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Montag, 18. Dezember 2017

Flake Lorenz von Rammstein: Auf der Rückseite des Ruhms

Er ist der ewig Unbeholfene in der Besetzung von Deutschlands erfolgreichster Rockband, ein schmaler, linkischer Riese mit schiefem Lächeln, der immer den Eindruck macht, als habe er bis heute nicht verstanden, was ausgerechnet ihn zu einem Weltstar machen konnte.

Aber Christian Lorenz, genannt Flake, ist einer, das zeigt schon die Völkerwanderung, die der kleine, recht abgelegene Ort Brachwitz erlebt, nur weil der 51-jährige Rammstein-Keyboarder dort aus seinem zweiten Buch „Heute hat die Welt Geburtstag“ liest. Aus Zwickau, Berlin und Magdeburg sind die Fans gekommen, mehr als 300 füllen den Saal des Restaurants „Saalekiez“, dessen Betreiber Christian Hager seit Jahren mit dem Namensvetter aus dem Prenzlauer Berg befreundet ist.

Auf der Bühne, anfangs stehend und später zurückgelehnt in einen riesigen Sessel, ist das Gegenmodell eines Rockstars. In seinen schwarzhumorigen Erzählungen von der Rückseite des großen Rockruhmes bleibt von Glamour und Glitzer des Showbusiness nichts übrig. „Auf Tournee sein heißt vor allem Warten“, beschreibt Flake, der seine Lesung nur gelegentlich mit vorgelesenen Buchkapiteln bestreitet. Die restliche Zeit erzählt er aus dem einsamen und aberwitzigen Leben in der Blase der Berühmtheit. Es geht um stinkende Bühnenklamotten, abenteuerliche Missgeschicke in Konzerten und um all die Erlebnisse, die nur der macht, der im innersten Kreis einer der größten Rockbands aller Zeiten lebt.

Und sich bis heute fragt, wie es soweit kommen konnte. Lorenz’ Grundhaltung ist die des Clowns, der alles hinterfragt. Die Antworten schießt er zugespitzt auf sein Publikum ab, die Gesichtszüge wie vereist. Die Fans, die dichtgedrängt bis hinter zum Tresen sitzen, kommen minutenlang nicht mehr aus dem Lachen heraus, während Flake ungerührt von seiner Verhaftung in den USA erzählt oder schildert, wie seine Band 46 000 Mark für Getränke aus der Minibar bezahlen sollte. So sieht es also aus, wenn die Scheinwerfer verloschen sind und die Band zum Bus stiefelt! Und so, wenn einer von Rammstein im kleinen Kreis Autogramme gibt!

Die Schlange im „Saalekiez“ reicht bis zur Eingangstür.


Dienstag, 14. November 2017

Dan Brown: Gott ist eine künstliche Intelligenz


Der amerikanische Auflagenmillionär Dan Brown setzt die Serie seiner Bücher um den Symbol-Forscher Robert Langdon mit dem neuen Buch "Origin" gewohnt temposcharf fort.

Ein wenig Glück gehört dazu, doch das Glück, das den früheren Englischlehrer Dan Brown zu einem der erfolgreichsten Schriftsteller der Welt machte, ist eines der sorgfältig geplanten Art. "Origin", Browns soeben erschienener fünfter Thriller um den Ikonologen und Symbol-Forscher Robert Langdon, spielt in Spanien. Zufällig ein Land, das derzeit nicht nur in der Fiktion, sondern ganz wirklich durch schwere Zeiten geht.

Dan Brown, 53 und vor knapp 15 Jahren mit seinem vierten Buch "The Da Vinci Code" (deutsch "Sakrileg") in die Sphäre der globalen Auflagenmillionäre aufstiegen, kommt so etwas gut zu pass. Denn die Methode des Mannes aus New Hampshire, der als ältestes von drei Kindern eines Mathematikers in der Nähe von Boston aufwuchs, hat sich seit dem ersten Auftritt von Robert Langdon im Buch "Illuminati" nicht geändert. Es geht hier immer um alles. Das Schicksal der Welt ist von dunklen Mächten bedroht, eine Brotkrumenspur aus geheimen Zeichen nur kann den rein zufällig in die Kabale verwickelten Langdon dorthin führen, wo sich alle Rätsel lösen, die gelöst werden müssen, um die Menschheit zu retten.

Ehe der US-Amerikaner, Jahrgang 1964, zu einem der weltweit erfolgreichsten Schriftsteller wurde, arbeitete der Sohn eines Mathematikprofessors aus New Hampshire als Englisch- und Spanischlehrer, feilte an einer Musikerkarriere und schrieb nach Feierabend. Mit Mitte 30 konnte Brown auf eine einzige Veröffentlichung verweisen, das Ratgeberbüchlein erschien unter Pseudonym und verkaufte sich schlecht.

Mit dem Überwachungsthriller "Diabolus" änderte Brown seinen Stil, wurde dafür aber zeitweise vom Geheimdienst NSA überwacht. Immerhin begeisterte Brown einen Großverlag für sein Thrillerdebüt. Für den Nachfolger "Illuminati" konnte er sich ausgiebige Recherchen leisten. Das erste Buch um den Symbolistik-Professor Robert Langdon wurde ein Welterfolg und später mit Tom Hanks in der Hauptrolle verfilmt.

Wie üblich bei Brown schildern nun auch die 672 Seiten des fünften Langdon-Thrillers einen überschaubaren Zeitraum von wenig mehr als einem Tag in einer Krisensituation. Edmond Kirsch, ein früherer Student Langdons, der zum genialen Wissenschaftsunternehmer geworden ist, plant anfangs, die Menschheit mit wegweisenden Erkenntnissen über die Existenz Gottes, die Herkunft des Menschen und seinen Weg in die Zukunft vertraut zu machen. Ein globales Event, dessen Botschaft die Macht der Religionen für immer zu brechen verspricht, wie der nach dem Vorbild real existierender Dotcom-Milliardäre modellierte Vordenker glaubt.

Doch mitten in der Präsentation geschieht es. Ein Mann in Admiralsuniform schießt Kirsch nieder. Langdon wird ebenso Zeuge wie die bildhübsche Moderatorin der Show, die nebenher auch noch die Verlobte des spanischen Kronprinzen ist.

Eine Ausgangslage, die Dan Brown Gelegenheit gibt, alle seine Trümpfe auszuspielen. Es gibt Verfolgungsjagden und Verschwörertreffen, religiöse Führer sterben, wer Freund ist und wer Feind verschwimmt zusehends, während der Symbol-Forscher und die Verlobte des Prinzen durch Spanien rasen, um das Geheimnis um den Ursprung aller Dinge aufzudecken, das der Ermordete mit der ganzen Welt hatte teilen wollen.

Brown, der das Sujet des Verschwörungsthrillers mit seinen Bestsellern "Illuminati", "Sakrileg", "Symbol" und "Inferno" neu definiert hat, löst sich in "Origin" - zu Deutsch so viel wie "Ursprung" - von der engen Bindung an Religion, Kirche und Vergangenheit. Obwohl die Schnitzeljagd der beiden Helden unter der steten Bedrohung durch augenscheinlich religiös motivierte Killer steht, geht es in Wirklichkeit um etwas anderes als den Kampf zwischen Gläubigen und Nichtmehr-glauben-Könnenden.

Dan Brown, immer schon ein Verfechter der Wissenschaft, ohne deshalb ein Feind der Religionen zu sein, nutzt die Atempausen der Handlung, um seine Leser auf eine Reise in Philosophie- und Architekturgeschichte mitzunehmen. Kurzweilig referiert er dann über die für "Origin" extrem wichtige Entwicklung künstlicher Intelligenz, die Gegenkirche der Palmarianer, die Sitten am Königshaus und die Kathedrale Sagrada Família in Barcelona. Ehe wieder geschossen wird.

Brown schafft so eine Art Bildungsthriller, der funktioniert wie Hustensaft in Zucker: Eigentlich schwer zu schluckende Kost wird zu purer Unterhaltung, die sich weglöffelt wie ein Strandeis. Ein Lesespaß bis zum Schluss. Demnächst dann mit Sicherheit auch wieder im Kino.



Donnerstag, 9. November 2017

DDR-Klassiker zum Mauerfall: Damals hinterm Mond


Lach- und Sachgeschichten aus einer DDR, wie sie vielleicht gewesen sein könnte. Auf jeden Fall viel lustiger als das Original. Und heute schon ein Klassiker der Erinnerungsliteratur.

Es ist nicht viel passiert damals, ehrlich gesagt. Bisschen Einschulung, bisschen erste Freundin. Bisschen Sex, bisschen Schulhof-Geschubse, bisschen FDJ. Erste Gitarre, erste Zigarette. Erster schwerer Kopf auch. Ansonsten Pickel, Sorge um den Weltfrieden, Sportunterricht. Und all das nachmittags auf der Parkbank gemeinsam bequatschen, bis es zu einem sämigen Brei gekaut war.

Es gibt nicht viel zu berichten aus dieser Zeit, damals hinterm Mond, im ersten sozialistischen Arbeiter-und Bauernstaat DDR. Jakob Hein aber erzählt es mit großem Talent und bemerkenswerter Hingabe an skurrile Details. "Mein erstes T-Shirt", das bereits 2003 erschienene Debütbändchen des an der Berliner Charité praktizierenden Psychiaters, ist eine Art "Sonnenallee" für die Kinder der 80er Jahre, dieser "grauen Zeit" (Hein) mit ihrer "schrecklichen Musik".

Seltsame Zeiten zwischen "Tatort" im Westfernsehen und sturmfreier Partybude waren das, mit heutigen Maßstäben fast nicht zu fassen. Das T-Shirt war selbstverständlich ein Nicki damals hinterm Mond, der Sportlehrer schmiss mit einem fetten Schlüsselbund nach schwatzenden Schülern und die Staatssicherheit bezahlte das Bier.

In lakonischen Sätzen geht der gebürtige Leipziger auf Entdeckungstour in der Erinnerung, und was ihm dabei unter die Schreibmaschine geraten ist, verdient durchaus das Prädikat "amüsant und unterhaltsam". Hein, ein guter Freund des gefeierten "Russendisko"-Autoren Wladimir Kaminer, bleibt bei der Wahrheit in seinen kurzen Storys. DDR-Jugend pur gibt es hier, ungeschnitten und ohne Overdubs: Die Suche nach dem Netzhemd zum Über-den-Pullover-Ziehen wird beschrieben, die Jagd auf geeigneten Alkohol für ein Privatbesäufnis im Kinderzimmer.

150 Seiten lang schichtet der 30-Jährige kurze Sätze zu knochigen Geschichten zusammen, die nie "so war das" krähen oder sich prustend auf die Schenkel klopfen. Jakob Hein ist wie ein Thomas Brussig ohne dessen ausgestellte Nettheit; wie ein Jörg Mehrwald ("Bloß gut, dass es uns noch gibt") ohne dessen zuweilen gezwungen wirkende Komik.

Komisch waren wir schließlich selber, damals hinterm Mond. Beim Schulhofappell und im Wehrkundeunterricht, als Befreiungskartenschreiber für Angela Davis und als Udo-Lindenberg-Fans. Jakob Hein nun muss nicht viel mehr tun als Atmosphäre schaffen und seine Geschichten mit den unerlässlichen Details ausstaffieren: Ein Lolli-Lutscher hier, ein Schimpfwort dort -und stickum ist die Community der ehemaligen Diskojeans-Träger und "Duett - Musik für den Rekorder"-Hörer unter sich.

Ein Ostbuch ist das, zweifellos, und im Duktus eine Mischung aus "Fänger im Roggen" und Ottokar Domma zudem. Jakob Hein, von Kaminer als "geheimnisvoller Mensch" beschrieben, der in der DDR "wie so viele andere auf beiden Seiten der Barrikade kämpfte", erklärt nicht, er setzt voraus. Dass seine Leser wissen, was die "Poesiealbummode" war. Dass der Name der Fernsehsendung "Gixgax" eine Saite in ihnen zum Schwingen bringt. Und dass sie noch wissen, wie das gewesen ist: In der Annahmestelle für Sekundärrohstoffe zu stehen und unter den gestrengen Blicken des staatlich bestallten Altstoffwartes Aluminiumringe von leeren Schnapsflaschen abknaupeln zu müssen. Im Dienst von Frieden und Völkerfreundschaft auch noch, streng genommen.

Anders Sozialisierte müssen da zwangsläufig draußen bleiben. Kein Chance für sie, Heins gallige Erklärungen für "sozialistischen Realismus" oder den pubertären Leistungsknick nachzuvollziehen. Vielleicht aus diesem Grund sind zwischenrein einige Geschichten gestreut, die einen Arm bis ins Heute strecken.

Mittwoch, 1. November 2017

Der kleine King: Brennender Zorn


Stephen Kings Sohn Joe Hill tritt im zehnten Jahr als Schriftsteller mit seinem neuen Endzeit-Thriller "Fireman" aus dem mächtigen Schatten seines Vaters.

 Die große Seuche frisst sich durch die Gesellschaft. Hartnäckig und in einer Geschwindigkeit, die immer noch ein wenig Hoffnung lässt, erobert die Spore Dragonscale Amerika: Menschen bekommen zuerst einen schwarz-goldenen Ausschlag, dann beginnen sie zu qualmen und zu rauchen. Und schließlich gehen sie mir nichts, dir nichts in Flammen auf. Was für ein Quatsch!

Und wie fesselnd Joe Hill ihn in seinem neuen Thriller "Fireman" aufschreibt! Aus der bisher vielleicht hanebüchenensten Variante der ewig jungen Weltuntergangsgeschichte macht der 44-jährige Amerikaner ein abenteuerliches Fantasy-Spektakel, das Fans der Altmeister Stephen King, Peter Straub und Richard Laymon begeistern wird. Ein Wunder ist das nicht, denn hinter dem Pseudonym Joe Hill verbirgt sich niemand anders als Joseph Hillstrom King , der älteste der zwei Söhne des Schriftstellerehepaares Tabitha und Stephen King. Joseph King hat vor 20 Jahren seine erste Kurzgeschichte veröffentlicht, damals gleich unter falschem Namen, um nur an den eigenen Leistungen gemessen zu werden. Vor zehn Jahren dann legte King jr. mit "Blind" seinen ersten Roman vor, eine irre Horrorfantasie um einen vom Ruhm und der Welt angeödeten Rockstar, der aus lauter Langeweile im Internet einen Geist kauft und sich damit eine Menge Ärger einhandelt.



Hill, der es auch danach noch vermied, öffentlich als des Horrorkönigs Sohn für sein Buch zu trommeln, schaffte es, den miesen, unsympathischen Schmock im Verlauf der Handlung zum Sympathieträger werden zu lassen. "Blind" war kein billiger Trash-Horror aus Pappmaché, sondern intelligente Unterhaltung. Das Buch heimste Preise ein und wurde zu einem Bestseller, der nach Ansicht von Kritikern keinen Vergleich mit den Klassikern des Vaters scheuen muss. Der Unterschied ist: Joe Hill schreibt zwar nicht kürzer, aber langsamer. Wo Daddy in den letzten zehn Jahren elf Romane vorgelegt hat, kommt der Sohn nur auf vier, unter denen das aktuelle "Fireman" die deutlichsten Anleihen beim großen Erbe des Vaters nimmt. Dessen "The Stand", zu deutsch "Das letzte Gefecht", Ende der 70er Jahre mitten hinein in die allgegenwärtige Atomkriegsangst geschrieben, steht bei der Geschichte um eine Gruppe Überlebender der geheimnisvollen Sporeninfektion Pate, die Joe Hill anfangs im Breitwandformat, später aber immer mehr auf Kammerspielbesetzung zusammenschnurrend erzählt.

Im Mittelpunkt steht einerseits der "Fireman" John Rookwood, eine wunderliche Figur, die in friedlicher Symbiose mit ihrer Sporeninfektion lebt. Andererseits ist da die schwangere Krankenschwester Harper Grayson, die mehr und mehr zur wahren Heldin der Geschichte wird. Joe Hills Trick in Zeiten, in denen Zombie-Storys in Buch und Film boomen: Bei ihm sind die Infizierten die Normalen, Menschen, die sich in einer Ausnahmesituation hinter dem Ende der gewohnten Welt plötzlich nicht nur mit der Frage konfrontiert sehen, wie sie am es schaffen können, zu überleben. Sondern sich auch noch mit denselben Problemen auseinandersetzen müssen wie vorher im zivilisierten Alltag der USA von heute. Wo beginnt freiwillige Einsicht in eine Notwendigkeit? Wo endet die Freiheit? Wann wird Machtgier pathologisch und ab wann führt Gruppenzwang in den kollektiven Untergang?

Die rätselhafte Seuche, der Joe Hill im Verlauf der Handlung sogar eine recht nachvollziehbare wissenschaftliche Begründung verpasst, ist hier einerseits Anlass für eine zumindest streckenweise actionreiche Handlung. Andererseits verweist sie wie eine Chiffre auf aktuelle Auseinandersetzungen in der amerikanischen Gesellschaft, in denen sich die gesamte King-Sippe mehrfach deutlich gegen den neuen Präsidenten Donald Trump positioniert hat. Wo der Zorn erst einmal brennt, gibt es kein Vergeben. Einlullende Glückseligkeit hingegen, die sich weigert, offenkundige Probleme wahrzunehmen und zu diskutieren, führt am Ende immer zur Herrschaft derjenigen, die keine Skrupel haben, sich die Situation zu nutze zu machen. Klingt, als sei der "Fireman" ein Wanderprediger des Guten. Aber das täuscht natürlich.

Joe Hill ist kein Autor nachdenklicher Betrachtungen über Rolle und Bedeutung von Toleranz und Mitmenschlichkeit in Zeiten des Untergangs, sondern ein rasanter Erzähler. Zwar mutet seine postapokalyptische Welt verglichen mit Cormac McCarthy's "Die Straße" oder Justin Cronins "Der Übergang" an wie das niedliche Sommerferienlager, in dem sich Harper Crayson, der Fireman, die Familie Storey und die übrigen Überlebenden verstecken. Doch wie sein Vater verfügt Hill über einen untrüglichen Sinn für erzählerischen Rhythmus. Er schreibt schnell und langsam und erzeugt so einen Sog, der seine Leser im Handumdrehen in den Bann schlägt.

Joe Hill, Fireman, Heyne, 960 Seiten, 17,99 Euro

Sonntag, 29. Oktober 2017

Stephen King: Horror-König triumphiert mit 70


Stephen King musste erst 70 Jahre alt werden, um seinen Kritikern endlich als echter Autor zu gelten.

Es hat Jahrzehnte gedauert und es hat Stephen King, der heute seinen 70. Geburtstag feiert, immer gewurmt. So viele Bücher der Mann aus Maine auch schrieb, in so vielen Stilarten er sich erprobte, so viele Millionen Exemplare er auch verkaufte. Dieses Vorurteil, es ging nicht weg: Stephen King schreibt „Horrorromane“, er ist ein besserer Groschenheftautor, talentiert im Umgang mit Sprache. Aber uninteressiert an allem, was tiefer dringt als Reißzahn, Schwert und tödliches Virengift.

King, aufgewachsen als Sohn einer Alleinerziehenden, die sich mit Gelegenheitsjobs durchschlagen musste, hat die Zeit gut ausgehalten. Seit er mit Ende 20 „Carrie“ veröffentlicht hatte, geschrieben in einem ärmlichen Wohnwagen, während der Autor tagsüber als Englischlehrer jobbte, blieb der kommerzielle Erfolg dem begeisterten Freizeitgitarristen treu. King wurde erst zum Bestsellerautor, dann zum Schriftsteller mit den höchsten Auflagen weltweit. Mit Büchern wie „The Stand“, „Es“ und der opulenten Reihe „Der Dunkle Turm“ entwarf er düstere Welten, in die ihn Millionen Leser begleiteten.

Nur ernstgenommen wurde der Vielschreiber nicht, der bis heute mehr als 70 Romane und Geschichtensammlungen veröffentlicht hat. Im Zwiespalt zwischen Erfolg und Selbstzweifeln suchte King Zuflucht in Drogen und im noch eifrigeren Schreiben. Bis ein schwerer Unfall ihn so außer Gefecht setzte, dass er Jahre brauchte, um wieder der Alte zu werden.

Seitdem aber läuft es für King. Er erhielt den National Book Award und endlich wurden seine Bücher, die immer auch die Geschichte von Kleinstadtamerika erzählen, auch im seriösen Feuilleton besprochen. Und wichtiger noch: Hollywood, mit dem King seit Stanley Kubricks „Shining“-Verfilmung von 1980 eher ernüchternde Erfahrungen gemacht hatte, entdeckte seine Bücher neu. Mit „Puls“, „der Dunkle Turm“ und „Es“ kamen und kommen in den letzten beiden Jahren gleich drei King-Bücher ins Kino. Die Neuverfilmung seines Klassikers „Es“ schaffte dabei einen Start wie noch nie zuvor ein Horrorfilm.

Mittwoch, 6. September 2017

American War: Erst wird es immer schlimmer

Gedenken an den ersten Bürgerkrieg: Auf dem Schlachtfeld von Gettysburg finden die Familien von Tausenden gefallenen Soldaten des Nordens und des Südens bis heute einen Ort, an dem sie ihrer Toten gedenken können.

Der in Ägypten geborene Omar El Akkad hat die aktuellen Weltkonflikte in die USA verlegt und mit „American War“ ein packendes Buch über den Untergang geschrieben.


Das kleine Mädchen lebt am Rande dessen, was vom Amerika unserer Tage übriggeblieben ist. Der Süden Louisianas ist klein geworden. Die wegen der Klimakatastrophe steigenden Ozeane haben Land weggeknabbert, der Einmarsch der Mexikaner hat die einstige USA Fläche gekostet. Und dann ist da natürlich der wie unter Quarantäne dahinsiechende Bruderkrieg mit dem Norden, ausgebrochen, als die Bundesregierung ein allgemeines Verbot von Verbrennungsmotoren verfügt hatte, gegen das die Südstaaten aufstanden wie damals, als Washington ihnen die Sklaverei untersagte.

Wir schreiben das Jahr 2074 und wie folgerichtig bricht in Omar El Akkads gefeiertem Bestseller „American War“ ein zweiter amerikanischer Bürgerkrieg aus. Noch ungleicher sind die Kräfte verteilt als beim ersten Mal zwischen 1861 und 1865, und nach ein paar Monaten schon stehen nur noch Mississippi, Alabama und Georgia zur Fahne der Roten. Sie beharren auf ihrem Selbstbestimmungsrecht, und koste es die ganze Welt das Leben.

Sarat Chestnut weiß von all dem wenig, denn sie ist mitten in den Konflikt hineingeboren worden, Die USA sind nicht mehr Führungsnation der freien Welt, sondern ein Ort aus Trümmern. Fern im Norden könnten noch Reste von Zivilisation sein. Doch hier unten im Süden gibt es nur Flüchtlingslager, halbwüchsige Selbstmordattentäter und die Angst vor Strafaktionen der verhassten Blauen, die die rebellische Bevölkerung von South Carolina bereits komplett ausgerottet haben.

Akkad, in Ägypten geboren und als kleiner Junge mit seinen Eltern nach Kanada geflüchtet, hat keinen „Roman für alle, die die Trump-Ära umtreibt“, geschrieben, wie die „Washington Post“ behauptet hat. Sein Buch geht tiefer und viel weiter, denn es funktioniert wie ein Gedankenspiel vor dem Spiegel. In der Welt, die er entwirft, ist alles seitenverkehrt, die Moral steht Kopf und aus dem kleinen Mädchen Sarat, das im Zusammenbruch aller Werte nach und nach fast ihre gesamte Familie verliert, wird über ein Jahrzehnt eine gefährliche Terroristin.

Es ist ein Zaunpfahl, mit dem der als Auslandskorrespondent im Jemen und in Pakistan erfahrene Omar El Akkad winkt. Unverkennbar sind die Parallelen seiner Geschichte zu den großen Weltkonflikten, die seit 2001 immer deutlicher fühlbar auch für die westlichen Demokratien toben. Camp Patience („Geduld“), wie Akkad das Flüchtlingslager nennt, in dem Sarat ihre Kindheit verbringt, gleicht den Lagern im Libanon und Jordanien.

Das von offiziellen Stellen des Nordens geduldete Massaker des selbsternannten 21. Indiana-Regiments an den Lagerinsassen ähnelt der Abschlachtung palästinensischer Zivilisten in den Lagern Sabra und Schatila Anfang der 80er Jahre.

Es hat dieselben Folgen. Unter der fürsorglichen Anleitung des ebenso weltgewandten wie undurchsichtigen Terroranwerbers Albert Gaines wird aus dem kleinen, verzweifelten Mädchen eine mit schierem Hass geladene Waffe. Der sich Joe, ein Außenagent des nahöstlichen Bouazzi-Reiches, das in Umkehr aller heutigen Umstände als Hort der Demokratie gilt, nur noch bedienen muss.

Eine frustrierende Welt ohne Lichtblicke, in der jeder Sieg über kurze Umwege in eine weitere Eskalation führt. Sarat tötet einen General des Nordens, der Norden verschärft die Strafmaßnahmen gegen den Süden. Die Terroristin landet in einem außergesetzlichen Gefängnis, das wie ein künftiger Bruder des vor 15 Jahren von den US-Streitkräften auf Kuba gegründeten Gefangenenlagers Guantanamo anmutet.

Isolation, psychischer Druck und körperliche Folter durch Waterboarding brechen sie schließlich, während draußen die Triebe eines möglichen Friedens sprießen: Auch der Süden, der nicht für Freiheit, Gleichheit oder Demokratie, sondern nur noch für sein Recht kämpft, nach eigenen Maßstäben starrsinnig sein zu dürfen, ist des ewigen Sterbens, des Mordens und Dahinvegetierens müde. Omar El Akkad hätte hier den Bogen bekommen können. Weg von der düsteren Dystopie, wie sie Michel Houellebecq in „Unterwerfung“ bis zum Exzess gemalt hat. Hin zu einem freundlichen Ende in Versöhnung.

Doch das wäre unrealistisch gewesen. Das Blut steckt denen in den Knochen, die es vergossen haben. Der Verrat, die Enttäuschung, das Wissen darum, dass alles von Anfang an vergebens war. Die Massaker von Sabra und Schatila, ausgelöst durch die Ermordung des libanesischen Präsidenten wenige Tage zuvor, waren für den Milizführer Elie Hobeika damals die Gelegenheit, seine Jahre zuvor durch die PLO ermordete Familie zu rächen. Die komplette Niederlage des Südens ist für Sarat Chestnut der letzte Anstoß, ihren eigenen Krieg mit einer letzten Attacke doch noch zu gewinnen.

Ehe es besser werden kann, muss es immer erst schlimmer werden, viel schlimmer.

Omar El Akkad: American War.
S. Fischer, 448 Seiten, 24 Euro,

Mittwoch, 22. Februar 2017

Science Fiction: Irgendwo ist immer jetzt


Überall sind Bildschirme, Kameras, Sensoren, elektronische Spione. Alles muss sicher sein, vorhersagbar, kontrolliert, denn die große, kluge Maschine, der die Menschheit ihr Überleben anvertraut hat, kann schlecht mit Variablen rechnen. In einem gigantischen, gewalttätigen Akt hat sie deshalb alles vernichtet, was störenden Einfluss nehmen könnte. Milliarden Menschen sind tot, die Natur wurde begradigt, Menschsein ist zur Erfüllung einer Aufgabe geworden.

Und doch sind da immer noch Störenfriede in Stephan R. Meiers Debütroman „Now“. Stark zum Beispiel ist eigentlich der Erbe des totalitären Gebildes namens „Now“, eines Supercomputernetzwerkes, in dem unschwer reale Vorbilder wie Google, Facebook oder Apple zu erkennen sind. Stark, der Sohn eines der gutwilligen, mit allerbesten Absichten gestarteten Gründer des allwissenden Algorithmus, kippt angesichts einer ungeplanten Liebe zu einer „Wilden“ aus der Restwelt aus der Matrix.

Er wird zum Feind der Maschine, die 99 Prozent der Menschheit geopfert hat, damit das restliche Prozent endlich in nachhaltigem Gleichgewicht mit der geschundenen Natur leben kann.

Ein Konflikt, an dem Stephan R. Meier scheitert. Zwar beschreibt der Sohn des früheren Verfassungsschutzchefs Richard Meier, der zuvor nur Sachbücher über seinen Vater und über den Terroristen Carlos geschrieben hat, die Entstehungsgeschichte des Now-Computers mit filigranem Strich. Doch die Personen drumherum bleiben so blass wie ihre Motive.

Dasselbe gilt für die Handlung, die mehrfach dazu ansetzt, Fahrt aufzunehmen, etwa als Now den Strom abschaltet und die Zivilisation binnen kurzem außer Rand und Band gerät. Doch Meier wollte wohl keinen temposcharfen Thriller schreiben, sondern eine teilweise als philosophische Belehrung verkleidete Abhandlung über Moral und die Verführbarkeit des Menschen durch Macht.

Das immerhin wäre ihm dann sehr gut gelungen.

Donnerstag, 19. Januar 2017

Reinhard Heydrich: Die blonde Bestie aus der Gütchenstraße


Reinhard Heydrich war Himmlers rechte Hand und Hitlers Hirn bei der Planung des Holocausts. Geboren in Halle und aufgewachsen in der Gütchenstraße, machte der Sohn eines Opernsängers und Musikschulgründers nach seinem Rausschmiß aus der Marine schnell Karriere in der SS. Doch Gerüchte um eine angebliche jüdische Abstammung begleiteten die "blonde Bestie" ein Leben lang.


Es war das mehrbändige Riemannsche Musiklexikon, das den strammen Antisemiten Reinhard Heydrich in Verlegenheit brachte, noch ehe sein ganz großer Aufstieg in der Nomenklartura des Dritten Reiches begonnen hatte. In jenem Lexikon, seinerzeit ein Klassiker, wurde Heydrichs Vater Bruno, ein in der halleschen Gütchenstraße ansässiger Opernsänger, Komponist und Musikschul-Betreiber, mit dem Hinweis erwähnt, er heiße standesamtlich eigentlich „Isidor Süß“. Süß war ein weitverbreiteter Nachname unter jüdischen Familien - Heydrich sah sich plötzlich einer von Hitlers Ziehvater Gregor Strasser angeordneten Untersuchung durch Rudolf Jordan, den Gauleiter von Halle-Merseburg ausgesetzt, deren Ziel es war, seine vermeintlichen jüdischen Wurzel offenzulegen.

Stein ohne Vornamen


Ein Vorhaben, das auf der These beruhte, Reinhard Heydrich sei quasi aus Hass auf seine eigene Abstammung Nationalsozialist und Judenfeind geworden. Gerüchte gingen um, nach denen der Chef des Reichssicherheitsdienstes Vertraute veranlasst habe, Kirchenbücher entwendet und dafür zu sorgen, dass das Grab seiner jüdischen Großmutter auf einem Leipziger Friedhof mit einem neuen Stein ohne deren Vornamen Sarah versehen wird. Einer anderen Variante der Geschichte zufolge sollte Heydrich die Großmutter gar exhumieren  und in Dänemark neu bestattet lassen haben.

Fake News in einem Zeitalter, als es den Begriff noch nicht gab. Erfunden hatte sie in diesem Fall offenbar ein Schüler von Heydrichs Vater, von Beruf Bäckermeister in Halle und familiär mit dem Herausgeber der Enzyklopädie verbunden. Bruno Heydrich hatte den Mann aus seinem "1. halleschen Konservatorium für Musik und Theater" geworfen. Der Geschasste rächte sich, indem er behauptete, es bestehe eine Blutsverwandschaft Heydrichs zu einem jüdischen Vorfahren.

Der Kern des Vorwurfs, der aufgrund der Fixierung der Nazis auf "Rasse" und "Abstammung" gehalten war, jede Karriere zu zerstören, lag im frühen Tod von Heydrichs Großvater. Die Großmutter des späteren Massenmörders hatte daraufhin, alleingelassen mit insgesamt sechs Kindern, einen Mann namens Süß geheiratet, der ihr half, die Kinder ihres ersten Ehemanns großzuziehen.

Heydrich klagte gegen den Verlag wegen Verleumdung und gewann den Prozess, der, so heißt es später in einem Buch des SS-Mannes Wilhelm Höttl, "dank der Presselenkung keinerlei Aufsehen erregte". Doch das Gerücht wurde er nicht los. So hoch der Hallenser in der Nomenklatur der Nazis stieg, so stetig hielt sich die Geschichte über die jüdischen Wurzeln des Mannes, der die Wannsee-Konferenz organisierte und dort zum obersten Planer des Vernichtungsfeldzuges gegen die europäischen Juden wurde. Heydrich habe seine "jüdischen Wurzeln" überwunden, soll Himmler über seinen wichtigsten Mann gesagt haben - offenbar lebte selbst der Herrscher des SS-Schreckensreiches im Glauben, irgendetwas müsse an der  Geschichte schon dransein.


Lückenhafte Ahnentafel


Auch lange nach dem Tod Heydrichs, auf den tschechische Widerstandskämpfer im Sommer 1942 in Prag  einen Anschlag verübten, hielten sich die Erzählungen über den antisemitischen Juden nicht nur, sie schienen auch immer mehr Begründungen zu finden. Als nach dem Krieg entdeckt wurde, dass in seiner bei der SS amtlich geführten Ahnentafel Name, Herkunft und Geburtsort der Großmutter fehlten, kam selbst Robert Kempner, einer der Anwälte im Nürnberger Kriegsverbrecherprozess und der Entdecker des Wannsee-Protokolls über die Beschlüsse zur Ermordung von Millionen Juden zum Schluss, dass Heydrich seine Biografie gefälscht habe.

Erst Mitte der 60er Jahre gelang es dem israelischen Historiker Schlomo Aronson dann, den Beweis zu führen, dass der Organisator des Holocaust kein Jude war, sondern ein Mann aus den deutsch-konservativen, bürgerlichen Kreisen Halles.



Freitag, 18. Dezember 2015

Neue Leiden des jungen O.


Der Ton macht die Musik im ersten Roman des aus Halle stammenden Theaterregisseurs Dirk Laucke. Schnoddrig ist der, ein langes, selbstvergewisserndes Selbstgespräch des Erzählers Phillip, der mit seinem Leben hadert, wie das Heranwachsende häufig tun. In "Mit sozialistischem Grusz", einem 200-seitigen Bändchen zwischen Paperback und Leinenbindung, hat der Held allen Grund dazu: Das Leben im Bitterfeld der bundesrepublikanischen Gegenwart ist grau, der Alltag trist, die Mutter irgendwann in den Westen weggelaufen und der arbeits- wie antriebslose Vater nur noch ein Schatten früherer Tage. Dann fängt er auch noch an, auf einer alten "Erika"-Schreibmaschine wirre Briefe an die abwesende Frau Honecker zu schreiben, aus Sorge um den antriebslosen Sohn, der auch mal was aus sich machen müsste. 

Die "ß"-Taste klemmt, deshalb muss Hermann Odetski ersatzhalber immer ein "s" und ein "z" in die Tastatur hacken. Eine Adresse von Margots chilenischem Exil existiert im Haushalt auch nicht, so dass der Vater den Sohn beauftragt, die Anschrift irgendwie mit diesem Internet rauszukriegen.
Der Beginn einer Vater-Sohn-Geschichte, die zwischen absurder Groteske und erdverbundenem Gegenwartsroman schwankt. Die Schnapsidee, die ehemalige Volksbildungsministerin um Erziehungshilfe zu bitten, schafft die Basis, auf der die beiden längst wort- und verständnislos nebeneinanderher lebenden Männer wieder miteinander kommunizieren können.


 Für Laucke, der zuletzt im ebenso gefeierten wie angefeindeten wie angefeindeten Theaterstück "Ultras" gezeigt hat, wie nah er der gesellschaftlichen Wirklichkeit zu kommen bereit ist, lässt seinen scheiternden Hauptdarsteller Phillip sprechen wie seinerzeit Ulrich Plenzdorf in "Die neuen Leiden des jungen W." seinen Edgar Wibeau reden ließ. Streng subjektiv, detailgenau und selbstkritisch, dabei ironisch ohne Schenkelklopfen und bekifft, ohne berauscht zu sein.


So ein Buch hat ein Ende, aber ein Happy End kann es nicht haben. Hier kommt irgendwann ein Hochwasser, der Vater rafft sich wieder auf, Frau Honecker wird nicht mehr gebraucht. Phillip geht nun doch nach Berlin.


Mittwoch, 19. August 2015

Mörder-Duo auf der Spur der Schweine

Die Krimi-Königin Anne Holt hat wieder ein Buch mit ihrem Bruder geschrieben.

Das US-amerikanische Cleveland. London auf der englischen Insel. Und Baerum bei Oslo - wenn die norwegische Krimi-Queen Anne Holt einen Thriller schreibt, dann internationalisiert sie gern. Die Handlung springt über Kontinente, der FBI-Ermittler müht sich mit Fällen in Skandinavien ab und der kleine Mord steht gern in einem großen globalen Zusammenhang.

Auch in „Infarkt“, dem zweiten Buch, das die Auflagenmillionärin aus Larvik zusammen mit ihrem Bruder Even geschrieben hat, hängt alles mit allem zusammen. Ein spektakulärer Kunstraub bringt den millionenschweren Unternehmer Najib Aysha um drei wertvolle Gemälde, außerdem sterben in einem von Aysha ausgehaltenen Fußballklub durchtrainierte Sportler an seltsamem Herzversagen.

Die norwegische Kardiologin Sara Zuckerman, vor fünf Jahren schon im ersten Holt&Holt-Roman „Kammerflimmern“ Hauptperson, wird gebeten, sich um die Lösung des Rätsels zu kümmern.
Die Arbeitsteilung unter den Holts ist klar: Even Holt, hauptberuflich Chefkardiologe eines Osloer Krankenhauses, liefert die fachlichen Hintergründe. Anne Holt, seit ihrem Debütroman „Blinde Göttin“ vor fast 25 Jahren eine zuverlässige Lieferantin hochwertiger Thriller-Kost, sorgt für Handlungsablauf, Spannungsaufbau und Personenzeichnung.

Auf den knapp 450 Seiten von „Infarkt“ funktioniert das hervorragend. Anne Holt, studierte Juristin, Ex-Fernsehjournalistin und danach sogar eine Zeit lang norwegische Justizministerin, schreibt in dem flüssigen US-Thrillerstil, den auch Stars wie James Patterson oder Hakan Nesser pflegen. Auf knappe Dialoge folgen pointierte Beschreibungen von Orten und Seelenlagen; Schauplätze, handelnde Personen und Blickwinkel wechseln im Kapiteltakt. Und sobald eine offene Frage beantwortet ist, wird der Leser mit wenigstens zwei neuen konfrontiert.

„Pageturner“ nennen die nie um blumige Bezeichnungen verlegenen Amerikaner diese Art von Büchern, die beste deutsche Übersetzung dafür ist vielleicht „Saugschmöker“: Ein Buch, das sich, einmal angefangen, nicht mehr aus der Hand legen lässt.

Bei den beiden Holts treibt die Ahnung auf dunkle Abgründe irgendwo in der Vergangenheit die Neugier. Statt andauernder Schießereien, Explosionen und viel Blut vertrauen die ehemalige Polizeijuristin und der Arzt auf den Thrill, der beim Abtauchen in moralische Abgründe entsteht. Es geht um Dopingschweinereien, um Geheimdienste, um die Unmoral, die jedem professionell betriebenen Sport innewohnt, und um Wissenschaftler, die ihr Gewissen im Namen des Fortschritts für viel gutes Geld verkaufen. „Infarkt“ ist ernst gemeinte Unterhaltungsliteratur. Ein Strandbuch, das Schatten spendet.

Montag, 18. Mai 2015

John Grisham: Ein anderes Wort für Gerechtigkeit

Sie gehört zu den Gewinnern, das Konto ist voll und die Zukunft lässt auf noch mehr hoffen. Die junge Anwältin Samantha Kofer wird erst aus ihrem Traum von der Karriere in einer großen New Yorker Anwaltskanzlei gerissen, als die Finanzkrise ihre Firma zwingt, die Belegschaft auszudünnen. Auch Samantha muss gehen. Weil es leider gerade keine Jobs für Immobilienanwälte gibt, verschlägt es sie nach Süden, in die Appalachen, wo sie ohne Bezahlung helfen soll, einer Kleinstadtkanzlei bei deren wenig lukrativen Kleinstadtfällen zu helfen.

John Grisham liebt solche Konstellationen, das wissen Millionen Leser spätestens seit den Welterfolgen „Die Firma“ und „Die Akte“. Auch bei „Anklage“, dem 23. Justiz-Thriller aus der Feder des heute 60-Jährigen, funktioniert die Methode wieder: Samantha Kofer findet sich in einer fremden Welt wieder - und sie muss bald erkennen, dass hier, hinter sieben Bergen, das wahre Leben wütet.

Es ist mehr Umwelt- als Justiz-Thriller, den Grisham da geschrieben hat, denn im Mittelpunkt der Ereignisse steht diesmal nicht ein Streit vor Gericht oder das Ränkespiel im Hintergrund eines Verfahrens. Stattdessen schildert der studierte Anwalt, welch verheerende Auswirkungen die Kohleförderung in West-Virginia auf die Natur des sogenannten Mountain State hat.

Geschleifte Berge, ausradierte Flüsse, vergiftetes Grundwasser, Grubenkumpel mit Staublunge, gierige Konzerne und Mordanschläge - natürlich bettet Grisham seine Beschreibungen der Apokalypse vor der Haustür in eine packende Handlung ein. In der muss die von echter Anwaltsarbeit unbeleckte Samantha Kofer Farbe bekennen: Will sie zurück an die Futternäpfe der juristischen Großindustrie? Oder ist sie bereit, den aussichtslosen Kampf gegen mörderische Konzerninteressen aufzunehmen? John Grisham hat mit „Die Akte“ schon vor 20 Jahren einen Thriller mit Öko-Hintergrund geschrieben. Hier aber steht der Öko-Gedanke im Vordergrund.

Donnerstag, 9. April 2015

Stephen Kings "Revival": Alles fängt mit E an

Gitarre spielt Stephen King eigentlich nur für den Hausgebrauch. Aber mit den Rock Bottom Remainders ist der Altmeister des Horror tatsächlich schon öffentlich aufgetreten. Die Klampfe hatte er hoch unter die Achsel geschnallt, das T-Shirt verschwand im Hosenbund und die Stimme krähte auf halb acht.

So ähnlich muss Jamie Morton aussehen, der Erzähler und Held von Kings neuem Roman "Revival". Ein abgewrackter Rock-Gitarrist ohne Illusionen, dafür aber mit einem Riesenrucksack aus Traumata auf dem Buckel, so beschreibt der 67-jährige Auflagenmillionär die Figur, die den Nachfolger des hochgelobten letzten Buches "Mr. Mercedes" beinahe allein wegträgt.

Das kommt, weil Stephen King sich auf seine Stärken besinnt. Statt Monster und Gespenster zu bemühen, verlegt er sich wie zuletzt häufiger darauf, einen untergründigen, unausgesprochenen Schrecken heraufzubeschwören. Furcht kommt nicht von außen, Furcht kommt von innen, das Grauen wartet nicht in der Kanalisation wie noch bei "Es", sondern hinter der Straßenbiegung, wo der Traktor steht, den deine Frau und dein kleines Kind gleich mit voller Geschwindigkeit rammen werden.

Jamie Morton ist sechs, als das Buch beginnt und der Kleinstadtjunge dem Priester Charles Jacobs zum ersten Mal begegnet. Jamie weiß nicht, dass der begeisterte Hobby-Elektroniker sein großer Gegenspieler werden wird. Er ahnt nicht, dass er eines Tages seinetwegen vom Glauben abfallen muss. Er liebt den Mann, und er liebt ihn noch viel mehr, nachdem er seinem Bruder mit einem kleinen Trick die verlorene Sprache zurückgegeben hat.

Die großen Momente von Kings Schreiben kommen hier zusammen. "Stand by me" ist das, die mit River Phoenix und Kiefer Sutherland verfilmte Novelle, die der Mann aus Maine heute für eine seiner besten Arbeiten hält. Der "Friedhof der Kuscheltiere", der für eine Idylle mit Schatten steht. Und "Shining" natürlich, die klaustrophobische Studie eines in den Wahnsinn abgleitenden Autors. Geschütteltes Grauen, gewürzt mit Prisen aus Werken von Mary Shelley, Ray Bradbury und H.P. Lovecraft, so wird aus "Revival" ein Comeback für den Erzähler King.

Der lässt hier Zeit, er fesselt seine Leser ohne vordergründige Effekte. "Revival" ist anfangs das Porträt einer Kleinstadt in den amerikanischen Baby-Boomer-Jahren, das zum Porträt einer Kleinstadtjugend in den 70ern wird. Die Welt ist gut hier, die Zukunft offen, die Menschen mögen einander.

Das Böse schwebt wie ein Nebel durch die Straßen, während Jamie Morton erwachsen wird und die Bluesmusik für sich entdeckt. Reverend Charles Jacobs aber, nach dem Unfalltod von Frau und Kind kein Mann Gottes mehr, zieht umher und tut Gutes, auch seinem früheren Schützling Jamie, den er, inzwischen Chefscharlatan einer eigenen bizarren Kirche der Elektrizität, von seiner Heroinsucht heilt.

Es wimmelt hier von Anspielungen und Querverweisen, von Zeitsprüngen und liebenswerten Nebenfiguren. Stephen King, ein großer Zitierer schon immer, baut auf Bruce Springsteen und Edgar Allen Poe auf, doch im Grunde sucht er nach dem Sinn des Lebens, das seinem Protagonisten mit zunehmendem Alter scheint wie das Experiment mit dem Frosch im Kochtopf: Je langsamer die Temperatur steigt, desto weniger spürt der Lurch, dass er gekocht wird.

Die Geschichte atmet hier seitenlang für ihre Leser, King spielt mit der Erwartung seines auf Spuk konditionierten Publikums. Aber er erfüllt sie nicht: Trotzig dreht er ab, wechselt die Richtung, legt falsche Fährten und lässt die elektrisch aufgeladene Atmosphäre so je mehr knistern, je näher er dem unausweichlichen Finale kommt.

Das erlebt Jamie Morton als alter Mann, von einer Aufgabe nicht weniger erfüllt als sein Gegenüber. Die letzten großen Fragen stehen zur Debatte, die Rätsel des Jenseits, der Blick über den Horizont. "Revival" endet, wie Stephen King seine Bücher so gern enden lässt: Der Leser bleibt zurück mit roten Ohren und offenem Mund.

Stephen King: "Revival", Heyne Verlag, 512 Seiten, 22,99 Euro


Freitag, 10. Januar 2014

Acht an die Macht

Sie waren zu acht, sie verbarrikadierten sich für acht Tage in einer einsamen Villa im Nirgendwo. Und kamen schließlich wie geplant mit einem fertigen Kriminalroman nach Hause, erdacht von acht Köpfen, geschrieben zu 16 Händen. Entsprechend heißt das Werk auch „8“ und die Autoren Tatjana Kruse, Carsten-Sebastian Henn, Sabine Trinkaus, Kathrin Heinrichs, Sandra Lüpkes, Peter Godazgar, Jürgen Kehrer und Ralf Kramp zeigen hier auf 295 Seiten erstmals weltweit, dass auch Literatur kollektiv erstehen kann.

Was da im Krimi-Camp erdacht und aufgeschrieben wurde, hat sogar Züge von einen der neuerdigs so angesagten Thriller. Ein Serienmörder geht um, ein argloser Unbeteiligter wird zur Zielscheibe des Unbekannten und rückt zugleich als Hauptverdächtiger ins Visier der Polizei. Atemlos hetzt jener frischgefönte Radiomoderator Andreas Otto durch eine Handlung, von der sich kaum vorstellen lässt, dass ihre einzelnen Bestandteile gleichzeitig entstandensind. Der Ton der von den acht Autoren verfassten Kapitel findet eine Harmonie, trotz all der – zeitgenössisch schick auf höchstbrutal getrimmten – Morde bleibt immer Raum für ein mögliches Lächeln, einen Seitenhieb auf die Gegenwart und einen Subtext, der suggeriert, dass all dies hier nicht nur ein lesenswerter Skandinavian-Thriller ist, der ganz zufällig in Deutschland spielt. Sondern nebenher auch noch ein literarisches Experiment, das Krimifans, konsequent zuende gedacht, künftig pro Jahr um die 50 Bücher der Achterbande bescheren könnte.

Wird nicht passieren, aber zumindest geht Peter Godazgar demnächst mit dem ersten und einzigen Achterbuch auf die Lesebühne. Am 14. Januar tritt der hallesche Autor im Mojo zum Heimspiel an.


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Dienstag, 27. November 2012

Nicht noch ein Kreuzfahrt-Roman


In „Tod auf der Donau" wagt der Slowake Michal Hvorecky den dreifachen Spagat zwischen Krimi, Groteske und Reiseroman


In „Schrecklich amüsant – aber in Zukunft ohne mich" hat David Foster Wallace schließlich alles geschrieben, was über die Kreuzfahrer von heute zu sagen war. Allerdings eben nicht so, wie es der Slowake Michal Hvorecky in seinem dritten Roman „Tod auf der Donau" tut. Der schwarze Humor ist hier in Galle getränkt, denn der Albtraum wird nicht wie bei Foster von einem Beobachter, sondern von einem Mittäter erzählt. Der heißt Martin Roy, ist diplomierter Übersetzer aus Bratislava, aber mittellos genug, sich als Tour-Direktor bei einer Kreuzfahrtgesellschaft zu verdingen. Deren Kunden rekrutieren sichunter alten, mehr oder weniger gebrechlichen Amerikanern, denen Roy in seiner dritten Saison etwa noch so viel Respekt entgegenbringt wie ein Hund seinem Haufen.


Alle sind sie dick. Alle sind sie dumm. Immer fragen sie, wer dieser Mozart gewesen ist. Und immer loben sie, dass Regensburg fast so schön sei wie Frankfort/Kentucky. Roy ist ein Diener, der in seiner Rolle aufgeht. Zumindest, bis seine Jugendfreundin Mona unerwartet an Bord auftaucht. Das Buch, für das Hvorecky mit dem „Grenzgänger"-Stipendium auf Donau-Schiffen recherchieren konnte, kippt nun von der Urlaubssatire Marke „Hummeldumm" zur Persiflage auf den Klassiker „Tod auf dem Nil". Geldkoffer tauchen auf, Leichen liegen herum, die Situation droht außer Kontrolle zu geraten.

Sie täte es, wären da nicht die langen, ruhigen Passagen, in denen der 1976 in Bratislava geborene Autor in die Geschichte des Flusses führt, auf dem der „America" getaufte Luxusliner mit seinen 120 Passagieren dahin schippert. Michal Hvorecky liebt den Wasserlauf, in dem sich seine österreichische Kollegin Brigitte Schwaiger vor zwei Jahren das Leben nahm. Wo er sonst zynisch ist, schwelgt er plötzlich, wo er anklagt und auch gleich aburteilt, erwägt er nun und sinniert. So ist es ein gleich dreifacher Spagat, der hier vorgeführt wird. Einerseits ist da der Reiseroman, angereichert mit Momenten einer Beziehungsgeschichte. Andererseits schreibt Hrovecky einen Krimi. Drittens schließlich wird aus dem Reigen der vorüberziehenden Porträts von Passagieren, Kapitänen und Flussanwohnern eine „Doku-Postkarte im Breitwandformat" als die Foster Wallaces Buch einst gelobt wurde.

Die „America" treibt durch Österreich, durch Ungarn, an Bulgarien und Rumänien vorbei. Langsam wird klar, dass alle an Bord Gefangene des Flusses sind – die Touristen, die viel Geld dafür bezahlen, aus ihren Kabinen auf die Ufer starrenzudürfen. Aber auch die Angestellten, die der Zusammenbruch der Wirtschaft in ihren Heimatländern treibt, im Zwischendeck Wäsche zu bügeln, vor Kunstbanausen Strauss zu spielen und hanebüchene Fragen nachdem Barock so zu beantworten: „Das war eine politische Diktatur, das wollen Sie in Amerika nicht haben."

Da nickt der Kreuzfahrer. „Genau, was wir jetzt brauchen ist eine gute Wirtschaftslage!" Der Schiffsdirektor aber lächelt nicht einmal mehr innerlich. Zusehends verlieren Besatzung und Passagiere den Kontakt zur Wirklichkeit. Natürlich, es ist viel luxuriöser hier als auf B. Travens „Totenschiff". Cocktails werden gereicht, pünktlich fahren Busse vor, um die längst völlig desorientierten Amerikaner in Kirchen und zu Märkten fahren. Doch der der Untergang ist nahe. Der Kapitän betrinkt sich, das Wasser wechselt die Farbe von Grau zu Braun und dann zu Schwarz. Am Ufer grasen klapperdürre Ponys. In der Nacht bricht ein Brand aus, am Morgen ist keine Spur mehr da von der „America". Roy flüchtet ins Kloster, bis seine Mona sich meldet. Viel, viel später gibt es ein Happy End. Aber kein glückliches.