Mittwoch, 16. September 2015

Der unendliche Streit um Emil Abderhalden

Der bekannte Lokalhistoriker Knut Germar (Mitte am Pult) fand heraus, dass Abderhalden kein Nazi war, aber von "greisem Größenwahn" besessen. 

Spätestens mit dem Gutachten des unabhängigen Historikers Knut Germar (Foto oben) schien die seit Jahren tobende Diskussion um eine Umbenennung der Emil-Abderhalden-Straße in Halle beendet. Germar, ein überaus öffentlichkeitsscheuer Gutachter, bezeichnete Abderhalden zwar als „völkischen Denker“, für den „jeder undeutsch war, der sich der Arbeit entzieht“. Abderhalden habe zudem der "Tüchtigkeit" das Wort geredet und selbst noch in „greisem Größenwahn“ von einer wahren Volksgemeinschaft geträumt, so der Lokalhistoriker. Doch ein Nazi sei der Schweizer Professor nicht gewesen - und damit sei es "auch egal", ob die nach ihm benannte Straße umbenannt oder nicht umbenannt werde.

Ein Urteil, erstellt aufgrund ausgiebiger Studien und Zeitzeugenberichte aus zweiter Hand, denn die Arbeit mit Zeitzeugen lehnt Germar ab. Diese seien grundsätzlich unzuverlässig.

Dennoch wirkte es für einige Wochen nach seiner Wortmeldung so, als sollte sich die Umbennungsfraktion zufrieden geben. Zumal auch das amtliche Gutachten der Leopoldina, auf das die Diskutanten mehrere Jahre lang gespannt gewartet hatten, wenig später nicht viel anderes zu Tage förderte: "Ein lupenreiner Demokrat war er sicherlich nicht, aber auch kein Nationalsozialist. In ihm bündelte sich die komplexe Widersprüchlichkeit seines Zeitalters", sagte Professor Wolfgang Eckart bei der Vorstellung, die ein Schlusswort hätte sein können.

Aber Schluss ist damit immer noch nicht, denn nun verlangt die unterlegene Partei einen Kompromiss zu ihren Bedingungen: Nach fünf Jahren Zwist, der ohne ausreichende Datenbasis losgebrochen und über weite Strecken völlig ohne Scham und Faktenkenntnis geführt wurde, schlägt die Stadtratsfraktion der Grünen nunmehr eine Teilung der Emil-Abderhalden-Straße vor.

Als sei eine halbe Ehre allemal genug für jemanden, den man sowieso nie leiden konnte.

Freitag, 11. September 2015

Glück macht dick

Männer mit Trauschein neigen zu höherem Gewicht - und ihre Frauen auch.

Sobald der Ring am Finger steckt, ist es aus mit dem Trainingseifer. Vor allem Männer, so das Ergebnis einer Umfrage von Forschern des Berliner Max-Planck-Instituts unter 4 555 Europäern aus neun Ländern, neigen dazu, sportliche Aktivitäten zu vernachlässigen, sobald sie meinen, die Frau fürs Leben gefunden zu haben.

Keine ganz neue Erkenntnis, denn dass Verheiratete fast doppelt so häufig unter Übergewicht leiden wie Singles, hatte das Statistische Bundesamt bereits vor einigten Jahren anhand unwiderlegbarer Zahlen nachgewiesen: Unter den übergewichtigen Frauen sind in der Regel doppelt so viele Verheiratete wie Singles, bei den Männern hat nur ein Drittel der Junggesellen die schweren Gewichtsprobleme, mit denen stolze 66 Prozent der Ehemänner kämpfen.

Die Ursache dafür liegt nach übereinstimmenden Vermutungen der Fachwelt darin, dass Singles verstärkt Wert auf ihr Äußeres legen, mehr Zeit für Sport nehmen und häufig unterwegs sind, um mögliche Partner kennenzulernen. Außerdem, heißt es bei der Gesellschaft für Ernährungsmedizin und Diätik in Bad Aachen, hätten Singles oft einen Lebensrhythmus, der wenig Wert auf regelmäßige, gemütliche Mahlzeiten legt.

Die ewige Jagd hält schlank, macht aber nicht glücklich, wie die Psychologin Andrea Meltzer von der Southern Methodist University in Dallas herausgefunden hat. Danach heißt verheiratet sein zwar häufiger, dick zu sein. Gute Nachrichten für Übergewichtige mit Ehering: Das gilt nur dann, wenn die Ehepartner miteinander glücklich sind.

Sonntag, 6. September 2015

Egon Krenz: Der Libero der DDR



Er war die Nummer 3 im Staate DDR, aber gegen den bayrischen Ministerpräsidenten Franz-Joseph Strauß hatte der frühere hallesche SED-Chef, spätere DDR-Ministerpräsident und Volkskammer-Vorsitzende Horst Sindermann keine Chance. Der Mann, der mit dem Bau der sozialistischen Chemiearbeiterstadt Halle-Neustadt Geschichte schrieb, schafft es zum 100. Geburtstag gerademal noch in den Berliner Kurier. An den Regionalpolitiker aus dem Westen, dessen größter Erfolg eine gescheiterte Kanzlerkandidatur war, erinnern "Spiegel", Bild und Deutschlandradio.

Zum Erinnern nach Halle muss da schon Egon Krenz kommen, letzter SED-Regierungschef der Arbeiter- und Bauernrepublik. Auf Einladung der "Rotfüchse", einer Art Nachkriegs-FDJ, stellt der einst führende Genosse die Sindermann-Autobiografie vor. "Vor Tageslicht"hatte Sindermann geschrieben, als es mit der DDR langsam zu Ende ging und seine eigenen Zweifel an der Richtigkeit der Politik der Partei, in die er als Schüler eingetreten war, wuchsen.

Es geht um Sindermanns Zeit im KZ im Buch, doch Krenz spricht natürlich vor allem von der Zeit danach. Vor einem Publikum, dass hauptsächlich aus Menschen besteht, die die DDR bis heute als ihren Staat begreifen, arbeitet sich der frühere FDJ-Vorsitzende an der medialen Darstellung dessen ab, was die DDR seiner Ansicht nach nie war. Ein Unrechtsstaat? In dem Nazis geschont wurden? Der damit für fremdenfeindliche Übergriffe heute verantwortlich ist? Krenz, als SED-Funktionär immer eine steife Figur mit gefährlichem Krokodilgrinsen, ist in seinem derzeitigen Amt als letzter und hochrangigster Verteidiger der DDR locker, leicht und zu Scherzen aufgelegt.

Seine 78 Jahre sieht man dem gebürtigen Pommer nicht an, wenn er zugespitzt argumentiert, Meldungen aus der "bürgerlichen Presse" (Krenz) verliest, um sie ganz auf Parteilinie zu zerpflücken, und vor seinen Zuhörern, die er gern als "Genossen" anspricht, jede Fehlerdiskussion vermeidet. Krenz ist sicher: Was in der DDR falsch lief, lang an subjektiven Fehlern. Was heute im Einheitsdeutschland nicht stimmt, hat seine Ursache im kapitalistischen System.

Was danach noch an Angriffen aufs Tor kommt, schlägt der Libero geradezu amüsiert weg. Delegitimiert werden solle die DDR und mit dieser Delegitimation auch das Leben von Millionen, sagt er. Der "Westen", sagt er, rede heute ja schon gar nicht mehr von der DDR, sondern nur noch vom "Osten", als habe es dieses andere deutsche Land nie gegeben. Er, Egon Krenz, werde weiter gegen diesen Versuch der Umschreibung von Geschichte streiten. Im Saal klatschen die Leute. Dann gibt Egon Krenz einer langen Schlange von Buchkäufern Autogramme.

Donnerstag, 3. September 2015

Gerhard Gundermann: Wie ich IM Grigori wurde



Im Sommer vor 20 Jahren hatten dann alle seine Akte. Der Stern recherchierte, die ARD bat andauernd um Rückruf. Die Gauck-Behörde hatte, nachdem auf einen Antrag hin eine IM-Akte zum ostdeutschen Liedermacher Gerhard Gundermann aufgetaucht war, nicht nur eine Kopie der zweibändigen Sammlung von Protokollen und Treffberichten herausgegeben, sondern ein Dutzend.

Die Luft für Gerhard Gundermann wurde dünn. Doch Conny Gundermann, seine Frau, war „irgendwie erleichtert, als es endlich raus war: der Gerhard war ja in den letzten Monaten gar kein Mensch mehr", beschreibt sie. Nur noch „rumgegrübelt" habe er, und überlegt, wie er es den Leuten sagt. „Sagen musste er es, das ist er seinem Publikum schuldig", war für Conny Gundermann schon lange klar. Gerhard Gundermann, der drei Jahre  später mit nur 43 Jahren völlig überraschend sterben sollte, über seine Zeit als „IM Grigori", die ihn 1995 einen großen Plattenvertrag, die Einladung einer großen Managementfirma und die Anerkennung der Westmedien kostete.

Hast Du damit gerechnet, dass irgendwann jemand kommt und dich auf die Zeit zwischen 1976 und 82 anspricht?

Gundermann: Es sind doch schon mehrere gekommen. Und dann habe ich immer gesagt, ja, so war das. Aber viele sind es nicht gewesen. Und ich hatte diese ganze Geschichte, nein, nicht vergessen, auch nicht abgehakt, aber irgendwie beiseite geschoben. Ich habe darüber nachgedacht und bin irgendwie darauf gekommen: man kann mit dem ganzen nur im Raum DDR umgehen. Aber der Raum DDR ist ja weg. Also habe ich für mich gesagt, das ist erledigt. Ich habe mich weder um meine Opfer-, noch um meine Täterakte gekümmert.

Hast du damals gewusst, dass du an OV und OPK beteiligt bist?

Gundermann: Nein, dass hat mir jetzt erstmal jemand übersetzen müssen, was das überhaupt ist. Die haben damals immer gesagt, „Schätze mal den und den ein". Eine ganze Reihe von denen sind dann später IM geworden, als ich nicht mehr dabei war. Ich habe sie empfohlen, und dann hatte ich sie auf dem Hals. So ist das.

Was willst Du nun tun?

Gundermann: Ich versuche, auf die Leute zuzugehen. Nachdem ich meine Akte gesehen hatte, habe ich versucht, rauszukriegen, wer denn nun hinter den Ovs und OPKs steckt. Das muss man ja erstmal entschlüsseln. Einen habe ich angerufen, der hat mich dann zu sich bestellt. Ich bin hingefahren - und der hat mich abtropfen lassen. Er wollte nicht mit mir drüber reden, er hat einfach gesagt, er hätte die Unterlagen jetzt nicht da. Ist ja sein gutes Recht. der ist ja jetzt am Zug. Vielleicht verarscht der mich auch bloß.

Was hast du denn über den berichtet?

Gundermann: Arroganten Mist. Der Gag war der: Der wollte immer in den Westen und die Stasi wollte ihn weghaben. Hätten die sich ausgesprochen miteinander, hätten die sich viel Mühe und Stress sparen können. Die andere OPK, an der ich beteiligt war, ist dagegen ziemlich harmlos. Ich habe jetzt auch mit dem gesprochen, und es stellte sich raus - der hatte die ganze Zeit Angst, dass ich seinen Namen in meiner Opferakte finde. Der hatte nämlich da angefangen, als ich aufgehört habe. (unter Video geht es weiter)




Welche Einschätzung hast du selbst von deiner Tätigkeit?

Gundermann: Meine Definition ist inzwischen so: Ich habe mich schuldig gemacht vor mir selbst, vor der Idee des Sozialismus. Ob ich mich an anderen Menschen schuldig gemacht habe, muß ich erst noch rauskriegen. Mit dem, was ich bisher weiß, kann ich leben, ohne daß ich mich aufhängen muß.

Aber solche Sachen wie die Funkgeräte-Nummer, wo du zwei Bekannte verraten hast, die Funkgeräte aus Italien eingeschmuggelt hatten - das ist doch Petzerei, das ist doch hochgradig unanständig.

Gundermann: Ja, klar. Das ist eklig. Aber es war doch so: Ich habe doch mit denen über alles mögliche geredet, und nie ist was passiert. Der Typ mit den Funkgeräten hat nie Ärger bekommen. Dabei hatte der eine unheimliche kriminelle Energie. Der klaute, auch wenn er Geld in der Tasche hatte. Der benutzte den Singeklub, um Privatgeschäfte zu machen. Ich dachte damals, in dem Moment, wo die mir vertrauen, daß ich alles weiß, trauen sie mir auch zu, daß ich alles im Griff habe. DaSS die also nicht eingreifen. Mir war ja die Gruppe wichtiger als der eine Typ. Das zumindest hat ja auch geklappt.

Wofür hast Du das Geld bekommen, über das die Stasi zwei lange Quittungslisten geführt hat?

Gundermann: Die kleinen Summen sind Kaffee und Kuchen. Was so im Februar ist, müssen Geburtstagsgeschenke sein. Und einmal die 161 Mark sind für den Fotoapparat, den sie mir gekauft haben, damit ich im Westen für sie fotografieren kann. Und die Filme. Beim ersten Treffen hat mir der Leutnant Stasch 50 Mark gegeben. Das sei so üblich. Aber ich habe mir das dann überlegt, und beim nächsten Mal gesagt, daß ich kein Geld haben will. Da hieß es dann: Das gibt's nicht, denn mit allen, die kein Geld haben wollen, stimmt irgendwas nicht. Ich hab´s trotzdem nicht genommen.

Dafür gab´s dann später eine ganze Reihe von Auszeichnungen?

Gundermann: Und jedesmal ein blödsinniges Theater. Die Artur-Becker Medaille haben sie mir gezeigt, und dann wieder mitgenommen. Die 250 Mark, die da dranhingen, konnte ich behalten. Für den Einsatz in Ungarn gab's eine Obstschale aus Blech. Die habe ich weggeschmissen.

Wie hast Du die Treffs mit denen getarnt?

Gundermann: Gar nicht. Ich war doch solo, mich hat doch keiner gefragt, wo ich hingehe.

Welches Verhältnis hattest Du zu dem Leutnant Stasch, der ja über Jahre dein Ansprechpartner war?

Gundermann: Wie soll ich das jetzt sagen. Ich habe doch in jedem Verein erstmal gedacht, jetzt bin ich bei den Schlauen gelandet. Und wenn ich bei den Guten bin, sind automatisch alle Sachen, die wir machen, gut. Mein eigener Maßstab hat sich erst später wieder eingeschaltet. Ich habe erst später gemerkt, dass die mich nicht als Partner behandeln. Ich hoffte, die warnen mich, wenn auf der Parteischiene wieder was gegen mich läuft. Haben sie aber nicht gemacht.

Also kein besonderes Verhältnis zu Stasch?

Gundermann: Das war nur der Nimbus. Die Leute selber habe ich mir bloß kluggeredet. Der Voigt zum Beispiel, der zweite, der ab und zu kam, der war immer unglücklich, weil er nicht verstanden hat, was ich ihm erklärt habe.


Warst Du ein guter Spion?

Gundermann: Nein. Glaube ich nicht. Die haben mich zwar in den Akten immer als ergiebig und gut eingeschätzt, aber das war doch auch bloß, damit die nach oben gut aussahen. Zum Beispiel nach der Ungarn-Kiste, wo ich zwei Fluchthelfer in die DDR locken sollte. Da habe ich mich so geschämt, weil da alles schief ging. Die haben alle gewusst, was ich für ´ne Larve bin. Aber die haben das als gute Operation eingeschätzt. Ich dachte, ich krieg' nur ´ne Obstschale, weil ich schlecht war. Aber da habe ich mich geirrt. Die fanden mich Klasse. Ich weiß auch nicht, warum.

Wenn du heute die Akte liest, was denkst du dabei?

Gundermann: Die ganzen Dinger mit Planschwindel aufdecken, melden, wenn die Chefs im Betrieb klauen, die Forderungen nach mehr Geld für die Basiskultur in Hoywoy, das ist alles okay. Wo ich für die Brigade Feuerstein gegensteuern wollte, wo was über FDJ und Partei schief lief, war zumindest gutgemeint. Aber was Scheiße ist, sind die persönlichen Sachen. Die Petzberichte, diese widerlichen Arien. Das ist ganz dolle Scheiße.

Aus welcher Motivation hast Du denn das gemacht?

Gundermann: Ich weiß es nicht.

Irgendwann kam der Punkt, an dem du nicht mehr hingegangen bist. Weiß Du, warum?

Gundermann: Ich war sauer geworden. Ein riesengroßer Apparat war mit einem Riesenaufwand damit beschäftigt, Kinderkacke zu produzieren. Diese blöde Sicherheitsdoktrin: wenn ein Mensch ein Problem hat, schafft man nicht das Problem ab, sondern den Menschen. Das ist mir aufgefallen, auch wenn ich ein langsamer Denker bin. Das ganze Land kochte, und die hatten nur Scheiße im Kopf. Zum Schluss bin ich nur noch hingegangen, um denen das begreiflich zu machen, Aber die wollten das nicht hören.

Aber du hast es versucht. War das naiv?

Gundermann: Ja, wahrscheinlich. Ich wollte immer meine Kraft zur Verfügung stellen, und merkte dann immer, daß ich Leuten diene, die überhaupt nüscht auf der Lampe haben. Ich bin dahintergekommen, dass ich die Verantwortung für mein Handeln selber übernehmen muss. Das ist die Lektion, die ich gelernt habe. Leider zu spät.

Wie hast du dann erlebt, dass du ein Thema für die wurdest?

Gundermann: Naja, eigentlich erstmal gar nicht. Ich habe mich ja nicht unbedingt mit der Stasi angelegt. Ich habe mich doch mit Werner Walde, dem SED-Chef von Cottbus, in den Haaren gehabt. Für den war ich ein rotes Tuch. Das ging soweit, dass wir 1988 überlegt haben, ob wir uns pro forma scheiden lassen, damit ich nach Berlin umziehen kann, und aus dem Herrschaftsbereich von dem Walde rauskomme. In Cottbus sind ja Filme und Lieder verboten worden, die überall anders liefen. Also bei SED und FDJ war ich für viele der Spezialfeind. Die hatten Leute auf mich angesetzt, haben Journalisten verboten, über mich zu schreiben. Darüber waren die Stasileute auch ziemlich unglücklich. Die arbeiteten ja mit mir, und dann wurde immer gesagt, dass ich der Böse bin. Von der Partei wurde alles, was ich machen wollte, torpediert: private Kulturinitiativen, Veranstaltungsreihen. Bloß ein Telefon haben wir sofort bekommen, als wir eins haben wollten. (lacht)

Ist das auch ein Grund, warum du nie den Sprung zum vollprofessionellen Künstler gemacht hast? Dass Du Angst hattest, von der Gnade irgendwelcher Kulturfürsten abhängig zu werden?

Gundermann: Ja, ich hatte keine Lust, mich prostituieren zu müssen, um die Band bezahlen zu können. Mir ist lieber, daß ich wie jetzt Konzertanfragen absage, weil ich Schicht habe, als dass ich rumrenne, und um Engagements bettele. Ich wollte mir damals immer die Freiheit bewahren, eine Mugge, die mir nicht passt, absagen zu können, auch wenn ich viel verdienen könnte, und dafür eine Sache zu machen, die mir gar nichts einbringt. Heute ist das im Grunde genommen noch viel schlimmer. Du musst dich schnell verbiegen, um zu überleben. Das will ich nicht. Aber schon durch die Band bin ich da nicht mehr ganz frei, denn die Jungs müssen ja verdienen.

Wie sind die Reaktionen auf die MfS-Sache? Mußt Du Angst haben, die Band und deine Familie bald nicht mehr ernähren zu können?

Gundermann: Der Chef meiner Plattenfirma, wusste es schon länger. Er verstand es. Vivi Eickelberg, die Managerin von Heinz Rudolf Kunze und Herman Van Veen, der ich das auch schon früher erzählt habe, hat es auch ziemlich unaufgeregt genommen. Auch die Silly-Leute, Tamara, andere Kollegen, denen ich es erzählt habe, und die Musiker meiner Band. Alle Leute, die im Osten mal Verantwortung getragen haben, wissen ja, dass ohne die oder gar gegen die nichts ging. Damals musste man die doch als Verbündete in Betracht ziehen, auch wenn das ein Risiko war. Die Alternative war totale Verweigerung - und scheinbar haben die Verweigerer recht behalten. Die können heute sagen: Wir haben eine weiße Weste, wir haben es schon immer gewusst, so wie wir gelebt haben, war es okay, alle anderen sind Schweine. Ich kann damit nichts anfangen. Ich muss immer was tun. Schade ist bloß, dass genau das Gegenteil von dem rausgekommen ist, was ich wollte: das Prinzip Sozialismus wurde auf allen Ebenen verheizt, nicht nur ganz oben, und ich habe mitgemacht. Ich habe Demokratie verhindert, ich habe dafür gesorgt, dass am Ende die Mehrheit der Bevölkerung gegen die Idee war. Das ist meine Schuld, damit muss ich klarkommen. Was das Publikum jetzt zu der Sache sagt, weiß ich noch nicht. Wenn mich jetzt keiner mehr sehen will, kann ich das verstehen. Das ist ihr gutes Recht. Dann mache ich erstmal zwei Jahre Pause. Vielleicht haben sie mir ja danach verziehen.

Dienstag, 1. September 2015

Pankow live: Zuviel rumgerannt


den alten krimi so oft gelesen
rohe spaghetti zu viel gekaut
zu lange geschlafen
zu oft gebadet
und vor allem zu viel fernsehen geschaut
ich bin rumgerannt
zu viel rumgerannt
zu viel rumgerannt
ist doch nichts passiert

zu viele frauen nur angeseh'n
zu viel nur mit mir rumgespielt
zu viel gesoffen
zu viel geredet
zu viele nächte wo nichts passiert
ich bin rumgerannt
zu viel rumgerannt
zu viel rumgerannt
ist doch nichts passiert

das selbe land zu lange geseh'n
die selbe sprache zu lange gehört
zu lange gewartet
zu lange gehofft
zu lange die alten männer verehrt
ich bin rumgerannt
zu viel rumgerannt
zu viel rumgerannt
ist doch nichts passiert

ich bin rumgerannt
zu viel rumgerannt
zu viel rumgerannt
ist doch nichts passiert

Donnerstag, 27. August 2015

Pankow 1985: Im Rockpalast des Ostens


Ist es eine Ehre, wenn eine Schriftstellerin einer Rockband Kritik hinterherwirft? „Das Werk, das sich die jungen Künstler vorgenommen haben, krankt daran, daß der Entwurf „Mensch“ zu klein geraten ist und insgesamt nicht einmal durchschimmert. Die Reflexionswelt dieses jungen Mannes, der mir hier an der Peripherie langgeführt wird, läßt mich kalt. Was wäre denn, wenn er „aus dem Arsch“ käme? Was wäre denn dann, wonach würde er streben, wen denn könnte seine Käsigkeit beglücken? Man muss ja noch froh sein, dass dieser chronische Miesmacher, Nörgler und Muffel nicht aktiver ist, sonst wäre er gänzlich unerträglich“, urteilte Gisela Steineckert Anfang der 80er Jahre über die ersten Stücke der Berliner Band Pankow.

Die ist jetzt wieder da, nach langer Zeit, in alter Besetzung und mit alten und neuen Liedern, Steineckert, die ewige Miesmacherin, wurde überlebt. Zeit für einen Blick zurück auf eine Begegnung mit André Herzberg in Zeiten, von denen heute sicher ist, dass sie nicht die allerbesten waren.

"Aufruhr in den Augen" (Plattentitel) hatte die Gruppe um Sänger André Herzberg und respektlose Sprüche im Mund. "Wenn wir in die Städte kamen, standen die Leute hinter den Gardinen", erinnert er sich. Heute bewegt sich kein Fensterladen, wenn Herzberg einreitet. Spärlich besucht die Klubs, wo er die Gitarre einstöpselt, karg die Gagen und der Applaus dünner als das Klimpern der Gläser in der Spültheke.

Seinerzeit hätten sie alles weggeblasen. Mit einem Gemisch aus rauem Rock und Texten in rüdem Alltagsdeutsch setzten sich die fünf Berliner Musiker hörbar ab von der Ost-Konkurrenz. Pankow gaben sich volksnah und unverblümt - Herzberg sang keine Poesiealbum-Verse, sondern lebenspralle Geschichten von gelangweilten Lehrlingen, fiesen Brigadeleitern und verlogenen Eltern.

In den Konzertsälen feierten Herzberg und sein kongenialer Gitarrist Jürgen Ehle so große Triumphe, dass die Monopol-Plattenfirma Amiga, die das Rockmusical "Paule Panke" noch wegen "ideologischer Unklarheiten" abgelehnt hatte, schließlich eine Platte mit ihnen machen musste. Zensiert allerdings: Das Cover wurde in letzter Minute ausgetauscht.

Herzberg, aufgewachsen in einer streng kommunistischen Familie und zum "Urglauben an das System" erzogen, lächelt nur. "Wir glaubten damals wirklich, dass wir gefährlich sind." Und gefährlich hatte er sein wollen, seit er mit 16 anfing zu zweifeln am Sozialismus, auf den zu Hause nichts kommen durfte. "Auf einmal spürst du, der Prinz ist ein stinkendes Monster." 


Die Enttäuschung sei unendlich gewesen: "Man ist gekränkt, wenn Kinderträume nicht wahr werden." Aus dem Jungen, der zwar immer im Mittelpunkt stehen wollte, aber "jahrelang nicht in der Lage war, sich zu artikulieren", wird der Klassenkasper André. Herzberg organisiert sich so das Privileg, sich austoben zu dürfen: Alle Ernsthaftigkeit versteckt hinter der Maske des Clowns.
Mitten durch die Familie läuft die Front, die die ganze DDR durchzieht. 


"Meine Eltern hatten sich in ihrer Welt eingerichtet, wir Kinder haben opponiert." André ist 17, als es im Hause Herzberg zu "heftigen Reaktionen der Ablösung" kommt. Mit 18 ist er entschlossen, in den Westen zu gehen, doch vorher holt ihn die Volksarmee. André, ein kleiner Mann mit freundlichen Locken, trainiert besonders aufmerksam an der Kalaschnikow. "Ich dachte, man braucht das, um die Funktionäre mit der Waffe in der Hand aus dem Land zu jagen."

Herzberg ist damals, das weiß er heute, "ganz hart drauf". Muff und Mangel und Müdigkeit überall! "Ich habe es gehasst." Die Musik erst stoppt die Terroristenkarriere. "Gitarre statt Knarre", strahlt der 43-Jährige mit samtbraunen Mädchenaugen. Der geplante Umzug in den Westen fällt flach. Auch der Idealist Herzberg ist nur ein Mensch: "Erfolg korrumpiert."


Zumal, wenn man sich im tiefen Einverständnis mit seinem Publikum fühlen darf. "Die Beschränkung gab den nötigen Pfeffer, wir fühlten alle dasselbe und verstanden uns blind." Pankow-Lieder wie "Langeweile", das von alten Männern berichtet, die man zu lange verehrt habe, werden so zu geheimen Hymnen. Der Ostrundfunk wagt es selbst im Sommer '89 nicht, den Song zu spielen. "Aus Rücksichtnahme auf den angegriffenen Gesundheitszustand des Generalsekretärs", wie es heißt.


"Aber eigentlich haben die uns ja gelobt", zweifelt der Sänger und Komponist aus der Distanz eines Jahrzehnts am Wirkungsgrad der eigenen Widerständigkeit. Von wegen aufgemuckt, von wegen zuviel riskiert. Kopfschüttelnd nur hat Herzberg seine Stasi-Akte lesen können: "Wir glaubten, wir machen Aufruhr, und die lachten sich kaputt." Viel zu harmlos sei er gewesen, viel zu versteckt seine Kritik. "Genau genommen müssten wir uns alle schämen."


Noch schlimmer war nur das Erwachen danach. Beim Versuch, den neuen Markt zu erobern, entdeckt eine West-Plattenfirma André Herzberg als "Westernhagen des Ostens" und offeriert einen hochdotierten Vertrag. Pankow, plötzlich ohne Feinde, sind ohnehin am Ende. Beinahe gleichzeitig mit der DDR löst sich die DDR-kritischste der großen Ostrock-Kapellen auf. Der Solokünstler Herzberg aber, die "Kiefer im märkischen Sand" (Liedtitel), ist kein Westernhagen. Das neue Publikum in den alten Ländern mag seinen schnoddrigen Humor nicht. Für die alten Fans in den neuen Ländern aber mag er nicht die alten Hits repetieren. "Sing' noch mal ,Rock 'n' Roll im Stadtpark'", rufen die Leute. André Herzberg spuckt Verachtung. "Mein Gott, mehr wollten die nicht."

Der Mann in der überstrapazierten Jacke ist biestig geworden auf die Welt da draußen vor seinem Prenzelberg-Bau, den er mit Sohn Max (18) bewohnt. Der Beruf des Künstlers sterbe aus, um Erfolg zu haben, müsse man den Idioten spielen oder sein Publikum verachten. "Ich kann beides nicht", erzählt er und rollt sich eine dünne Zigarette zum Tee. Der ist bezahlt, auch den morgen wird er bezahlen können. "Was will ich mehr?"


Seine Ziele stecke er neuerdings in kürzerer Entfernung, das Publikum, das ihn verlassen hat, vermisse er kaum. "Ich mache jetzt viel fürs Theater: ein Musical in Leipzig, ein Volksliederabend in Magdeburg, eine Revue in Saarbrücken." Auch dass sein Freund und Gitarrist Ehle ihn eine ganze Karriere lang als IM Peters an die Stasi verriet, hat der Sänger weggesteckt in ein kleines Kummer-Kästchen, das geschlossen bleibt. Viel schlimmer, lenkt er ab, habe ihn die Tatsache getroffen, dass Ehle nicht von selbst die Kraft fand, darüber zu sprechen. "Doch das passt ja ins Klima."


Alles Lüge, überall Falschheit. "Zuerst belügen dich die Eltern, dann der Lehrer, dann die Regierung, dann deine Frau." Besser lässt er sich nicht beschreiben, der Kosmos des André Herzberg, von dem sein Eigentümer nicht weiß, "wie viele Leute hier drin noch Platz haben". Viele können es nicht sein. Die öffentliche Spur des André Herzberg verliert sich so zwischen Pankow-Comeback-Versuchen, einem beeindruckend unverbogen absolvierten MDR-Moderatorenjob, gelegentlichen Stadtfest-Gastspielen und langen Israel-Reisen.


Schwere Zeiten, in denen der störrische Einzelgänger jeden Tag versucht, den Kopf oben zu behalten. Herzberg hat angefangen, Geschichten zu schreiben. Geschichten zwischen Wohnzimmertherapie und Selbstautopsie, die zu Zeiten spielen, als der Mülleimer runtergebracht sein musste, ehe Mutti kam, und Vati abends noch mal wegging zur Parteiversammlung.


"Ich webe mir ein eigenes Bild, um mich zu erkennen", spricht er ohne Pathos von einer "Reise ins Ich". Demnächst sollen seine Erzählungen als Buch erscheinen - und vor Vorfreude leuchten die dunklen Pupillen. Doch doll ändern wird das nichts, da ist Herzberg Realist. Auch die "gesunde Portion Pessimismus", mit der sich der Künstler im Alltag bewaffnet, als ersehne er, positiv überrascht zu werden, führt nicht vorbei an der Erkenntnis: "Alles fliegt auseinander."

André Herzberg hat sich den Clown aus dem Gesicht geschminkt und den Rebellen in Rente geschickt, der Amiga-Chef Büttner irgendwann nach der Wende noch eine Torte ins Gesicht geballert hatte. Zu den Pankow-Kollegen hat er kaum noch Kontakt, die Erfolgsaussichten eines Comebacks hält er für bescheiden, "wenn ich nicht gerade sterbe wie die Danz und Gundermann". Für ein fertiges Solo-Album jedenfalls, "mit richtigen Liedern, die nicht nur wie so ein trockener Husten durchs Ohr rollen", hat André Herzberg bisher keine Firma gefunden. Vielleicht hat er aber auch gar nicht richtig gesucht.




Mittwoch, 19. August 2015

Mörder-Duo auf der Spur der Schweine

Die Krimi-Königin Anne Holt hat wieder ein Buch mit ihrem Bruder geschrieben.

Das US-amerikanische Cleveland. London auf der englischen Insel. Und Baerum bei Oslo - wenn die norwegische Krimi-Queen Anne Holt einen Thriller schreibt, dann internationalisiert sie gern. Die Handlung springt über Kontinente, der FBI-Ermittler müht sich mit Fällen in Skandinavien ab und der kleine Mord steht gern in einem großen globalen Zusammenhang.

Auch in „Infarkt“, dem zweiten Buch, das die Auflagenmillionärin aus Larvik zusammen mit ihrem Bruder Even geschrieben hat, hängt alles mit allem zusammen. Ein spektakulärer Kunstraub bringt den millionenschweren Unternehmer Najib Aysha um drei wertvolle Gemälde, außerdem sterben in einem von Aysha ausgehaltenen Fußballklub durchtrainierte Sportler an seltsamem Herzversagen.

Die norwegische Kardiologin Sara Zuckerman, vor fünf Jahren schon im ersten Holt&Holt-Roman „Kammerflimmern“ Hauptperson, wird gebeten, sich um die Lösung des Rätsels zu kümmern.
Die Arbeitsteilung unter den Holts ist klar: Even Holt, hauptberuflich Chefkardiologe eines Osloer Krankenhauses, liefert die fachlichen Hintergründe. Anne Holt, seit ihrem Debütroman „Blinde Göttin“ vor fast 25 Jahren eine zuverlässige Lieferantin hochwertiger Thriller-Kost, sorgt für Handlungsablauf, Spannungsaufbau und Personenzeichnung.

Auf den knapp 450 Seiten von „Infarkt“ funktioniert das hervorragend. Anne Holt, studierte Juristin, Ex-Fernsehjournalistin und danach sogar eine Zeit lang norwegische Justizministerin, schreibt in dem flüssigen US-Thrillerstil, den auch Stars wie James Patterson oder Hakan Nesser pflegen. Auf knappe Dialoge folgen pointierte Beschreibungen von Orten und Seelenlagen; Schauplätze, handelnde Personen und Blickwinkel wechseln im Kapiteltakt. Und sobald eine offene Frage beantwortet ist, wird der Leser mit wenigstens zwei neuen konfrontiert.

„Pageturner“ nennen die nie um blumige Bezeichnungen verlegenen Amerikaner diese Art von Büchern, die beste deutsche Übersetzung dafür ist vielleicht „Saugschmöker“: Ein Buch, das sich, einmal angefangen, nicht mehr aus der Hand legen lässt.

Bei den beiden Holts treibt die Ahnung auf dunkle Abgründe irgendwo in der Vergangenheit die Neugier. Statt andauernder Schießereien, Explosionen und viel Blut vertrauen die ehemalige Polizeijuristin und der Arzt auf den Thrill, der beim Abtauchen in moralische Abgründe entsteht. Es geht um Dopingschweinereien, um Geheimdienste, um die Unmoral, die jedem professionell betriebenen Sport innewohnt, und um Wissenschaftler, die ihr Gewissen im Namen des Fortschritts für viel gutes Geld verkaufen. „Infarkt“ ist ernst gemeinte Unterhaltungsliteratur. Ein Strandbuch, das Schatten spendet.

Dienstag, 18. August 2015

The Cure, Leipzig 1990, DDR: Robert Smith macht das Licht aus

So sah das damals aus, als in der DDR zum ersten Mal eine richtige Westband zu einem Open Air-Konzert außerhalb Berlins rief. 8. August 1990, Festwiese am Zentralstadion in Leipzig, die englische Band The Cure ist da. Mit dem ersten Lied "Shake dog Shake" geht der wandelnde Mehlbeutel Robert Smith in die Offensive, gedämpft, gedrückter Stimmung.

So soll es sein,. "Let's go to Bed", "Walk", "In between Days", "Head on the Door" und das neue Lied "Pictures of You" klagt Smith mit seiner Ningelstimme, passend zum Besuch in der untergehenden DDR heißt das aktuelle Album "Disintegration".

15 000 Fans stehen vor der Bühne auf der Festwiese vor dem Zentralstadion in Leipzig, alles ist Trauerschwarz, Eyeliner, weißes Puder auf dieser "Prayer"-Tour, die mit Laser, Rauch und viel farbigem Licht sehr schön in den letzten Sommer der DDR passt. Am Ende mögen sich die Engländer dann kaum trennen von ihrem ostdeutschen Anhang. Eine Stunde lang gibt es Zugaben für die DDR-Fans.

Hinter der Bühne sagt Robert Smith dann seine Meinung zu den Ereignissen in der DDR: "Ich kann nicht nachvollziehen, wie das Leben hier vor dem Fall der Mauer war. Aber ich glaube, man merkt, dass die Menschen sich jetzt viel wohler fühlen."

The Cure live in Leipzig 1990 Bildstrecke

Donnerstag, 13. August 2015

Sommerrätsel Cerealogie: Kreise im Korn

Wenn da etwas gewesen wäre, hätte er es eigentlich sehen müssen. "Ich war da gleich gegenüber", sagt Günter Armbrecht, "und es war schließlich Vollmond." Aber da war nichts. Kein Geräusch und kein Leuchten, kein Zittern im Feld und kein Sausen in der Luft. Am nächsten Morgen aber ist er dann trotzdem da, der Kornkreis: Ein paar hundert Schritte hinter der Scheune des Gutes Ellerode, das Armbrecht leitet. Ein Blumenmotiv diesmal, sechzig Meter rund und von der nahen Autobahn wundervoll zu sehen.

Wann und wie die Halme im Feld geknickt worden sind, weiß Günter Armbrecht diesmal sowenig wie die vier, fünf Mal zuvor. "Eines Tages sind die Dinger einfach da", beschreibt er das Unbeschreibliche, "und vorher war immer Vollmond." Scheinen sie zu mögen, die Außerirdischen, lacht der Bauer, dem angesichts des Feldschadens nicht viel anderer Grund zum Lachen bleibt. Dort, wo das Getreide niedergetreten wurde, werden seine Mähdrescher bei der Ernte einen großen Bogen fahren müssen. Allerdings nicht wegen geheimnisvoller Kraftfelder und überirdischer Resonanzen. Sondern um nicht die gesamte Ernte zu verderben: "Das Korn in den niedergedrückten Bereichen ist feucht und treibt aus, wenn wir das ernten, versaut es uns nur noch den Rest."

Hier im Dreiländereck zwischen Thüringen, Hessen und Niedersachsen haben die Menschen Erfahrungen mit dem Außersinnlichen, das sich nachts auf die Felder schleicht und die Halme graphisch exakt zur Ruhe bettet. Seit Jahren schon vergeht kein Sommer, ohne dass die Kreise zwischen Heiligenstadt, Göttingen und Kassel nur so aus dem Korn springen. Die Region an der Werra gilt Kornkreisforschern inzwischen als Zentrum liebevoll in die Felder getretener Groß-Symbole.

Plastische Blumen und ringelnde Schleifen, aufblühende Seifenblasen und dreidimensional wirkende Vexierbilder hat Stefan Rampfel schon gesehen, dazu simple Ringe und kleinkalibrige Bögen, komplizierte Labyrinthe und aufwendige Doppel-Spiralen. "Meist ist es so", erzählt der Chefpilot seiner eigenen Flugfirma Goe-Flug, "dass mich die Kornkreisexperten anrufen." Irgendwo hat es dann eine Sichtung gegeben, die Forscher nunmehr aus der Luft bestätigt sehen wollen.

Fein säuberlich werden Fotos gemacht, ins Internet gestellt und mit großem Ernst analysiert. Nach Mustern und Machart unterscheiden Kenner zwischen echten Kornkreisen und menschengemachten Fälschungen, die abfällig als "angelegt" bezeichnet werden. Stefan Rampfel allerdings bleibt skeptisch, ob das so stimmt. "Mir haben schon Leute erzählt, es gehe um übersinnliche Kräfte", sagt er, "und andere sind überzeugt, dass Erdkräfte das Getreide so runterziehen." Eiskristalle, habe ihm einmal ein mitfliegender Forscher anvertraut, entwickelten ja schließlich auch Strukturen und Muster, die denen von Kornkreisen verblüffend glichen.

Näher ist die weltweite Kornkreis-Forschungsbewegung der Lösung um die ominösen Feldzeichen nicht gekommen, seit der südenglische Landwirt Ian Stevens anno 1978 ein bizarres Muster aus niedergedrückten Halmen auf einem seiner Felder entdeckte. Obwohl einige Filme, die im Netz zu sehen sind, anderes zu zeigen vorgeben: Noch nie ist ein Ufo beim Malen eines Kornkreises gefilmt worden. Genausowenig ist es aber der Polizei gelungen, einen der fleißigen Kornkreis-Künstler aus dem Werra-Kreis zu ertappen. "Da müsste wohl erst einer seinen Personalausweis mitten im Kreis verlieren", unkt Günter Armbrecht, der bisher immer vergeblich Anzeige erstattet hat. Auch der Kirschverkäufer an der Straße zwischen Ellerode und Groß Schneen, wo Stefan Rampfel gerade erst ein besonders großes und schickes Exemplar aus einem 16-fach überlagerten Kreis entdeckt hat, ist steinernst: "Die Alien kommen und legen das Getreide mit Magnetkraft flach".

Dabei halten sich die geheimnisvollen Urheber der unverständlichen Botschaften strikt an die ungeschriebene Regel, dass es mehr Kornkreise gibt, wenn es mehr Kornkreise gibt. Nachdem Zeitungen und Fernsehen Anfang der 80er Jahre begannen, sich des Themas anzunehmen, explodierte die Zahl der entdeckten Kornkreise. Allein in England, dem Kornkreis-Mutterland, werden jährlich bis zu 300 Neuentdeckungen gemeldet, in Deutschland gibt es zwei, drei Dutzend Sichtungen durch "Cerealogen", wie sich die Kornkreiskundler selbst nennen. Mehr als 6 000 Kornkreise aus 50 Ländern hat das International Crop Circle Archive seit 1995 gesammelt und ausgewertet - wobei die Zahlen seit 2003, dem Jahr nach Mel Gibsons Kornkreis-Kinohit "Signs", durchweg rückläufig sind.

Doch die Kornkreisforschung hat schon Schlimmeres überstanden. 1991 etwa präsentierte eine britische Zeitung zwei Rentner aus Southhampton, die von sich behaupteten, sie hätten die meisten Kornkreise in England selbst gemacht. Seit 1978, schworen Doug Bower und Dave Corley, seien sie immer wieder ausgezogen, um mit Stricken und Brettern immer komplexere Gebilde in das Getreide zu treten.

Die bis dahin durchaus salonfähige Vermutung, fremde Wesen von fernen Welten könnten Kornkreise nutzen, um mit dem Menschen in Verbindung zu treten, schien erledigt. Cerealogen, die eben noch Kraftfelder auf kornbekreisten Äckern gemessen und "fühlbaren Frieden" in den Grafittis im Grünen entdeckt haben wollten, waren blamiert durch einen Scherz.

Das Phänomen aber hat dann doch überlebt. Mittlerweile geht die ernsthafte Kornkreisforschung davon aus, dass eine große Zahl von entdeckten Kreisen von Menschenhand stammt. Dabei aber handele es sich um "Fälschungen", die von Kennern leicht zu erkennen seien: Mal enttarnen sich die Urheber durch die luschige Umsetzung geometrischer Formen ins Feld. Mal bleiben Hilfsmarkierungen zurück oder Fußspuren künden vom äußerst irdischen Tun der Gelegenheits-Aliens.

Echte Kornkreise hingegen bestünden aus Halmen, die umgelegt, aber nicht geknickt seien. Zudem, sind Kornkreisforscher wie der Radiästhesie-Rutengänger Horst Grünfelder sicher, ließen sich "morphologische Felder" in ihnen nachweisen. Und noch viel, viel mehr, wie Nancy Talbott von der amerikanischen Kornkreis-Forschungsorganisation BLT Research kürzlich erst verkündet hat. Pflanzen und Böden in echten Kornkreisen wiesen "Spuren einer mikrowellenartigen Strahlung" auf, die auf eine "Plasma-Entladung" deute. Immer wieder berichten zufällige Beobachter von Feldern, auf denen später Kornkreise entdeckt werden, von schwebenden Lichtbällen und seltsamen Geräuschen, die durch menschliche Tätigkeit nicht erklärt werden könnten.

Wer sehen will, der sieht, und wer genauer hinschaut, sieht sogar, was er nicht sehen soll. "Ich staune ja oft, woher die Kornkreisforscher immer so schnell wissen, wo ein neuer Kreis ausgetaucht ist", sagt Stefan Rampfel, der seit 2006 über dem Werratal fliegt und doch erst vor drei Wochen erstmals einen Kreis als Erster entdeckt hat - aus der Luft. "Der war wunderschön", sagt er, "aber vom Boden überhaupt nicht zu sehen."

Welchen Sinn eine Botschaft haben soll, die niemand sehen und auf jeden Fall keiner verstehen kann, fragt sich Günter Armbrecht schon lange nicht mehr. "Natürlich sind es immer die da oben", grient der Landwirt und wedelt mit der Hand gen Himmel. Immer zu Vollmond kommen sie, die Aliens. "Da braucht man dann keine Taschenlampe", schmunzelt Armbrecht, der die geheime Botschaft der Kreise längst entschlüsselt hat: Die fremden Botschafter von fernen Welten gehen lieber in Weizen als in Gerste. "Die juckt nämlich so."

Kleiner Grenzverkehr: Auf ein Bier zum Klas­sen­feind

Es wurde immerzu gerufen. Gerufen und gewunken. "Manche haben provoziert, aber die meisten Leute waren doch ganz freundlich zu uns", sagt Gerd Voigt. Nette Menschen, da hinter dem Dreifach-Zaun aus Stacheldraht, an dem der Westen begann. "Da konnten die uns im Politunterricht noch so viel Quatsch erzählen, wir haben das nicht geglaubt." Gerd Voigt, seinerzeit Unteroffizier bei den Grenztruppen der DDR, war "nicht gerade ein Vorzeige-Soldat", wie er selbst sagt. Statt die Posten zu kontrollieren, legt der 21-Jährige sich schon mal im Wald aufs Ohr.

Und passiert ist sowieso nie etwas. Einen Steinwurf weit weg von der am besten bewachten Grenze der Welt können Voigt und seine Freunde Joachim Gaum, Peter Dahte und Peter Kertzscher auch am Himmelfahrtstag 1965 keine Bedrohung ausmachen. Drüben, hinter dem Todesstreifen, stehen ein paar Jungs und brüllen: "Kommt doch mal rüber, wir haben ein Bier für euch!" Auch das nichts Besonderes. Aber diesmal beratschlagt das Quartett aus Leipzig ernsthaft: "Sollen wir oder nicht?"

Zwischen dem hessischen Wanfried und dem thüringischen Diedorf zerschneidet der Grenzzaun die ehemalige Verbindungsstraße. Am tiefsten Punkt einer Senke spannt sich der Draht über einen Abwassergraben. "Minen konnten da nicht sein", erinnert sich Gerd Voigt, "denn die hätte der Regen rausgespült." Die vier jungen Männer kommen überein, dass das Risiko so groß nicht sein kann. Kurz entschlossen schieben sich Voigt und Gaum unter dem dreifachen Zaun hindurch, gedeckt von einem kleinen Wald.

"Die erste Enttäuschung über den Westen", so Voigt, wartet direkt hinter dem Todesstreifen: "Die hatten kein Bier." Allerdings ist der Klassenfeind mit Motorrädern ausgestattet und bereit, nach Wanfried zu fahren, um ein paar Flaschen zu kaufen. "Also haben wir gesagt, wir kommen nachher wieder rüber und holen uns die Pullen ab."

Eines der wunderlichsten Kapitel der deutsch-deutschen Grenzgeschichte nimmt so seinen Anfang. Das Bier wird geliefert und abgeholt. Ost-Grenzer und West-Rocker schwatzen noch ein bisschen. "Dann sind wir wieder zurück, haben uns im Wald verkrümelt und die Flaschen leer gemacht."

Am Tag danach fallen Zugführer und stellvertretender Zugführer krankheitsbedingt aus. "Plötzlich musste ich die Wachen einteilen", grinst Gerd Voigt. Er nutzt seine Chance und schickt die Teilnehmer des kleinen Grenzverkehrs gemeinsam auf Patrouille. Die wiederum nutzen ihre Chance und wagen anfangs hin und wieder, später regelmäßig Ausflüge ins Feindesland. Dort können bald Zigaretten bestellt und Romanhefte geordert werden. Der West-Zollbeamte Rolf Beckmann ist immer für einen Schwatz gut, und die Frage, ob man nicht lieber im Westen bleiben wolle, wird nach kurzer Zeit auch nicht mehr gestellt.

"Das war ja für uns nie der Punkt", erinnert sich Gerd Voigt, "wir haben immer gesagt, wenn einer abhauen will, dann im Ausgang, da bekommen die anderen wenigstens keine Probleme." An diese Übereinkunft halten sich alle Eingeweihten - obwohl es immer mehr werden, die sich den Ausflügen anschließen. Nach sechs Monaten ist ein kompletter Grenzzug im Bilde, abgesehen von zwei Soldaten, die als unsichere Kantonisten gelten.

Kurz vor ihrer Entlassung werden die Grenzgänger vorsichtiger. "Wir haben einfach Schluss gemacht." Das Schweigekartell hält. Die Grenzgänger werden entlassen. Es ist Oktober 1965. Nur einen Tag später trommelt die Stasi bei Voigts an die Tür. "Klärung eines Sachverhaltes", heißt es. Nun folgen tagelange Verhöre, Haussuchungen und Gegenüberstellungen, schließlich das Geständnis, denn "die wussten alles". Es gab einen Kronzeugen: Ein DDR-Grenzer war kurz zuvor in den Westen geflüchtet, hatte es sich aber nach einer Woche anders überlegt. "Der hat uns verpfiffen, um Straffreiheit zu kriegen."

Es kommen die schlimmsten Wochen. Sechs Monate sitzen die vier aus der Kompanie Katharinenberg in Einzelhaft. Drei Tage dauert der Schauprozess wegen "Verbindungsaufnahme zu verbrecherischen Organisationen" und Militärspionage. Für ein paar Zigaretten hätten die Angeklagten ihr Vaterland verraten, heißt es, und als Beweis legt der Militärstaatsanwalt ein Bieretikett der Marke "Binding" vor, auf dem alle Beteiligten unterschrieben haben.

Das Ende ist ausgemacht: Zwischen zweieinhalb und dreieinhalb Jahren Zuchthaus lautet das Urteil gegen die vier Hauptbeschuldigten. Das Wäldchen, in dessen Schutz "das Grenzregime permanent verletzt" worden war, ist längst gerodet, als die Delinquenten ihre Zellen im Stasi-Knast Pankow beziehen.

Diese Sache hat die vier Männer fürs Leben zusammengeschweißt. Gemeinsam saßen sie ihre Jahre ab, gemeinsam schafften sie den Neuanfang. Gemeinsam kämpften sie nach dem Mauerfall um eine Aufhebung ihrer Verurteilung. Und gemeinsam mussten sie sich nach sieben Jahren Hoffen auf vollständige Rehabilitation belehren lassen, dass ihre Verurteilung nach DDR-Recht gerechtfertigt war. "Gemeinsam sind wir folglich noch immer vorbestraft", sagt Gerd Voigt bissig.

Einmal im Jahr fahren die vier Militärspione nach Diedorf, besuchen ihre alte Stammkneipe und treffen Rolf Beckmann von der "verbrecherischen Organisation" Zoll. Sie trinken ein Bier Marke Binding und pflanzen dann einen Baum. Genau dort, wo nach ihrer Verhaftung das kleine Wäldchen gerodet worden war.


Dienstag, 11. August 2015

Sky White Tiger: Mantras in Tennissocken



Louis Schwadron nennt sich Sky White Tiger und trägt auf der Bühne immer weiß, abgesehen von schwarzen Tennissocken, wie er bei der Songwriternacht am halleschen Peißnitzhaus zeigte. Auch sonst ist der Multiinstrumentalist, der früher mit den Chor-Rockern von The Polyphonic Spree unterwegs war, ein lupenreiner Sonderling, der aus Einflüssen von Genesis bis Radiohead eine verstiegene Musik macht, der die ganze Welt als Last auf den Schultern zu liegen scheint.

"Cars fly, Televisions are Telephone Screens and Remote Controls Rule the School", klagt er ach über die neuen Zeiten, denen das aktuelle Album "Child of Fire" gewidmet ist. Ein Großwerk wie "Tommy" von The Who, nur mehr Marillion als Hardrock und mehr Abhandlung über Leviationstheorie als Flipperkönig-Bio. Musik, die eigentlich nach großen Hallen, großen Bühnen und millionenteurer Lichtshow schreit. Sky White Tiger schaffen es, sie auch im kleinen Rahmen groß klingen zu lassen.

Doch Schwadron kann auch noch anders, wie er in "It flows" zeigt, einem halbakustischen Stück, das an die Red Hot Chili Peppers erinnert. Das Motiv aus deren Hits "Under the Bridge" wird hier nicht nur musikalisch, sondern auch inhaltlich belehnt. "Found myself alone / can’t recall why I call this home / surely there’s a shadow on the rise", heißt es, ehe der Song am Ende zum Mantra wird: "When you find your road it goes, it grows".


Mittwoch, 5. August 2015

Halle-Neustadt: Das Ende einer Zukunft


Ein halbes Jahrhundert nach dem Einzug der ersten Einwohner im August 1965 ist die einzige Original-DDR-Stadt Halle-Neustadt nahezu verschwunden. Dafür sind ihre Kinder heute überall.

Anderswo hieß es raus. Hier hieß es runter. „Kommst Du runter“, rief es am Nachmittag durch die Wechselsprechanlagen von Halle-Neustadt, das die, die hier lebten, nur kurz „Neustadt“ nannten. Runter war hinterm Haus, das in Wirklichkeit ein Block gewesen ist. Runter war eine Bank an einer Sandkiste, war ein Klettergerüst aus Eisen oder Holz, waren die Wäschestangen, aus denen ohne jeden Umbau ein Fußballplatz werden konnte. Kein Runter, kein Fern gab es, wenn es in der Schule nicht lief.


Halle-Neustadt sollte eine Stadt der Zukunft sein, ein Heim für den neuen Menschen, so hatten es ihre Erbauer geplant. Neustadt hatte immerhin schon eine neue Sprache: „Maggi“ war die Magistrale, „Koofi“ war die Kaufhalle, „Kiga“ der Kindergarten. Aber die Geburtsurkunden der Kinder von Halle-Neustadt waren allesamt von Anfang an falsch. Gut, die Namen stimmten, die Geburtszeiten sicher auch. Nur als Geburtsort steht da immer Halle, manchmal auch Zeitz und Merseburg und sicher noch andere Städte. Nie aber Halle-Neustadt, nicht einmal in den zwei Jahrzehnten, in denen die Söhne und Töchter der Bewohner der sozialistischen Chemiearbeiterstadt zur Welt kamen. Sie alle wuchsen auf als Kinder einer Stadt, die vielleicht als einzige weltweit keine Kinder hat, weil sie in ihren besten Tagen zwar beinahe hunderttausend Einwohner besaß, aber nie ein eigenes Krankenhaus.

Kindheit hatten sie dennoch, die rund 30000 Kinder von Halle-Neustadt, die zwischen 1965 und 1990 im größten Wohnexperiment Deutschlands groß wurden. Kindheit sogar, die sich zwar in der Form, aber nicht im Inhalt von der in anderen Städten unterschied. Alles war größer hier, die Häuser waren höher und der Himmel weiter. Doch gleichzeitig war jeder Wohnkomplex ein Örtchen für sich, aus dem niemand hinausmusste, wenn er nicht wollte.

Es war ja alles da. Der Kiga und die Schule, die Koofi, die Komplexannahmestelle, der „Sero“ genannte Altstoffhandel, Jugendklubs mit Namen wie „Gimmi“ oder „901“ und sogar ein paar Kneipen, die „Mucki“ hießen oder „Dreckiger Löffel“. Hier drinnen wurden die Jüngeren scheel angeschaut von den erfahrenen Schichttrinkern, die nicht aussahen wie der neue Mensch, sondern als säßen sie schon seit Urzeiten hier.

Die Stadt wuchs, und sie wuchs mit ihren Eingeborenen. Waren anfangs noch alle Wege schlammig, wandelte sich Neustadt schon zu einer fahrradgerechten Stadt ehe es diesen Begriff gab. Wegen der Schichtarbeiter gab es Spätverkaufsstellen, kurz „Späti“ genannt. Wegen der volkswirtschaftlichen Bedeutung der Literatur für die Aufrechterhaltung der Leistungskraft hatte der einzige Buchladen der Stadt ein besseres Angebot als alle Buchläden im alten Halle. Westfernsehen kam in der Stadt der Zukunft aus der Wand. Alle Keller besaßen dicke Stahltüren, um im Ernstfall Schutzräume spielen zu können. Auch alle Schulgebäude hatten Tiefgeschosse, die bei einem drohenden Nato-Angriff auf die hier unten platzierten Werkräume mit bereitstehenden Betonelementen hätten verbarrikadiert werden sollen. So war der Kalte Krieg immer anwesend in der Stadt, deren Wappen eine künstlerisch ambitionierte Achtklässlerin in ihrem Kinderzimmer im 3. WK entworfen und mit fröhlich flatternden Friedenstauben vollgepackt hatte.

Es war grau im Winter und unendlich grün im Sommer und es war grässlich wenig los. Wer hier großwerden durfte, hatte jede Menge Spaß. Anfangs waren die Baustellen die besten Abenteuerspielplätze der Welt. BBS wie „Big-Baustellen-Spaß“ hieß das bei den Kindern. „BUS“ dagegen war der „Big-Underground-Spaß“, der daraus bestand, einfach irgendwo in die unüberschaubaren unterirdischen Kanalsysteme einzusteigen und zu hoffen, dass man bestimmt auch irgendwo wieder rauskommt.

Die Stadt war ein Spielzeug, aber sie war auch ein Schlachtfeld. Die Wohnkomplexe, die „Weehkahs“ hießen, wurden von selbsternannten Banden beherrscht, die sich nicht grün waren. Halbwüchsige lauerten einander auf, es gab Lehmschlachten und rituelle Überfälle. Manchmal tat es weh, aber nie kam die Polizei.

Besser war es schon, im eigenen Weehkahs zu bleiben. Und schon gar nicht gingen Halle-Neustädter nach Halle. Die Brücke an der Eishalle war die natürliche Grenze zwischen moderner Großplattenbauweise und Zerfall, zwischen frischem Betongeruch und dem Moderduft der feuchten Mietskasernen, zwischen Zukunft und Vergangenheit. Einzig das Kino, das Goethe-Lichtspiele hieß, der Sportladen „Schnee“ und die Eisdiele am Hansering waren Gründe, sich mit der stadtgewordenen Vergangenheit jenseits der Saale abzugeben.Später wurden Berge aus Aushub, die beim sozialistischen Warten auf Großvorhaben, die nie entstanden, langsam überwuchert worden waren, zu Fahrradcross-Strecken. Und auf den Bänken an den Sandkisten, die sich da schon zur Hälfte mit Hundekot und Kippen gefüllt hatten, trafen sich die Plastebaggerfahrer und Gummiindianerspieler von früher, um Schnapsflaschen zu köpfen. Freunde halfen: Der Alkohol stammte in der Regel aus der nahegelegenen Verkaufsstelle der sowjetischen Armee, wo füllige Frauen in Kittelschürzen „Pfeffi“ und „Kali“ bereitwillig auch an Menschen verkauften, die sichtlich noch in keinen U14-Film gekommen wären.

Eine Freiluftjugend. Daheim waren die Kinder des Beton nicht in den Wohnblöcken, sondern auf den Bänken dahinter, in den Durchgängen zwischen den Block und in den Fahrstuhletagen, die als Jugendklubs dienten, Montags war Disco im Treff, freitags Party im U-Boot und es hätte immer so weitergehen können. Selbst Mitte der 80er Jahre war Halle-Neustadt noch eine junge Stadt. Fast alle hier hätten immer noch weggehen können, wenn es eines Tages zu blöd geworden wäre mit der Stadt oder der DDR.

Eine Jugend in Deutschland, auch wenn die Gegend damals noch DDR hieß und die herrschenden Vorstellungen vom Paradies heute Kopfschütteln auslösen. In Neustadt lebten die Sieger der Geschichte, Familien mit Telefonanschlüssen, Glückliche, die von den Errungenschaften einer Zeit profitierten, an deren Ende das Ende aller Ausbeutung stehen würde.

Dieses Ende kam so wenig wie aus Neustadt noch eine wirkliche Stadt wurde. Ausgerechnet in ihrem größten Bauprojekt ging die DDR am schnellsten und gründlichsten zugrunde: Noch vor dem Beitritt des Arbeiter- und Bauernstaates zur Bundesrepublik votierten die Halle-Neustädter für einen Beitritt zur Stadt Halle.

Der Selbstauslöschung folgten die Abrissbagger, den Abrissbaggern die Flucht der Generation, die hier aufgewachsen war. Während die Eltern blieben, in 70 Quadratmetern WBS 70 mit nun leerem Kinderzimmer, gingen ihre Kinder fort. Neustadt hatte schließlich nicht nur kein Krankenhaus, es kannte auch kein Wohneigentum. Der neue Mensch besitzt hier nichts außer Wurzeln. Er kehrt heute allenfalls gelegentlich zurück, um auf Wiesen zu schauen, auf denen einst seine Schule stand.

Freitag, 17. Juli 2015

Of Monsters and Men: Songs unter der Haut


Es hat nur vier Jahre gedauert, drei Filme und zwei Alben, aus dem isländischen Indie-Kollektiv Of Monsters and Men eine Band zu machen, die weltweit große Hallen füllt. Warum das so ist, macht das neue Werk „Beneath the Skin“ mit Nachdruck deutlich: Die 13 Songs gehen etwas energischer zu Werke als die zwölf des Debüts „My Head Is An Animal“.

Doch die Songschmiedekunst des sechsköpfigen Rock-Orchesters aus Keflavík und Garðabær zeigt sich hier noch einmal um Dimensionen dichter und verzwickter. Nanna Bryndís Hilmarsdóttir und Ragnar Þórhallsson an Akustikgitarren und Mikrophonen, Brynjar Leifsson an der E-Gitarre, Schlagzeuger Arnar Rósenkranz Hilmarsson, Árni Guðjónsson an den Tasten und Bassist Kristján Páll Kristjánsson verschmelzen den sphärischen Rock von Arcade Fire in manchmal ausufernden Klanggemälden mit dem leicht schwermütigen Folk der Walkabouts und der elektrifizierten Melancholie von Florence and the Machine.

Die großen Melodiebögen beherrschen die sechs Isländer nach wie vor im Schlaf, wo aber beim Debütalbum noch eher fröhliches Hippietum wie im Welthit „Little Talks“ vorherrschte, grundieren Gitarren, Bläser, Geigen und Studiotechnik jetzt verzweifelte Zeilen wie „ich versinke“ in „Hunger“ oder düstere Verse wie „ich male deinen Körper schwarz, verschwinde in deinem Haar, und wenn du zurückschaust, ist es, als wäre ich nicht da“. Trotzdem klingt das nie betrübt oder traurig, denn immer herzt irgendwo ein rettender Dur-Akkord die Mengen an Moll, auf denen Nanna Hilmarsdóttir und Ragnar  þórhallsson ihre Emotionen ausbreiten.

„Unter die Haut“, der Titel deutet es an, soll das innerliche Album des Sextetts sein, eine Ergänzung und Erweiterung des Debüts, das es mit seiner ungewöhnlichen Mischung aus Indie-Rock und sämigen Pop-Melodien zuerst in den Ben-Stiller-Film „Das erstaunliche Leben des Walter Mitty“ und den Soundtrack von „Die Tribute von Panem“ schaffte. Und von dort aus mitten hinein in den Massengeschmack eines Publikums explodierte, das früher vielleicht REM, die 10,000 Maniacs oder Suzanne Vega gehört hätte.

Wie sie Pop und Indie-Folk, die beiden Hälften ihres Schaffens, bruchlos verschweißen, lässt sich im Lyrics-Video zu „Chrystals“ schön betrachten: Statt der björkartigen Hippie-Elfe Nanna Hilmarsdóttir, deren Stimme einen Großteil der Faszination dieser Band ausmacht, scheint hier der vollbärtige isländische Schauspielstar Siggi Sigurjóns zu singen. Bei „Human“ , einer an die Cranberries gemahnenden Power-Pop-Hymne, synchronisiert der Schauspieler Björn Stefánsson den Gesang - mit vollstem Körpereinsatz.

Und das passt immer noch. Of Monsters and Men-Musik, diesmal in Los Angeles mit Rich Costey (Death Cab for Cutie, Interpol) eingespielt, schüttet Gräben zu , beruhigt die Sinne und lässt Füße unwillkürlich mitwippen. Das hat in jeder Sekunde Hitpotential, weil es sich an niemand anderem orientiert als am eigenen Geschmack.

Donnerstag, 16. Juli 2015

"Drones" von Muse: Ein musikalisches Märchen



Mit ihrer siebten CD legen Matthew Bellamy und seine Band Muse ein ambitioniertes Werk mit großem Anspruch vor -hier ihr Liveauftritt auf dem Main Square Festival 2015

Der Auftakt erinnert an die Band Styx und deren Song „Mr. Roboto“. Anfang der 80er Jahre war das Lied um die fiktive Figur Robert Orin Charles Kilroy, die im Gefängnis schmachtet, ein Welthit, obwohl niemand verstand, worum es ging. Hier bei Matthew Bellamys Band Muse ist es so ähnlich: Das neue Album „Drones“ erzählt eine große Geschichte. Aber es gibt keinen Grund, traurig zu sein, wenn man sie nicht versteht. Die Musik, die die drei Briten im 20. Jahr nach Bandgründung machen, ist auch so gut wie immer.

Nur eben noch etwas größer gedacht. Ein halbes Jahr nach der Trennung von Hollywood-Star Kate Hudson, deren Liebe den Musikersohn aus Cambridge über Jahre zum vielfotografierten Traummann der bunten Blätter gemacht hatte, spintisiert sich Matthew Bellamy in zwölf neuen Songs in eine Parallelrealität aus Weltuntergangsvisionen, Kriegsgeschrei und aufrüttelnden Appellen für eine bessere Welt. Es geht um die Entmenschlichung des Krieges, um das Töten aus der Ferne und vor allem darum, wie solche saubere Techniken des Mordens den Menschen und mit ihm die Menschheit verändern. Technologie zerstört Mitgefühl, Menschen ohne Mitgefühl aber sind keine Menschen mehr.

Bellamy, noch nie um große Gesten oder Ansprüche verlegen, tritt in riesige Fußstapfen. So erfolgreich seine Band ist, war sie es doch immer auf dem Niveau der Musik, einem modernen Gemisch aus Heavy Metal, Synthie-Rock und Hairspray-Balladen. Nun will der Sänger und Hauptkomponist von Muse Giganten wie The Who oder Pink Floyd beerben und deren Rockopern fortschreiben - selbst Fans waren skeptisch.

Das fertige Werk aber zeigt, dass Bellamy, Drummer Dominic Howard und Bassist Christopher Wolstenholme nicht zu viel versprochen haben. Zwar klingt „Drones“ insgesamt weniger wie „Tommy“ oder „The Wall“ als wie Queensrÿches Klassiker „Operation: Mindcrime“. Aber dank einer klugen Dramaturgie und der abwechslungsreich wie selten angelegten Songs wirkt das gesamte Album keineswegs wie ein um 25 Jahre verspäteter Progressive-Metal-Witz. Sondern wie der ernsthafte Versuch, fast vier Jahrzehnte nach „The Wall“ erneut eine geschlossene Geschichte mit Hilfe von Rockmusik zu erzählen.

Muse haben dazu im Studio im kanadischen Vancouver aufgefahren, was denkbar ist. Das Schwergewicht aber liegt im Unterschied zu den letzten beiden Platten diesmal nicht auf sinfonischem Schaum und operettenhafter Übertreibung, sondern in der Rückkehr zum Rock. Statt Geigen gibt es wieder mehr Gitarren, statt Falsettgesang von Bellamy Gebrüll vom „Drill Sergeant“, einer Art Erzähler der Geschichte. Produktionsroutinier Mutt Lange (AC/DC) schiebt komplexe Laut-Leise-Lieder wie „Psycho“ und „Reapers“ dann in bewährter Weise zu kompakten Hymnen voller Riffs und Marschrhythmus-Drums zusammen.

Das Ergebnis ist ein Album, dessen erste Hälfte kaum einen Moment Stille kennt, während die zweite wie in Erwartung der Erlösung von allem Übel langsam vom Gaspedal geht. „Revolt“ ist eine klassische Gitarrennummer nach U2-Bauart, „Aftermath“ die bis dahin bis auf das hübsche „Mercy“ zu Beginn vermisste Violinenballade. Fertig sind die drei Konzeptkünstler danach aber noch nicht, denn nun kommt mit „The Globalist“ der dickste Brocken: Zehn Minuten Leistungsschau mit großen Gefühlen. Zur Beruhigung dann zurück zur Mitte der 70er Jahre, Queen, etwa zur Zeit von „A Night at the Opera“: „Drones“, das Titelstück, ist ein Puzzle aus Stimmen, die klingen wie ein Mönchschor.

Mittwoch, 1. Juli 2015

Pop aus dem Ein-Euro-Shop



Künstler und Technologie-Konzerne streiten um die Bezahlung im Datennetz. Das Geschäft wächst zwar, aber die Einnahmen sind immer noch gering.


Es ging Taylor Swift nicht ums Geld, oder doch jedenfalls nicht nur. Eher aus Prinzip begehrte die 24-jährige Sängerin aus Pennsylvania gegen den neuen Musikdienst des Hightech-Riesen Apple auf: Drei Monate lang, so hatte es Apple beschlossen, sollte das Angebot den Kunden kostenlos zum Ausprobieren und Testen zur Verfügung stehen. Und drei Monate würden deshalb auch die Künstler kein Geld dafür bekommen, dass ihre Songs auf Apple Music zu hören sind.

Apple, Hersteller von iPhone und iPad, ist ein großer Spieler im Markt der virtuellen Musik. Im letzten Jahr ermöglichte es der Konzern der irischen Rockgruppe U2, ein neues Album gleichzeitig einer halben Milliarde Menschen auf ihre Geräte zu spielen. U2 verdienten, weil Apple dafür bezahlte, das Album kostenlos verteilen zu dürfen. Apple verdiente, weil die Werbung durch die aufsehenerregende Aktion unbezahlbar war.

Alle waren zufrieden, nur Fans und Rock-Kollegen nicht. Die einen fühlten sich durch die Freihaus-Lieferung um den Kauf betrogen, der im Popgeschäft immer auch ein Akt der Treue und Loyalität ist. Die anderen sahen Musik ein weiteres Mal entwertet: Wenn schon die Songs einer Supergruppe kostenlos zu haben seien, wie solle dann eine junge, unbekannte Band noch versuchen, ihre Lieder für zehn Euro an den Mann zu bringen?

Ein Problem, das Taylor Swift nicht hat. Die siebenfache Grammy-Preisträgerin ist mit ihrem Country-Pop Dauergast in den Hitparaden, sie verkauft auch in Zeiten ständig sinkender CD-Verkäufe Millionen Alben. Allein die Werbeeinnahmen, die ihre Milliarden Mal angeklickten Videos beim Portal Youtube einspielten, liegen im zweistelligen Millionenbereich.

Pro Klick gibt es dort etwa einen Betrag von 0,4 Cent - nicht viel mehr also, als Apples Angebot, gar nichts zu zahlen. Das war aber doch zu wenig: Swift verweigerte die Freigabe ihres Albums „1989“. Und zwang den auf ein sympathisches Image bedachten größten Konzern der Welt zum Einlenken. Apple zahlt nun - angeblich 0,2 US-Cent pro Aufruf eines Liedes.

Ein Betrag, der etwa dem entspricht, was sogenannte Streaming-Portale wie Spotify und Deezer an die Lieferanten ihrer Inhalte ausschütten. Das Geschäftsmodell aller Anbieter ist ähnlich: Gegen einen Pauschalbetrag oder die Duldung von Werbung gestatten sie es Nutzern, endlos viele Lieder aus einem zehntausende Künstler und Millionen Lieder umfassenden Katalog anzuhören.

Eine schöne Sache für Menschen, die es leid sind, Regale voller CDs zu packen oder Musik auf der eigenen Festplatte zu sammeln. Für Musiker allerdings unbefriedigend, wie der Independentkünstler Phillip Boa ausgerechnet hat. Wenn eins seiner Lieder 200 000 Mal gestreamt wird, kann der Mann aus Düsseldorf sich dafür ein Mittagessen leisten.

In der guten alten Zeit von Schallplatte und CD blieb beim Künstler nach so vielen verkauften CDs eine niedrige fünfstellige Summe hängen. Damals zahlte das Publikum aber auch noch zehn bis 15 Euro für eine Stunde Musik. Heute dagegen gibt es für diesen Betrag 24 Stunden Musik am Tag, einen ganzen Monat lang.
In sich ist das System durchaus ähnlich gerecht wie das frühere mit Plattenfirmen und Plattenläden. Den Löwenanteil der Einnahmen kassieren heute die Hightech-Konzerne oder Plattformanbieter wie Spotify und Deezer, ein geringerer Teil geht an Künstler und Rechteinhaber. Da aber alle Songs nur für den Moment des Hörens geliehen werden, ist ihr Preis niedriger als im Schallplattenzeitalter oder auch beim Einkauf in Download-Shops.

Thom Yorke von Radiohead hat das schon „unfaire Zahlungspraktiken“ genannt und seine Musik von Spotify entfernt. „Ich denke, als Musiker müssen wir dagegen kämpfen, dass diese Leute zu Torwächtern zum Publikum werden“, sagte der Sänger, der sein letztes Solo-Album aus Protest über ein Tauschportal verkauft. 4,4 Millionen Mal ging es weg, für Yorke ein 20-Millionen-Dollar-Triumph. Das Dilemma junger Künstler: Im Gegensatz zu angesagte Stars wie Radiohead oder Oldie-Bands wie Led Zeppelin oder AC/DC, die die Teilnahme am Streaming verweigern, müssen sie mitmachen, um bekannt zu werden. Nur leben können sie nicht davon, weil die Ein-Euro-Pop-Shops das meiste Geld dorthin schichten, wo die meisten Hörer sind.

Es gibt Versuche, Abhilfe zu schaffen. Mit Altrocker Neil Young, Hiphop-Tycoon Jay Z und dem früheren deutschen Hacker und späteren Internet-Unternehmer Kim Schmitz sind sehr unterschiedliche Leute bemüht, Alternativen zu den rein kommerziellen Diensten zu starten. Doch keiner ist bislang Erfolg beschieden. Young, Fan analogen Wohlklangs, hat seinen Plan, ein eigenes Streaming-Portal zu starten, beerdigt. Jay Zs Firma Tidal wird zwar unterstützt von Beyoncé, Madonna, Jack White und Rihanna, leidet aber unter mangelnder Nachfrage der Kunden. Und von Baboom, der Streaming-Plattform, die 90 Prozent aller Einnahmen an die Künstler ausschütten wollte, war zuletzt nur zu hören, dass Erfinder Schmitz seine Anteile verkauft habe.

Klaus Renft: Der Mann mit dem Gewehr aus Luft

Er war der Mann, der meist verboten war, ein Sonderling mit vielen sozialen Talenten, dessen Bass-Spiel nach eigenem Bekunden eigentlich nicht reichte, professionell Musik zu machen. Klaus Renft tat es dennoch und er wurde eine Legende. Heute wäre der Gründer der Gruppe Renft 73 Jahre alt geworden.


Ein letzter Hausbesuch bei Klaus Renft in Löhma

Renfts Tagebücher: Eine Nachtigall ohne Gewehr

Sonntag, 28. Juni 2015

Nepal: Spendengelder bei der Arbeit

Nach dem Erdbeben in Nepal hatten wir ja über Facebook ein bisschen Geld gesammelt, um zwei Freunde, die wir von früheren Trekking-Touren dort kennen, zu unterstützen.

Sowohl Rustam als auch Udaya haben sich dann entschlossen, die gespendete Summe - immerhin waren 2300 Euro zusammengekommen, obwohl es keine Spendenquittung gab - an Leute weiterzugeben, die schwerer von den Folgen der Katastrophe betroffen sind als sie selbst.

Udaya will in einem Dorf, in dem Verwandte seiner Frau leben, beim Wiederaufbau heflen. Dort gibt es seinen Angaben zufolge 57 Häuser, alle sind komplett kaputt. Die meisten Familien sind ohnehin arm, bei einer, schreibt er, seien die Eltern beim Beben gestorben, die drei Kinder haben überlebt. Udaya will dort helfen und ein Hausbauprojekt anschieben. Die Familien sollen Wellblech für die Hausdächer und Planen für das Vieh bekommen.

Rustam Kapali war jetzt erneut mit einigen Freunden unterwegs in einer Region im Nationalpark Sagarmantha, wo die ausländischen Profi-Helfer seinen Angaben zufolge nicht hinkommen. Deren Hilfe konzentriert sich wohl eher auf die Hauptstadt Kathmandu und die bekannten Berggebiete.

In Dolakha haben sie nach einer überaus schwierigen Anfahrt über Wege, die eigentlich gar keine sind, für 162 Familien Lebensmittel verteilt, vor allem Reis, Öl und Salz. "Dann sind wir weiter gefahren ins Dorf Ramechhap, wo 20 Familien Wellblech für neue Dächer bekamen", schreibt Rustam.

Hier noch ein paar Bilder von dort:


Freitag, 5. Juni 2015

Das teuerste Abendessen der Welt

Sie nennen ihn das „Orakel von Omaha“, weil der inzwischen 85-jährige Warren Buffett es vom Zeitungsboten zum drittreichsten Menschen der Welt gebracht hat. dabei spricht Warren Buffett eigentlich recht wenig über die Methoden, mit denen er sein ungeheueres Vermögen gemacht hat.

Buffett, ein Mann mit Gesichtszügen wie verwitterter Felsen und einer Hornbrille wie weiland Rateschwein-Lembke, hat dazu nicht einmal selbst irgendetwas erfinden müssen: Er kaufte einfach mit elf Jahren seine erste Aktie, machte Gewinn und hat seitdem nie mehr damit aufgehört. Fast 60 Jahre lang hat der Vater von drei Kindern sein Vermögen so alljährlich um ein Fünftel vermehrt. Rechnen Sie mit: Aus schmalen 20 000 Euro wird so locker mehr als eine Million. Oder im Fall von Buffett ein Vermögen von rund 72 Milliarden.

Hinter dem Geheimnis, wie der greise Investor das anstellt, sind da natürlich viele her. Seit einigen Jahren versteigert Warren Buffett deshalb ein Abendessen mit sich, bei dem der Höchstbieter im besten Fall ein paar Häppchen vom reichen Wissenschatz des Superspekulanten schnabulieren kann. Und Buffett im Gegenzug ein hübsches Sümmchen erhält, das er unter großer öffentlicher Anteilnahme für wohltätige Zwecke spenden kann, ohne ans eigene Konto rangehen zu müssen.

Das Höchstgebot in der aktuellen Auktion des diesjährigen Dinners mit der Geldmaschine steht bei 1,5 Millionen Dollar, umgerechnet mehr als eine Million Euro. Das ist nicht unbedingt preiswert, obwohl der Gewinner sieben Freunde zum Essen mitbringen darf. Vor zehn Jahren gab es Buffett noch für eine Million weniger!

Aber richtig teuer aber ist das Abendmahl auch nicht, denn Buffetts Abendessenaktien sind zwar langfristig immer gestiegen, zuletzt jedoch gefallen: 2003 zahlte David Einhorn von Greenlight Capital noch 250100 Dollar, 2008 blechte Zhao Danyang aus China erstmals etwas mehr als zwei Millionen, 2012 legte Anonymous dann 3,4 Millionen hin und letztes Jahr ging das Essen für 2,2 Millionen weg.

Dienstag, 2. Juni 2015

Kreuz­fahrt auf dem Jangtse


Kaiser haben ihn befahren, Mao Tsetung hat ihn besungen und er hat mehr Namen als jeder andere Fluss: Der Jangtse ist der größte Strom Chinas. Und dennoch weitgehend unbekannt.

Der Nebel hängt schon am Morgen wie ein feuchtes Tuch über Chongqing. Die Luft ist nass, der Himmel über der 32-Millionen-Metropole im chinesischen Hinterland grau. Smog? Industrieabgase? Lilly, die in Chinas jüngster Regionshauptstadt aufgewachsen ist, schüttelt den Kopf. "Der Dunst kommt vom Fluss", sagt die Fremdenführerin, die eigentlich einen chinesischen Namen trägt, sich aber wie alle Einheimischen einen westlichen Zweitnamen zugelegt hat, um den "lieben Gästen" aus dem Westen Kopfzerbrechen über die richtige Aussprache zu ersparen. 300 Tage im Jahr liegt Chongqing so in den Wolken. Das sei eine sehr feine Sache, freut sich die 25-Jährige. "Durch die feuchte Luft haben Frauen in Chongqing die schönste Haut von ganz China!"

Herumgesprochen hat sich das aber noch nicht weiter. Chongqing, rund 2 000 Kilometer im Inland gelegen, ist die große Unbekannte unter den chinesischen Weltstädten. Erst der Bau des umstrittenen Drei-Schluchten-Damms machte die Hochburg des chinesischen Autobaus für große Schiffe erreichbar. Er sichert auch die Befahrbarkeit des drittgrößten Flusses der Welt für eine neue Generation riesiger Kreuzfahrtschiffe.


Die starten dort, wo der kleinere Fluss Jialing in den größeren Jangtse mündet. Neben chinesischen Anbietern, die sich bei Ausstattung und Service an Bord am Geschmack der wachsenden Zahl einheimischer Touristen orientieren, zielen andere Unternehmen auf die internationale Kundschaft.

Die Kabinen sind größer, die Speisekarten westlicher, der Cruise-Director ist ein junger Amerikaner, der Komfort entspricht dem eines Fünf-Sterne-Hotels. Wie auf einem großen Kreuzfahrer gibt es für die Gäste aus Deutschland, den USA und Spanien Roomservice, Kapitänsdinner und Wäscheservice. In Musestunden läuft ein buntes Unterhaltungs- und Bildungsprogramm von Lektionen in Chinesisch und fernöstlicher Medizin bis zu Majong-Turnieren und Musicalshows. Der Unterschied zu einer Reise auf dem Meer: Diese Kreuzfahrt führt immer geradeaus.

Eine Fahrt von Chongqing bis nach Shanghai, wie sie das US-Unternehmen Victoria Cruises anbietet, ist die bequemste Art, das Reich der Mitte von innen kennen zu lernen. Denn Städte wie Peking oder Shanghai sind etwa so sehr das wahre China wie der Ku-Damm in Berlin das wahre Deutschland ist: Zu viel Chrom, zu viel Glanz, zu viel Licht und Geschwindigkeit.

Draußen auf dem Strom, der auf chinesisch Changjiang - "Langer Fluss" - heißt, wird die ganze Dimension und Komplexität des Landes deutlich. Bald hinter Chongqing schwillt der 6 380 Kilometer lange Fluss zum Stausee des Drei-Schluchten-Dammes. Der würde, auf eine Deutschland-Karte gelegt, von Berlin bis München reichen.

Doch China ist nicht nur eine der am schnellsten wachsenden Volkswirtschaften, eine der ältesten Kulturen und eines der letzten kommunistischen Länder. Sondern auch Heimat gewaltiger Naturdenkmäler, technischer Mammutprojekte und freundlicher Menschen, für die jede "Langnase" Grund ist, das Fotohandy zu zücken. Eine Reise auf der "Victoria Prince", dem modernen Flaggschiff von Victoria Cruises, führt zuerst in die Geisterstadt Fengdu, die den Chinesen seit 1 800 Jahren als Sitz des Königs der Unterwelt gilt. Auf dem Gipfel des Mingshan-Berges, den man zu Fuß oder mit der Seilbahn erreicht, steht der Tempel des Höllenkönigs, bis zu dem die anschwellenden Fluten des gestauten Jangtse nicht reichen. Die alte Stadt Fengdu hingegen, die am Fuße des Berges lag, ist verschwunden. Blinkende Lichter am anderen Ufer künden vom neuen Fengdu, einer Stadt vom Reißbrett mit vierspurigen Straßen, Hochhäusern und Leuchtreklamen.

Am nächsten Morgen wirken die drei atemberaubenden Schluchten Qutang, Wu und Shennongxi umso einsamer. Steil ragen die Felsen an Backbord und Steuerbord in den Himmel. Ein paar Jahrhunderte alte Wandmalereien und einige winzige Häuschen nur verraten, dass im kargen Bergland noch immer Menschen leben.

Die meisten aber, das zeigen die Pegeltafeln am Ufer, sind schon fort. Insgesamt hat der 17 Milliarden Euro teure Damm, den Chinas Staatsgründer Sun Yat-sen vor 80 Jahren eigenhändig entwarf, mehr als 600 Quadratkilometer mit 13 großen und 140 kleinen Städten, 1 000 Dörfern und 650 Fabriken verschluckt. 1,3 Millionen Menschen wurden umgesiedelt, zum Teil weit nach Norden, zum Teil ins Umland von Shanghai.

Kollateralschäden beim Aufbau der Zukunft, die auch Riverguide Curtis Ning sieht. Zweifel an der Notwendigkeit des Staudammes aber hat der 28-Jährige, der aus einer unter Mao verfolgten Familie stammt, nicht. "Drei Millionen Menschen sind bei Überschwemmungen im vergangenen Jahrhundert umgekommen", rechnet er vor. Allein in den letzten 15 Jahren habe es sechs Hochwasser gegeben, die Tausende töteten. "Deshalb brauchen wir den Damm."

Ganz nebenbei aber, sagt Cherry, die an der Staumauer einen endlosen Strom von chinesischen Reisegruppen in das größte Dammprojekt der Menschheit einweist, "wird der Drei-Schluchten-Damm auch die größte Stromgewinnungsanlage der Welt sein." 200 Millionen Kilowatt wird "Three Gorges" ab 2009 liefern - eine Leistung, für die China sonst 20 Kernkraftwerke hätte bauen müssen.

Die Zeugen der eigenen Geschichte aus dem Landstrich am langen Fluss bunkern Staatspartei und Verwaltung derweil in futuristischen Glaspalästen wie dem im Stil des Drei-Schluchten-Damms gebauten Museum in Chongqing. Hier wird das Erbe multimedial und mehrsprachig zelebriert. Das alte China aus der Konserve, damit das neue draußen Platz hat.

Aber auch auf dem Fluss ist die Vergangenheit noch präsent. Von Badong etwa, der Hafenstadt zwischen Schluchten und Damm, fahren Boote in die kleinen Schluchten, durch die sich der klare Shennong-Strom in den trüben Jangtse ergießt, der pro Jahr 530 Millionen Tonnen Schlick aus dem Himalaya-Gebirge ins Meer transportiert.

In Longshang, einer Siedlung, die vor der Flutung auf die andere Uferseite verlegt wurde, warten dann winzige Kähne, die von Männern der Tujia-Minderheit abwechselnd gerudert und zu Fuß an einem Seil durch das seichte Wasser geschleppt werden. Die Ufer hier sind steil aufragende Massive, in denen das Volk der Ba in grauer Vorzeit seine Toten bestattete. Hoch oben in den Felswänden hängen bis zu 2 000 Jahre alte Särge.

Wuhan und Nanjing sind dann wieder modernes China aus Stahl und Chrom, das sich Geschichte wie einen Garten leistet. Noch ein Abstecher zum Huangshan, dem "Gelben Berg", spätestens seit Maos Bastschuh-Marsch auf den Gipfel höchstes Heiligtum der Nation. Und hier ist auch der Nebel wieder, der über dem Tal hängt wie auf einem dreitausend Jahre alten Tuschgemälde. Am Lotosblütenberg, dessen bizarre Gipfel aus dem Wolkenmeer ragen, fallen Tradition und Moderne schließlich ganz unauffällig zusammen: Betreiber des Berges ist neuerdings eine Aktiengesellschaft, die an der Schweizer Börse gehandelt wird.

Freitag, 29. Mai 2015

Minecraft: Wenn Betrüger betrogen werden

Ehrlichsein ist leicht im Computerspiel. So lange sie vorwärtskommen, können Spieler es verschmerzen, dass sie auf der Nase landen oder ganz von vorn anfangen müssen. Wie beim Mensch-ärgere-Dich-nicht liegt der Spaß ja gerade darin, es trotzdem zu schaffen, gegen alle Widerstände und weil es nicht leicht ist.

Wie beim Mensch-ärgere-dich-nicht lässt sich dem Glück aber auch im Computerspiel nachhelfen. Eine ganze Industrie lebt davon, fertige Lösungen anzubieten, die Spielern beim Schummeln helfen: Statt auszuprobieren, wie sich ein Hindernis überwinden lässt, kauft der gewitzte Gamerfertige Tricks einfach ein. Zack, als würde man beim Mensch-ärgere-Dich-nicht auf einmal mit allen Männchen im Ziel stehen.

Im weltweit beliebtesten 3D-Spiel Minecraft sind nun allerdings hunderttausende solcher kleinen Schummler selbst böse betrogen worden. Helfer-Programme, die vorgaben, Ratlosen Tipps geben zu wollen, warnten stattdessen vor gefährlichen Viren auf den Handys neuer Nutzer. Die wurden damit so erschreckt, dass sie - wie von dem Programm geraten - eine SMS abschickten, die angeblich augenblicklich Abhilfe schaffen würde.

Tat sie nicht, denn in Wirklichkeit schloss der Nutzer mit der SMS nur ein Abo für fünf Euro pro Woche ab, das keinerlei Nutzen hat. Abgesehen davon natürlich, dass es Betroffene vollelektronisch an Omas Mahnung beim Mensch-ärgere-Dich-nicht erinnert: Ehrlich währt am längsten.

Dienstag, 26. Mai 2015

Schlachthof Halle: Zerbrochene Fenster, brennende Altlast

Die "Broken Windows"-Theorie von James Q. Wilson und George L. Kelling beschreibt einen Vorgang, nach dem Ansätze von Verluderung und Verslummung, eben etwa das zerbrochene Fenster in einem leer stehenden Haus, binnen kurzer Zeit dazu führen können, dass völlige Verwahrlosung und Zerstörung eintritt.

Ein Phänomen, das sich am Alten Schlachthof in Halle seit Jahren bestätigt. Seit Ende der 90er Jahre eine letzte öffentliche Veranstaltung in dem mehr als hundert Jahre alten Gemäuer stattfand, zerfallen die wunderbaren Ziegelsteingebäude auf dem ausgedehnten Gelände direkt an den Gleisanlagen der Bundesbahn ungestört. Der Schlachthof ist das Zuhause von Graffitimaler und abenteuerlustigen Kindern, Autodiebe lagern hier aussortierte Karossen, wer abzuladen hat, bringt ihn an diesen Platz, wo die Seelen gemeuchelter Schweine durch die Hallen geistern.


Es gab immer wieder ehrgeizige Pläne, das Terrain zu retten. Zuletzt wollte eine Genossenschaft um Richard Schmid, einst Mitbegründer der Grünen und des globalisierungskritischen Netzwerkes Attac, hier ihre Vision einer völlig neuen Art von Zusammenleben umsetzen. Ein mitmenschliche "Wohnmaschine“ sollte gemeinschaftliches Leben gegen sechs Stunden Gratisarbeit für jeden Bewohner im Monat in Küche und Wäscherei ermöglichen, nachhaltig und energiesparend.

Der Weg aber ist weit, zu weit vielleicht angesichts des anhaltenden Desinteresses bei der Stadtverwaltung und der inzwischen wöchentlich auflodernden Mode, Brände im Alten Schlachthof zu legen. Die Facebook-Seite der Initiative ist seit einem halben Jahr verwaist, da "der Verkauf des Gelände an eine Inkassogesellschaft das weitere Nachdenken und Gestalten des Projekts schwierig oder sogar undurchführbar" macht, wie die Initiatoren in einer Art Schlusswort schreiben.

Bis zu vier Millionen Euro Altschulden lasten auf dem Grundstück, die Stadt sitzt zudem auf Grundsteuernachforderungen in Höhe von einer halben Million Euro. Ein Gewicht, das alle hochfliegenden Pläne am Boden hält. Und die Feuerwehr beschäftigt.