo entgegen.

Der Abriss selbst war ein unspektakulärer Prozess für einen Bagger und einen Baggerfahrer. An einem sonnigen Donnerstagmorgen kurz nach sechs kam Marco Bauer, damals 33 Jahre alt, 76 Kilo vielleicht, 1,75 groß und von Beruf Baggerfahrer bei der Abbruchfirma Todte. "Bis Mittag", kündigte er an, "dann sind die Dinger Geschichte." Kein Zweifel in dem breiten Lächeln mitten im Arbeitergesicht. "Ich mach das platt, wir essen pünktlich."

Zuschauer sehen teils kritisch, teils wohlwollend zu. "Ruhig weg mit dem Quatsch", sagt Günther Schmuhl, "dann habe ich endlich eine bessere Aussicht." Die nämlich ist schon versaut gewesen, als der heute 69-Jährige vor 32 Jahren gegenüber einzog. "Da war das Ding nagelneu", erinnert sich Schmuhl, "und dann hat man sich so eingeguckt."

Man kannte es dann nicht anders all die Jahre. Da war der Platz mit dem Kreisverkehr am halleschen Bahnhof, das Hochhaus-Tor zur Neustadt und direkt davor das nur "die Fäuste" genannte "Monument der Arbeiterbewegung": Ein 15-Meter-Klotz aus 300 Tonnen Beton, aus dem sich vier geballte Hände zornig in den Himmel recken. 33 Jahre ließ das Monument, geliebt nur von den Stadttauben, keinen Zweifel an seiner Botschaft. Arbeiterfäuste, panzerhart!

All die Kämpfe um die Fäuste, sie sind an diesem Morgen geschlagen. Wellenförmig tauchte die Frage seit der Wende immer wieder auf. Soll er weg, der hässliche Klotz? Oder muss er stehenbleiben - einmalig wie er ist? Eine Diskussion, die unentschieden stand, bis die Gleise für eine neue Straßenbahnlinie näherrückten.

Nun endlich waren Argumente da, das Schandmal zu kippen: Wo der mächtige Monolith Günther Schmuhl die Sicht verdeckt, fährt nun die Bahn zum Bahnhof. Drogenhändler eröffneten ihre fliegenden Läden, Skateboarden proben hier, neugeschaffene Läden warten auf Wagemutige, die versuchen, den durchs Dämmerige des Halbtunnels hastenden Passanten irgendetwas zu verkaufen.

Ein Konzept, das den Stadtrat überzeugte, das sogar die sonst bei jedem Erkeranstrich eisenharten Denkmalschützer bewog, dem Abriss zuzustimmen. Nein, keine Protest-Demos an diesem Sommermorgen, als Marko Bauer seine Maschine anwirft. Keine Spruchbänder, keine Faust-Besetzung, wie sie der Alptraum der Stadtverwaltung gewesen sein mag. Spurlos verschwindet der Brocken. Später folgen ihm die beiden flankierenden Hochhäuser.

13 Jahre danach ist nicht einmal mehr Erinnerung übrig. Nur noch ein flacher, glatter Platz mit ein paar schütteren Bäumchen, der im Sommer in der Sonne glüht. Und in der Dämmerung von Drogenhändlern beherrscht wird.




Mittwoch, 6. Juli 2016

Die vergessene DDR: Aus einem Land vor unserer Zeit


Als die Mauer fiel, waren sie ein Jahr alt: Die letzten Kinder der DDR haben keine eigenen Erinnerungen mehr an ihr Vaterland, aber genaue Vorstellungen, wie es auf jeden Fall vielleicht gewesen sein könnte. Alles lange her, alles längst Geschichte. Was Jugendliche über die DDR wissen oder zu wissen glauben, hängt davon ab, was Eltern und Großeltern erzählen. Wenig ist es aber in jedem Fall.

Sie sind damals alle ein bisschen zu früh gekommen. Und ein wenig zu spät dran gewesen. "Als die Mauer fiel", erzählt Johannes, "sind mein Vater und meine Schwestern gleich am nächsten Tag in den Westen gefahren, um mal zu gucken." Er selber, am 9. November 1989 gerade ein Jahr alt, blieb mit seiner Mutter zurück. Ohne Trauer, lacht er. "Ich hätte ja sowieso nichts mitgekriegt."


Zu spät, um die DDR noch kennen lernen zu können. Zu früh, um im neuen Deutschland geboren zu sein. Wer heute 25 oder 26 ist, kommt aus einem Land vor unserer Zeit. Keiner hat eigene Erinnerungen an den untergegangenen Arbeiter- und Bauernstaat. Doch alle haben genaue Vorstellungen von dem, was damals gewesen ist.

Jeder Montagmorgen zum Beispiel begann mit einem Fahnenappell. Daniel spricht das Wort aus, als habe er sich den Magen daran verdorben. "Wer irgendwie daneben lag", glaubt er, "wurde da vor versammelter Schule runtergemacht." Schließlich habe niemand aus der Reihe tanzen sollen, und "alle sollten glauben, was der Staat wollte". Da nicken die Köpfe einhellig. "Die Leute sind ja so erzogen worden", sagt Georg, "dass sie vieles akzeptiert haben, obwohl es ihnen gegen den Strich ging."

Was ihren Eltern da geschah, ist den Jugendlichen immerhin noch vorstellbar. Nicht, dass sie sich wirklich damit beschäftigt habe, gibt Mandy zu. "Nur mit Geschichten wie Stasi und so, die spannend sind." Aber wenn die DDR ein Gefängnis gewesen sei, dann eines, in dem sich die Insassen doch einrichten konnten, irgendwie, schließt Alexander aus den Erzählungen seiner Eltern. "Die Freiheit war nicht da, aber deshalb haben die nicht alle jeden Tag nur gelitten."

Ganz im Gegenteil, glaubt Johannes. "Weil es so wenig gab, haben die Menschen mehr zusammengehalten." In den DDR-Geschichten, die in den Familien erzählt werden, ist so auch seltener von der Partei und häufiger von den Partys die Rede. Und obwohl die gelegentlichen Ostalgie-Wellen durchweg mit Abscheu verfolgt werden, lebt der triste Alltag zwischen Schlangestehen und Trabifahren am liebsten als Abenteuer wieder auf: Wie die Eltern nach Schallplatten jagten, "ohne zu wissen, was überhaupt drauf war". Martin lacht. Wie sie klitzekleine Auslandsabstecher als Weltreisen nahmen. Wie sie zusammen nicht einverstanden waren, "aber eben auch nichts machen konnten". Auch Anja hat dieses DDR-Bild im Kopf: Mehr Wärme, weniger Ellenbogen. "Jeder hat einen Job bekommen", sagt Daniel, "wenn man nichts Tolles wollte, musste man sich über sein Leben gar keinen Kopf machen."

Das klingt schrecklich. Und sehr bequem. "Die Ansprüche waren geringer", meint Alexander, "wo heute eine Villa her muss, reichte damals schon eine Jeans." Der Mensch als Passagier im großen Lebensbus, mit einem treusorgenden Staat am Steuer. "Mir würde da", sagt Sebastian, "die Freiheit fehlen." Andererseits, bemerkt Josephine, "kommt man heute nach dem Abi aus der Schule und keiner nimmt einen bei der Hand."

Dafür biete die Welt ungleich mehr Chancen, argumentiert Philipp. "Man kann alles machen, keiner redet einem rein." Vorausgesetzt, man hat die Kraft, nach den unbegrenzten Möglichkeiten zu greifen, schränkt Georg ein: "Wer das nicht drauf hat, fällt auf die Nase."

Aber nein, sie könnten sich nicht vorstellen, anders zu leben. "Der ganze Gruppenzwang damals, das passt nicht zu uns", vermutet Georg. Alle seien heute viel individualistischer, viel egoistischer auch. "Damals konnte keiner als Punk rumlaufen, weil er halt in der FDJ war", stellt er sich vor.

Dass einer beides zugleich war? Blauhemd und Irokesenschnitt? Undenkbar. Er könne doch verstehen, dass es Gleichaltrigen in der DDR auch Spaß gemacht habe, "als Pioniere rumzurennen, wenn ihre Freunde auch Pioniere waren", meint Johannes. "Aber wir sind gewohnt, dass wir wählen können, zu welcher Szene wir gehören."

Wie sie da sitzen, in Kapuzenjacke und Baggy-Hosen, bauchfreiem T-Shirt und Karohemd, ist das zu glauben. Die heute jung sind, sind keine Kinder mehr und doch noch keine Erwachsenen. Sie sind so selbstbewusst, weltgewandt und eigensinnig, wie sie im Schatten der Mauer wohl nie geworden wären. Doch Kinderland ist abgebrannt, und auch der Rauch hat sich verzogen: Der letzte DDR-Staatsratsvorsitzende wird für die finale Generation seiner Untertanen auf immer Erich Honecker heißen, nicht Egon Krenz. Auch der Ostrock ist zusammengeschrumpelt zu einem Triumvirat aus Puhdys, City und Karat. Silly, nein, die sind von später. Die Frage, ob zu Hause immer noch Ost- oder eher doch West-Zigarettensorten geraucht würden, beantwortet ein kollektives Staunen. Dann fragt es von ganz hinten ganz leise: "Ähm, wie hießen denn die Ostmarken?"

Sonntag, 3. Juli 2016

Der Iran schützt seine Daten

Die EU macht es vor, der Iran macht es nach. Nach dem Platzen der Safe-Harbour-Regelungen zwischen EU und USA droht amerikanischen Internetfirmen künftig eine Zwangsspeicherung aller Kundendaten in Europa - aus Datenschutzgründen. Eine ähnliche Begründung bringt jetzt auch die Regierung des Iran vor, um Anbieter von Kommunikationsapps zu zwingen, die Daten von iranischen Nutzern nur noch im Iran zu speichern.

Ein Jahr sollen ausländische Anbieter von Messaging-Apps Zeit bekommen, um in der Islamischen Republik eine Infrastruktur aufzubauen, die es ihnen erlaubt, Daten von und über iranische Staatsbürger auf Server innerhalb des Iran zu speichern.

Gegen eine Speicherung im Ausland sprächen Datenschutz- und Sicherheitsbedenken, behauptet die Regierung in Teheran. Alle Dienste, die dem nicht Folge leisten, könnten nicht weiter im Land arbeiten, erläuterte der sogenannte Oberste Rat für den Cyberspace. In der Bevölkerung des Landes, das auf Platz 14 der Staaten mit den meisten Handyanschlüssen liegt, sind Whatsapp und Telegram ebenso wie Twitter, Facebook und andere Netzwerke äußerst beliebt, wenn sie auch gelegentlich von der Regierung blockiert werden.

Die neuen Maßnahmen rufen Befürchtungen hervor, der Staat wolle sich auf diese Weise einen Zugriff auf die Netzwerke sichern. Die Pflicht zur inländischen Datenspeicherung könnte dann auch genutzt werden, um unliebsame Einträge zu entfernen und Nutzer unter Druck zu setzen. So ist das wohl geplant.

Der Iran macht es vor. Deutschland macht es nach.

Sonntag, 19. Juni 2016

Die ausgefallene Rückkehr der Eiskerze


Früher war Harald Sch. umtriebig und erfolgreich - Jetzt sitzt er zu Hause und will nicht aufgeben


Stapeln hat er müssen. Stapeln! Vier Lagen hoch die Wagen und ganz eng nebeneinander. "Es kam dermaßen viel Zeug rein", sagt Harald Sch., "ich bin kaum noch hinterhergekommen." Schrott hatte goldenen Boden. 30 000 Mark Umsatz sind die Regel. Nebenher hat der Mann aus Schortewitz drei Bagger laufen, "und meine Raupen habe ich mit dem eigenen Tieflader umgesetzt".


Sch.s Augen, die normalerweise matt schimmern wie feuchtes Laub, leuchten auf. Tiefstrahler in die Vergangenheit. 2 000 komplette Räder hatte er abgeschraubt und gelagert. Trabi-Motorblöcke zu Dutzenden gebunkert, ganze LPG-Lager ausgeräumt und nie still gesessen. Tausende alte Waschmaschinen lieferte ein großes Versandhaus ins Haus. "Die musste man gar nicht verschrotten, die konnte man verkaufen."


So war das. Harald Sch., der in seinem Leben schon Mechaniker war und Bauunternehmer, Schrotthändler und Eisfabrikant, und heute nicht einmal mehr Sozialhilfe beziehen kann, hat immer die Chancen gesehen. Schon in der DDR, als er in der Magnetbandfabrik Wolfen arbeitete und sich jeden Morgen wunderte, "dass wir erstmal die Leute von der Nachtschicht wecken mussten". Und dann die Arbeit! "Nur Gepfusche und Geflicke, das konnte nicht gut gehen."


Unfreiwilliger Abschied


Es kommt der Tag, an dem Sch.s Ärger explodiert: "Ein paar Wahrheiten ausgesprochen, und plötzlich bist du Luft", erinnert er sich an seinen nicht ganz freiwilligen Abschied aus der Produktion.
Die DDR-Volkswirtschaft aber wartete nur auf einen wie ihn. Zu Flicken und Pfuschen gibt es allenthalben im Arbeiter- und Bauernstaat, wenn man nur die Chuzpe hat, sich in die Grauzone der Tausch- und Beschaffergesellschaft zu begeben.


Hier, unterhalb der Sichthöhe der Staatsmacht, wo die freischaffenden Friemler frickeln und fummeln, funktioniert die Wirtschaft nach streng marktwirtschaftlichen Prinzipien. Wer etwas hat, das andere brauchen, darf den Preis bestimmen. "Und ich hatte Barkas-Getriebe", erzählt Harald Sch.


Für einen Moment sitzt er nicht mehr auf der Kuschelcouch im halbdunklen Zimmer, knetet nicht mehr Finger und Lebenslauf. Schöne ist dort, wo es schön ist: in den Tagen, als es "geht nicht" nicht gab und die Welt sich seiner Talente bediente.


Hinten im Schuppen schraubt der Autodidakt damals begehrte Ersatzteile aus Schrott zusammen. So eifrig, dass kaum Zeit bleibt für Frau und die beiden Kinder. "Und meine Produkte waren tipptopp."


Eine Tatsache, die sich schnell herumspricht. Von überallher kommen die Fuhrparkchefs, um alte Getriebe unter Dreingabe des einen oder anderen Scheins gegen renovierte einzutauschen. Zum Kundenkreis des Schwarzarbeiters gehört das Defa-Spielfilmstudio ebenso wie Innenministerium und Stasi. Die gilt ihm als lästiger Kunde: "Hatten nichts zu tauschen."



Es reicht auch so. Sch. bezahlt sein Haus nebst 15 000 Quadratmetern Land in bar. Er gibt 7 000 Mark für einen der ersten DDR-Farbfernseher aus. Und kauft für 36 000 Mark einen Wartburg, mit dem er auf Wolke sieben durchs Dorf schwebt.


Sch. schnuppert den Boom

Dann kommt die Wende. Harald Sch. ist 37, und er schnuppert den Boom. "Dass Ersatzteile nicht mehr laufen, war mir klar." Er macht in Autoverwertung und Maschinenverleih, der Fuhrpark besteht aus Russen-Raupen und polnischen Baggern, ein alter Sowjet-Lkw zieht den Anhänger. 


Es ist wie früher: Gute Bekannte vermitteln Aufträge, Freunde schicken Freunde. Beziehungen sind alles. Der Guerilla-Unternehmer, mit buschigen Koteletten und David-Crosby-Frisur ein wandelndes Bekenntnis zu den 70ern, hat jetzt Angestellte, eine Buchhaltung und einen Investitionsplan. "Ich dachte, jetzt schlägt die Stunde für Leute, die was aufbauen wollen."

Eine Eisfabrik zum Beispiel. In Harald Sch.s Welt ist das denkbar einfach: Man kauft Maschinen, lässt sich Rezepte schicken und fummelt herum. "Geht nicht" gibt's nicht. "Schon die erste Mischung hat toll geschmeckt." Drei Wochen später sind Etiketten gedruckt, Becher abgefüllt und Kioske und Läden im Umland beliefert.


Die Nachfrage ist groß. "Ich dachte, Mensch, das ernährt die Familie." Sch. lässt sich bei der Handwerkskammer eintragen. Und träumt in kurzen Nächten häufig vom Comeback der "Eiskerze". Tagsüber interessieren sich plötzlich Umweltbehörden und Ordnungsämter für sein Schaffen. Sein Schrottplatz liegt, erfährt der Unternehmer, in einer Wasserschutzzone. Das Waschhaus, in dem die Eismaschine orgelt, genügt nicht der Hygiene-Norm.


Harald Sch. fummelt. Er fliest. Er friemelt und gibt nicht auf. Besucht Banken, bettelt um Kredite, doch "Eishersteller gibt es genug, haben sie gesagt". Die Behörden fordern Analysen, Anträge, bauliche Veränderungen, die Banken Konzepte und Ertragsrechnungen.


Eispionier vor dem Karren

Der Pionier, als den sich Harald Sch. sieht, zieht den Karren durch eine komplizierter gewordene Welt, in der die Methoden seiner Gründerzeit nicht mehr verfangen. Er investiert, was er hat. Doch es reicht nicht. Papier ist alles, Beziehungen sind nichts. Niemand mag mehr tauschen, alle wollen Geld.


"Ich habe einfach an die Eisidee geglaubt", spricht Sch. mit schmalen Lippen, "und nicht an die Verhinderungsbürokratie gedacht." Nicht fassbar ist seinem Eigensinn, dass niemand ihm Geld geben wird für die Rückkehr der Eiskerze. Selbst als er Grund und Boden als Sicherheit anbietet, winken die Banken ab. "Land in Schortewitz wolle doch niemand".


Harald Sch. hat eine ganze Weile weitergeträumt. Dann hat er die Eismaschine eingemottet, das Waschaus abgeschlossen und beim Sozialamt Unterstützung beantragt. Die Behörde hat abgelehnt: Erst müsse er sein Land verkaufen.


Das will niemand haben, und so muss gerechnet werden bei Sch.s. Stütze von der Frau, Kindergeld, eine kleine Rente - viel bleibt nicht im Monat. Doch noch schlimmer kommt Harald Sch. die große Langeweile an, "wo ich doch immer geschuftet habe". Jetzt hat er noch mal an den Verein "Alt hilft Jung" geschrieben, "na ja, ohne Erwartungen".


Meist sitzt er aber bloß vor dem Fernseher, der in der DDR mal der modernste war, und überlegt, ob er nicht vielleicht selbst einen Verein gründen sollte. Einen, der bei Supermärkten Lebensmittel für sozial Schwache sammelt etwa - "nur um irgendwas zu tun".


Arbeit? Wenn er jünger wäre, das Haus nicht hätte, hebt er die Hände. Aber so? Hier ist doch nichts. Schon gar nicht für einen, der die Schlüssel zum Glück im Waschhaus liegen hat: den Pasteurisierer, die Kübel, die Kühltruhen . . . "Es könnte sofort losgehen", schleichen die Worte tonlos aus der Sofatiefe, als würde nie wieder etwas losgehen. 


Drei Orte weiter, weiß Harald Sch., macht auch einer in Eis. "Der hat ein Haus in Miami."

Mittwoch, 15. Juni 2016

Die Daten-Deppen des Kontinents: Warum mobiles Internet in Deutschland teurer ist als sonst irgendwo


Die Deutschen sind beim Surfen per Smartphone die Deppen des Kontinents. Das mobile Netz hierzulande ist langsam, die Anbindung ist schlecht - aber dafür lassen sich die Anbieter für kleines Datenvolumen ganz groß bezahlen.

Letztes Jahr ist es passiert. Deutschland fiel erstmals hinter Finnland zurück, das 82-Millionen-Volk unterlag den gerade mal 5,5 Millionen Finnen: Die hatten 2015 zum ersten Mal mehr Datenvolumen beim mobilen Surfen verbraucht als Deutschland. 627 000 Terabyte benutzten die Finnen per Smartphone. Nur 591 000 die Deutschen. Ein Klassenunterschied.

Zumal auch die Gesamtbilanz düster für Deutschland aussieht. 11,5 Gigabyte Datenvolumen verbrauchten die Deutschen pro Person im Durchschnitt über das gute alte Festnetz-Internet (DSL, Kabel). Die Finnen kamen auf 9,7 Gigabyte - per Mobilgerät über Mobilfunknetze.

Zwei Zeitalter, die hier aufeinandertreffen. So oft in Deutschland auch davon die Rede ist, die Gesellschaft fit machen zu wollen für die Mobil-Ära, so langsam kommt das Vorhaben voran. Liegt Europas führende Industrienation bei den Anschlüssen ans mobile Netz mit Platz 18 gerade noch unter den Top-20 der Welt - knapp hinter Marokko, Bulgarien und Russland - bummelt es bei den Anschlusskosten weit hinter den Weltbesten.

Wie das finnische Beratungsunternehmen Rewheel herausgefunden hat, kostet ein Gigabyte Netzzugang in Europa durchschnittlich 2,77 Euro - mit geradezu gigantischen Abweichungen nach oben und unten. Bei den finnischen Providern TeliaSonera und Elisa etwa erhalten Kunden für 35 Euro mindestens 50 Gigabyte Datenvolumen, in Estland bietet Elisa dafür auch noch 40 Gigabyte im Monat. Mobilfunknutzer in Frankreich, Dänemark, Lettland, Schweden und Großbritannien haben nach den Untersuchungen von Rewheel zumindest die reelle Chance, für 35 Euro etwa 20 GB Datenvolumen zu bekommen. In Österreich sind es 13 Gigabyte, in Litauen und Polen können wenigstens noch zehn Gigabyte genutzt werden.

Deutschland fällt hier aus der Reihe. Günstige Angebote werben hier mit Kosten von sieben bis elf Euro für Verträge über ein einziges Gigabyte Datenverkehr im Monat. Preise, die rund 40 mal höher liegen als die in Finnland, 20 Mal teurer sind als in Frankreich und zehnfach mehr kosten als in den Nachbarstaaten Österreich und Polen.

Deutschland ist damit in Europa Außenseiter, deutsche Mobilkunden sind die Deppen des Kontinents. Nur in den Niederlanden, Belgien, Ungarn und Griechenland wird noch weniger mobil gesurft als in Deutschland, in dem jeder Bürger mit durchschnittlich 0,59 Gigabyte Volumen auskommt. Zum Vergleich: Jeder US-Amerikaner nutzt 2,56 Gigabyte, jeder Däne drei und jeder Finne nahezu zehn.

Selbst im Vergleich zum EU-Durchschnitt sind mobile Daten in Deutschland fünfmal teurer. Und sie werden entsprechend weniger genutzt. Ein Teufelskreis, zu dem politische Entscheidungen vor mehr als 15 Jahren den Grundstein legten. Damals versteigerte die Bundesregierung die UMTS-Lizenzen an Mobilanbieter, die für den Zugang zum schnellsten Netz zweistellige Milliardenbeträge bezahlten. Die gewaltigen Kosten belasteten den Ausbau des Netzes und verhinderten, dass mobile Zugänge preisgünstig angeboten wurden.

Dabei ist es bis heute geblieben - und ändern wird auch das Kartellamt daran nichts. Trotz der auffälligen Preisunterschiede, heißt es bei dessen Pressesprecher Kay Weidner, „haben wir derzeit keine Untersuchungsergebnisse zu der kartellrechtlichen Bewertung der Mobilfunkpreise in Deutschland“. Von auffälligen Preisunterschieden zwischen nationalen Märkten könne „nicht unmittelbar auf wettbewerbliche Probleme in einem bestimmten Mitgliedsstaat geschlossen werden“, ist das Kartellamt überzeugt.

Die Wettbewerbsbehörde der EU-Kommission antwortete auf eine Nachfrage zu den auffälligen Preisunterschieden für mobile Datenraten auf dem gemeinsamen europäischen Markt übrigens gar nicht.

Der Datenvergleich von Rewheel steht hier

Dienstag, 7. Juni 2016

Heimatgeschichte: Ich war doch nur der Butzemann


Über seinen Schlips stampfen Elefanten. Dicke, grüne Elefanten inmitten einer weinroten Seidenwiese. Ein Löffel Salat schwebe an den grünen Elefanten vorüber, hinauf zum Mund. Dirk Bettels isst gesund, er kaut mit viel Konzentration. Genauso trinkt er auch: gemessen, das kleine Glas in festem Griff. Nichts, so scheint es, wird den schweren Mann je aus der Ruhe bringen können. Richtige Angst hat Dirk Bettels zuletzt vor ungefähr fünf Jahren gehabt. "Als mir klar wurde, dass wir ganz allein sind." Da war es aber schon zu spät. Das große Rad rollte, und auch Dirk Bettels war "gefangen, weil ich ja nun mal Ja gesagt hatte".

Zehn Monate später hätten ihn seine Bürger beinahe aus der Stadt gejagt: Millionen habe er verschwendet, bereichern habe er sich wollen. Dabei hatte das Ost-Abenteuer des Hildesheimers so vielversprechend begonnen. "Die Mauer fiel", erzählt Dirk Bettels, "und wir von der Jungen Union haben gesagt: Wir schauen uns jetzt mal um, da in der DDR". Kaum angekommen in Halle, entdeckten die jungen Christdemokraten Handlungsbedarf. "Nichts gegen die Leute von der CDU-Ost", sinniert Dirk Bettels, "aber die waren total unfähig".

Hochmotiviert sprangen die Hildesheimer in die Bresche. "Übernachtet haben wir bei OB Renger zu Hause, am Tag ging"s auf Wahlkampftour." "Unheimlich Spaß" habe das gemacht. Dirk Bettels, damals 25 Jahre alt und gerade mitten im Betriebswirtschaftsstudium, entschließt sich, für länger zu bleiben: "Man konnte den Leuten hier so unheimlich viel geben."

Es war das Frühjahr 1990 in der DDR. Die Zeit des Aufbruchs. Als Dirk Bettels zum ersten Mal ins Rathaus kommt, funktionierten die "roten Telefone" des DDR-Ernstfallnetzes noch. Bier hatte, schüttelt es ihn heute noch, eklig schmutzige Kronkorken. Wasser kam als braune Brühe aus dem Hahn. "Eine warme Dusche gab es bloß früh um vier, nicht wahr." Hintendran hängt Dirk Bettels immer ein vergewisserndes "nicht wahr".

Nicht wahr. So war das. Was für eine Zeit. Jeder konnte alles sein. Musste manchmal sogar. "Irgendwer musste die Koalitionsvereinbarung schreiben", sagt Dirk Bettels. Niemand wusste, wie das geht. Also setzt er sich hin. Klare Sache. "Als politisch interessierter Mensch hatte man ja mal gehört, was da reingehört."

Dirk Bettels Aufstieg ist rasant. Oberbürgermeister Peter Renger macht den Tatmenschen zu seiner rechten Hand: Dirk, empfohlen durch eine lange Karriere in der Schülerunion, wird zum Multifunktionär. Chef der Kommunal-Treuhand, Gesellschafter der städtischen Dienstleistungsgesellschaft, Aufsichtsrat der Hall-Bau GmbH und Entflechter des örtlichen Handels - jung und dynamisch spannt sich das Arbeitspferd vor alle Karren.

Es sei, klagt er heute, ja keine Hilfe gekommen. Was er selbst nicht ziehen kann, zurrt Dirk Bettels also Verwandten und Bekannten auf. Sein Onkel wird eingeflogen; Freunde aus der Jungen Union helfen aus, und Anwalt Burkhardt Suden berät nun nicht mehr nur Familie Dirk Bettels, sondern gleich auch noch Sachsen-Anhalts größte Stadt.

 Eine "Seilschaft" würde Dirk Bettels das allerdings nicht nennen. Eher einen "Fehler". Aber, will er sich richtig verstanden wissen, "in einer fremden Stadt - wen bitten Sie da um Hilfe?" Im Rathaus nur der "DDR-Trott". Die Menschen grau, verstört und renitent. Bei den Ostdeutschen, teilte er der "Hildesheimer Zeitung" seinerzeit mit, "mische sich eine Portion Faulheit mit einem Quäntchen Angst und 40 Jahren verordneter Lethargie".

Wie eine Schafherde, der man den Hirten weggenommen hat. "Immer auf der Suche nach dem Fähnleinführer". "Und es musste doch was passieren", lässt er noch einmal das Zugpferd von damals aus dem Stall. Ein ungeduldiges Tier, das steigen will. "Wir waren ja im Grunde blöde."

Dass das mit der deutschen Einheit funktioniert "wie ein Besuch bei der bezaubernden Jeanny, wups, und schon sind wir im Westen", habe er nie geglaubt. Aber einen Versuch war es wert. "Man muss ja auch mein Alter betrachten, damals", probiert Dirk Bettels eine "emotionslose Analyse". Ein 25-jähriger Kommunalpimpf, dem eine "Radikalkur" vorschwebte - "ja, klar, das ging über die Vorstellungskraft eines Hallensers zu der Zeit".

Und ein Hallenser zu der Zeit ging über die seine. Dirk Bettels, angetreten, "etwas zu bewegen", trainierte die falsche Mannschaft. "Sobald man nicht präsent war", erläutert er, "haben die ja gemacht, was sie wollten." Was klappen sollte, musste er selbst in die Hand nehmen. Die Investorenwerbung. Die Zukunft der Wohnungsunternehmen. Und die "Hauptstadt-Halle"-Aktion.

Als sei das alles gestern gewesen, hat Dirk Bettels Daten und Fakten parat. Kein Blick zurück im Zorn. War schon eine tolle Zeit, nicht wahr. "Wo im Westen fünf Tage diskutiert wurde, handelten wir nach zehn Minuten." Mit jeder Entscheidung steigt die Zahl der Kritiker. Nach jedem Alleingang versammeln sich mehr und mächtigere Gegner.

Das Ende des Kanzleichefs naht. "Wo man auftrat, hinterließ man verbrannte Erde", sinniert der Bauunternehmersohn. Der kleine Zirkel um Dirk Bettels und OB Renger, der die Stadt Mitte 1990 quasi im Alleingang regiert, hat sich übernommen. Zu viele Pläne, zu viele Projekte. Zu viel "alter Trott". Zu wenig Zeit. Und viel zu viele Fehler.

Aus den städtischen Wohnungsgesellschaften über Nacht eine einzige machen zu wollen, hält Dirk Bettels selbst für den größten. "In einer westdeutschen Kommune wäre das nicht möglich gewesen", gesteht er. Aber war Halle etwa eine westdeutsche Kommune? Eine rein rhetorische Frage. Er, Dirk Bettels, damals mit "lächerlichen 1 800 Mark Monatsgehalt", sei schließlich auch verunsichert gewesen. "Keiner konnte einem sagen, was nach der Einheit wird."

Und im Rathaus klingelten sie Sturm, weil der OB Windeln und Babynahrung besorgen sollte. Dirk Bettels hat nie begriffen, mit wem er es zu tun hatte in Halle. Warum packten die nicht einfach an? Warum meckerten die nur? Die Aufregung um die Gründung der Halleschen Wohnungsbau Aktiengesellschaft könne er bis heute nicht nachvollziehen.

Natürlich hätten die beteiligten Anwälte mit 1,5 Millionen Mark "einen gewaltigen Betrag" kassiert. Nur sei das rechtsstaatlich völlig in Ordnung gewesen. Was gespart worden wäre, Dirk Bettels blickt trotzig ins Wasserglas, hat keiner gefragt. "Nur ein Vorstand, ein Mahnwesen und eine Gewerberaumlenkung." Raum für Erklärungen aber war nicht mehr. "Hysterie" (Dirk Bettels) regierte Halle. "Alles wurde mir angehängt."

Das Charlottenviertel habe er gekauft, sein Vater sei im Begriff, die Hall-Bau zu übernehmen, und er wolle sich billig mit Immobilien eindecken. Halle hieß jetzt "Bettelshausen". Pah! Das gelassene Gesicht bekommt kleine rote Flecke. Dirk Bettels würgt noch immer an der Enttäuschung.

"Dankbar wurde jeder Blödsinn aufgesogen." Um ihn selber sei es dabei gar nicht gegangen, ist der Ex-Kanzleichef sicher. Es ging um mehr - und das ist ihm wohl auch ein beruhigendes Gefühl. "Ich war nur der Butzemann, mit dem die CDU Renger aushebelte, um freie Bahn für eine Hauptstadt Magdeburg zu bekommen."

In der letzten Januarwoche 1991 wirft Dirk Bettels hin. Keiner klopft ihm auf die Schulter, obwohl er "für so viele was getan" hat. Das hat ihn ein bisschen gewurmt. Undank ist der Welten Lohn.

In der Jungen Union verliert Dirk Bettels alle Ämter. Der Staatsanwalt ermittelt. Ergebnislos. Halles Stadtparlament beruft einen Untersuchungsausschuß ein. Er bleibt ohne Abschlussbericht. Dirk Bettels wird Unternehmer in Hannover. Später hat er geheiratet. Später ist er dann auch noch mal in Halle gewesen. Auf der Durchreise nach Leipzig einfach ausgestiegen und die Ulrichstraße langgelaufen. Da tue sich ganz schön was, sagte er.

Dirk Bettels ist heute Honorarkonsul der Slowakei für Sachsen-Anhalt




Montag, 30. Mai 2016

Travis: Ein feines Lächeln zum Trost



Fran Healy trägt jetzt Bart, das ist der Unterschied zu früher. Und vielleicht, dass es dem britischen Quartett Travis im 20. Jahr ihres Bestehens gelungen ist, aus dem kleinen kreativen Tal der letzten zehn Jahre herauszufinden. Und mit "Everything at once" wieder ein Album zu machen, das einen Ohrwurm an den nächsten fädelt, wohligen Gesang in wunderschöne Melodien packt, ein bisschen Depression mit dem Hörer teilt und am Ende doch immer ein feines Lächeln zum Trost bereithält.

Für eine Band, die seinerzeit ein bisschen spät zur großen Britpop-Party mit Blur und Oasis kam und dann auch noch leise Lieder wie "Why Does It Always Rain on Me" im Gepäck hatte, ist das Überleben bis heute allein nicht schlecht. Healy und seine drei Dauerbegleiter aber gewinnen ihrem patentierten Travis-Sound im achten Anlauf sogar noch einmal neue Seiten ab. "Radio Song" stampft ein bisschen mehr als üblich,"Animals" eröffnet mit Streichern und tänzelt dann durch eine samtige Kuschelmelodie, ehe der folgende Titelsong als eine Art Rap auf elektronischem Gedüdel eröffnet, bis er sich in Breitwandgitarren auflöst.

Alles auf einmal, wie der Titel schon verrät. Vor allem aber klassische Travis-Kost wie "3 Miles High", die dort weitermacht, wo "Driftwood" Ende der 90er Jahre aufhörten. Hymnisch, elegisch, Musik zum Träumen und ziellos in die Landschaft schauen. 


"Öffne alle Fenster", flüstersingt Fran Healy hier zu akustischen Gitarren, "schau in die Zukunft und auf alles bis hierher". Ein Philosoph, immer noch, der in "Idlewild" dann auch noch zusammen mit Josephine Oniyama den schönsten Sommerkrimi des Jahres singt.

Zur Band

Sonntag, 29. Mai 2016

Eissporthalle: Halles neuer Abenteuerspielplatz


Die Zäune sind niedergetreten, die Absperrungen von Schrottsammlern umgefahren. Auch ein Wachdienst ist nicht in Sicht am ersten Wochenende nach dem letzten Angriff der Bagger auf die ehemalige Eissporthalle am Rande der Peißnitz. Die Trümmerfläche aus hochaufragendem Schrott, Betonteilen und Resten der früheren Bebauung ist zum Abenteuerspielplatz geworden, auf dem sich bei strahlendem Sonnenschein Hobbyfotografen, neugierige Jugendliche und Kinder tummeln.

Eine Attraktion der anderen Art, verlockend, weil gefährlich. Aber offenbar keineswegs verboten: An den Resten der Zäune, die das Areal seit Wochen umgeben, gibt es nicht einmal Schilder, das Betreten der Baustelle zumindest symbolisch untersagen.



Donnerstag, 26. Mai 2016

Eissporthalle: Der letzte Atemzug eines Toten



Wie ein riesiger Dinosaurier greift der Bagger nach den Metallsäulen. Es knirscht, es kracht. Der Bagger fährt zurück, wieder vor, er zottelt am Dach, drückt gegen die Verstrebungen. Es dauert Minuten, denn die Reste dessen, was einmal Halles Eissporthalle war, wehren sich nach Kräften gegen den Angriff der Abrisskolonne. Doch zwei Außenseiten der 1968 errichteten Halle sind schon weg, gegen eine dritte stürmt das Abrisskommando an diesem trüben Mittwochabend gerade an.

Es staubt und stinkt nach dem Taubendreck von Jahrzehnten, als die Wand fällt. Der letzte Akt einer langen Agonie, die eigentlich schon begann, als die Baupolizei die seit der Wende aufgetaute Halle auch für Chemiepokal, Hallenfußball und Konzerte sperrte. was eben noch Mitteldeutschlands etablierteste Veranstaltungsarena war, stand tot in der Landschaft herum. Statt Rammstein, Jethro Tull und Brian May traten nur nur Schrottdiebe auf. Das einzige Interesse der Stadt war es, das ehemals als offene Eisfläche gebaute Gebäude loszuwerden.

Es waren dann zwei ehemalige Eishockeyspieler, die dem Eissport in Halle wieder Leben einhauchten. Nicht mehr ganz so wie früher, als Dynamo Berlin hier eine Siegesserie im Europapokal hingelegt hatte. Aber was mit ein paar Alt-Internationalen anfing, die noch einmal ihre stockigen Dresse überzogen, endete nach ein paar Pleiten und Vereinsneugründungen schließlich mit den Saale Bulls, die sich im Mittelbau der deutschen Eishockey-Ligen etablierten.

Nicht erst als im Sommer 2013 die große Flut kam, knirschte es hinter den Kulissen. Die Kosten für den Unterhalt der Eissporthalle ließen den Eigentümer Stadt und die Pächter Busch und Werkling immer wieder aufeinanderknallen. Über abenteuerliche Rechtskonstruktionen wurde versucht, den Clinch um Nebenkosten und Zuschüsse dauerhaft beizulegen. Vergeblich.

Das Hochwasser brachte nun die Chance für einen Neuanfang ohne vertragliche Altlasten. Dazu wurde die Halle zu einem "wirtschaftlichen Totalschaden" - wirtschaftlich, weil das Gebäude von Näherem betrachtet auch für Gutachter nicht wie ein Totalschaden aussah. Aber es lohnt eben nicht, ein altes Auto zu reparieren, wenn man für - so die beiden Pächter - ein zehnmal mehr Geld auch ein neues bekommen kann.

Zumindest nicht, wenn das Geld kein eigenes ist. Und im Falle der Eissporthalle sprudelten die Fluthilfequellen. Selbst das Angebot eines Klettervereins, die Halle zu übernehmen und trocken als Kletterhalle zu betreiben, musste abgelehnt werden: Bedingung für eine Übernahme von Abriss- und Neubaukosten aus dem Nottopf für Hochwasserschäden ist es, dass dort, wo bisher eine Halle war, danach keine mehr steht.

Was bleibt, sind die nostalgischen Erinnerungen derer, die hier früher Eislaufen gelernt haben. Die zum unvermeidlichen "Weißes Boot" von den Roten Gitarren beim öffentlichen Eislaufen verbotene Bandenhasche gespielt haben. Die mit der in Halle üblicherweise nur „Eishalle“ genannten Eissporthalle Konzerterlebnisse, Jugendsünden und Boxtriumphe verbinden.

Das Dach ist schon weg, zwei Seitenwände ebenso. Die Eissporthalle ist wieder, was sie ganz zu Anfang war, eine nach oben offene Betonfläche. Es ist 18.20 Uhr, als dann auch die vorletzte Seitenwand fällt. Noch mehr Metallschrott stürzt auf den Berg aus Beton, Glas und Eisen, der übrigbleibt, wenn Geschichte planiert wird.

Ende Mai soll der Abriss abgeschlossen sein.


Dienstag, 24. Mai 2016

Starkregen - ein noch relativ neues Phänomen in der Menschheitsgeschichte



Vor 1957 war er nicht aktenkundig, es finden sich keinerlei Spuren in Archiven, die belegen könnten, dass es das Phänomen "Starkregen" vor der ersten Erwähnung in der ostdeutschen Tageszeitung "Freiheit" gegeben hat. Ein populärwissenschaftlicher Text zu meteorologischen Fragen erst macht dann den "großtropfigen Starkregen" (Zitat) bekannt. Der seitdem von Halle aus einen Siegeszug sondergleichen angetreten hat.

Wie der Begriff "Starkregen" entstand

Freitag, 20. Mai 2016

Klassentreffen: Eine deutsche Geschichte


Sechs Jahrzehnte, vier Währungen, drei Systeme: Der Abgangsjahrgang 1949 der Dorfschule Holleben trifft sich regelmäßig.


In welchem Jahr das war, das weiß Renate Andreß auch nicht mehr so genau. Kann sein, damals beim allerersten Mal, als sie alle noch nicht richtig wussten, wie das überhaupt werden würde. Kann sein, es war später, als die Stasi schon nicht mehr vom Nachbarzimmer lauschte, was im Saal nebenan gesprochen wurde. In dem Jahr jedenfalls erzählte Gerhard Demigkeit, den sie ganz zuletzt gefunden hatten, dass ihm beim Lesen eine Träne auf den Brief mit der Einladung gefallen sei. Renate Andreß, eine Frau mit entschiedenem Auftreten, muss beim Erzählen schlucken. Der Gerhard, das ist doch so ein großer Kerl, sagt sie. Aber das hier ist ja auch so eine große Geschichte.

Die Geschichte der Schüler einer ganz normalen deutschen Schulklasse, Jahrgang 1941. Eine deutsche Geschichte. Als Hitler gerade an die Macht gekommen war, wurden sie geboren. Als der Führer die Welt in Brand setzte, feierten sie Einschulung. Über die nächsten Jahre, die Renate, Horst, Albert, Gretchen und die anderen in der Dorfschule in Holleben verbrachten, wurden die Klassen immer größer, weil der Lehrkörper mit jeder Schlacht im Osten schrumpfte. Der Krieg brauchte auch Lehrer als Futter für die Front. "Zu Kriegsende waren wir 47 in einer Klasse", erinnert sich Stefan Baumgärtner, der in Serbien geboren wurde und 1944 als Flüchtlingskind in den Saalkreis kam. Fünf Jahre später, als die Bundesrepublik und die DDR gegründet wurden, feierten die Achtklässler aus Deutschlands zweitältester Dorfschule Kommunion. Und Abschied vom Klassenzimmer neben der alten Dorfkirche.

Für die meisten war es auch ein Abschied von den Freundinnen und Freunden der Kinderjahre. "Nur acht von uns", zählt Renate Andreß, "sind hier geblieben". Wie unter dem Brennglas zeigen die Lebensläufe des Abschlussjahrgangs 49 deutsche Geschichte. Sieben Mitschüler gingen in den Westen. Eine verschlug es nach Übersee. Die meisten anderen verstreuten sich über die ganze DDR.

Es sind die in der alten Heimat Zurückgebliebenen, die Anfang der 80er Jahre beginnen, nach den Spuren der Freunde von früher zu suchen, um zum nächsten Jubiläum der letzten Zeugnisausgabe ein Klassentreffen zu organisieren. Es gibt kein Internet, keine Adressbücher und keine Telefonauskunft, die weiterhelfen kann. "Also haben wir einfach überlegt, wer noch Verwandtschaft hier in der Nähe hat", erinnert sich Renate Andreß. Holleben ist ein kleines Dorf, in dem die Menschen einander traditionell nicht wie anderswo Siegfried Stedtel, sondern "Stedtel-Siegfried" nennen. Jeder hier kennt jeden, und jeder weiß von irgendwem irgendetwas. "Die Jungs hatten ja auch alle noch denselben Namen, da war es eigentlich einfach."

Auch die meisten Mädchen, damals schon Frauen um die 50, sind nach monatelangen Recherchen gefunden. Verwandte in der DDR haben die Adressen derer, die in den Westen gezogenen sind. Die wissen dann manchmal die von denen, die keine Verwandten mehr in der DDR haben. Und Gerhard Demigkeit, von dem monatelang einfach keine Spur auftauchen will, wird durch ein Missverständnis doch noch gefunden: Weitläufige Verwandte des Verschollenen berichten, dass "der Gerhard doch im ZDF Reklame für Persil" mache. Renate Andreß muss sich im Büro der BHG einschließen, um beim Westfernsehen in Mainz anrufen zu können. Dort ist kein Gerhard Demigkeit bekannt, der Persil-Werbung macht. Nur ein Herbert. Der Bruder. Geschafft. Der zweite Anruf, diesmal beim Gesuchten selbst, dauert nur ein paar Sekunden: "Renate, ich komme", sagt Gerhard Demigkeit, dann ist der Draht von Ost nach West auch schon wieder tot.

Die Geschichte der Suche der Kinder von einst nacheinander ist so ein Spiegelbild der deutschen Geschichte mit all ihren Wirrnissen und Irrwitzigkeiten. Es ist der Beginn der 80er Jahre, die Zeit von Nachrüstung und Atomangst. Der Kalte Krieg bläst einen letzten eisigen Hauch übers Land. Das erste Wiedersehen nach 35 Jahren wird ein tränenfeuchter Tag unter einem drückenden deutsch-deutschen Himmel. Horst ist da, der als Tischler arbeitet. Hans, der Landwirt. Hilmar, der Seemann. Der andere Horst von der Feuerwehr, Albert, ein Gerüstbauer, Inge, die Schneiderin und Renate von der BHG. Die einen kommen im Trabi, die anderen im Mercedes. Der Kofferraum des letzteren ist voller Apfelsinen. "Jeder Mann bekam einen Schlips, jede Frau eine Strumpfhose", amüsiert sich Renate Andreß.

Deutsche Lebensläufe, die von einem gemeinsamen Punkt auseinanderstreben, um sich am Ende doch wiederzubegegnen. "Wir hatten damals Auflage, dass die Westautos nicht vor der ,Friedenstaube´ stehen dürfen", erzählt Dieter Andreß, der seiner Frau bei der Organisation hilft, "und es durfte keine Heino-Musik gespielt werden."

Aber es ist egal. Sogar Christa, die schon so lange in den USA lebt, ist gekommen. Der Pfarrer feiert einen Gottesdienst mit den Kindern, die zum Konfirmandenunterricht immer eine Kohle hatten mitbringen müssen, damit es ein bisschen warm wurde im Zimmer. "So ein glücklicher Tag", sagt Renate Andreß, und ihre Augen sind feucht.

Seitdem sind sie einander nicht mehr verlorengegangen. Regelmäßig feiert der Hollebener Abgangsjahrgang 1949 Wiedersehen, während die Zeit vorüberzieht. Im letzten Jahr der DDR forderte schon niemand mehr, dass sie sich eine Bescheinigung beim Schuldirektor holen, damit bestätigt ist, dass sie wirklich eine ehemalige Schulklasse und kein Ost-West-Fluchthilfeverein sind. 1994, als die Schülerinnen und Schüler der 8. Klasse auch die Abgangsjahrgänge 48 und 50 dazubitten, sitzen dann endlich auch keine Stasi-Männer mit Fasslimogläsern mehr lauschend in der Kneipe. Später waren ein paar Mitschüler sogar drüben bei Christa in Michigan. Und die Neu-Amerikanerin hat ihre Enkeltochter mit nach Holleben gebracht. Die spricht zwar nur Englisch, so dass Renate Andreß eigentlich kein Wort versteht. Aber inzwischen sagt sie trotzdem Tante zur Schulfreundin ihrer Oma.

Nur die "Friedenstaube", in der früher gefeiert wurde, ist zum 60. Jahrestag des Schulabschlusses, nicht mehr da. Eine zerfallene Ruine der Dorfkneipe nur ist übrig, wie ein Symbol von allem, was unterwegs zum diamantenen Jubiläum des Klassentreffens auf der Strecke bleiben musste. Da waren vier Systeme und vier Währungen. Da war ein heißer und ein kalter Krieg, da waren Mauerbau und Mauerfall. Nach alledem stehen hier nun drei Dutzend 75-Jährige mit weißem Haar, mit Stöcken und Falten, neben ihrer alten Schule, aus der längst ein Wohnhaus geworden ist. Und sie sind Freunde immer noch und immer wieder, und sie herzen und scherzen miteinander, als hätte die Schulglocke eben erst zur großen Hofpause geklingelt.