Eines
Tages haben sie doch noch begonnen, nach ihm zu suchen. Die Kollegen
von der Band, mit der er mal gespielt hat. Ein paar Fans von früher.
Ein Reporter, der einen Film drehen wollte. Sogar eine
Facebook-Gruppe entstand, die alle Informationen sammelte. Nur dass
es keine Informationen gab über Stefan Diestelmann, den Blues-König
der DDR, der seinen letzten Hit vor 30 Jahren hatte und sich nach
seiner Flucht in den Westen in einen kleinen Ort in Bayern zurückzog.
Bei
seinem letzten Auftritt war ein kleines Boot die Bühne. Stefan
Diestelmann, rotes T-Shirt, knappe Shorts, Basecap und Sonnenbrille,
war eigentlich längst untergetaucht. „Ich brauche das alles nicht
mehr“, sagt der 56-Jährige, ehe er sich hinter das Steuerrad
seines Kahnes schwingt. Es ist das Jahr 2003, Stefan Diestelmann lebt
im 20. Jahr seit dem großen Ruhm. Ein neues Leben, sagt er. Die CDs,
die er gelegentlich noch für sich selbst einspielt, verkauft die
Metzgerfrau im Ort, die ihn irgendwann gebeten hat, doch mal
ein paar von den Dingern rauszurücken. „Du machst doch gute
Musik“, hat sie ihren Nachbarn gelobt, „die können wir doch dann
auch verkaufen.“
Stefan
Diestelmann war sich nicht sicher, ob er das wollte. Der Mann, der
einmal einer der bekanntesten und originellsten deutschen
Bluesmusiker gewesen war, ist nicht frei von Eitelkeiten, keineswegs.
„Die CDs waren in kurzer Zeit alle weg“, freut er sich. Man muss
dabei bedenken: Diestelmanns Boot schwimmt auf dem Ammersee, mitten
in Bayern. Hier war Diestelmann nicht einmal berühmt, als er berühmt
war. „Aber es kommen immer Touristen, die staunen, eyho, gucke mal,
dor Diestelmann“, lautmalt er auf Sächsisch, „und dann nochn
neues Album.“
Das
kaufen sie, die alten Fans, die er hinter sich gelassen zu haben
glaubte, als er alle Brücken abbrach. Das Datum lässt sich nicht
genau bestimmen, es ist irgendwann nach seiner Flucht in den Westen
passiert, die eigentlich ein ganz unspektakuläres Drübenbleiben
war. Zuerst wohnte Diestelmann noch bei seinem langjährigen Freund
und Mitmusiker, dem ehemaligen Lindenberg-Pianisten Gottfried
Böttger. Dann zog er nach Unterpfaffenhofen um, ins Haus des
Produzenten Ralph Siegel. Aber der habe ihn, sagt, „nicht erzählt,
was ich für Scheiße schreiben sollte.“ Er ist dann nicht mher
hingegangen. „Und eines Tages war er verschwunden“, erinnert sich
Böttger, „und man hat nie mehr von ihm gehört.“
Für
einen wie Diestelmann, der Ruhm und Aufmerksamkeit genoss, eine
rätselhafte Entscheidung. Doch genau betrachtet war die ganze
Karriere, ja, das ganze Leben des gebürtigen Münchners
geheimnisumwittert. „Mit 13 hat mich mein Vater in den Osten
verschleppt“, erzählt er, während ein Segelboot vorbeikreuzt.
Sein vater Jochen Diestelmann ist Defa-Schauspieler, er spielt für
Konrad Wolf und Frank Beyer, ein kleiner Star zwar, aber ein Star.
Nach dem Mauerbau stellt die DDR dem Mann aus Darmstadt ein
Ultimatum: Wer im Osten arbeitet, muss auch im Osten leben. "Da
hieß es zack", formuliert Stefan Diestelmann scharf, "ab
in den Osten."
Hier
ist der kleine Stefan ein Paria, der gemobbt wird. „Ich habe
gebayert, sagt er, „und ich wusste, was die uns in der Schule für
einen Unsinn erzählen.“ Brot zehn Mark im Westen? Butter fünf?
Wenn Lehrer versuchen, klassenkämpferisch korrekten Stoff im
Unterricht unterzubringen, schlägt der Wessi dazwischen. „Unsinn“,
ruft Diestelmann dann. Nicht nur die Mitschüler mögen ihn nicht,
sondern auch die Lehrer.
Es
sei ihm „sowas von egal“ gewesen, erinnert er sich. Es war doch
sowieso alles Mist, das ganze Leben eine Qual. „Vater schlug zu,
Mutter schlug zu“, sagt er, „ich musste diese blöden Lederhosen
tragen und durfte nur die Musik hören, die sich mich hören ließen.“
Vater Diestelmann legt zu diesem Zweck eine Lautsprecherbox ins
Zimmer des Juniors, die er von außen beschicken kann. „Da gab es
Jazz und Blues“, sagt Diestelmann, der lieber Stones, Beatles und
Troggs gehört hätte. „Aber das war ja Drecksmusik, Gülle, das
durfte nicht sein.“
Diestelmann
und der Blues, das ist so etwas wie eine arrangierte Ehe. Jazz und
Blues darf er. Und er beginnt, es zu lieben. „Mich hat der Rhythmus
angemacht“, beschreibt er, „das war alles so frei in die Welt
gesungen, das gefiel mir.“ Diestelmann hat eine Fünf in Musik,
aber er spielt BB King und Muddy Waters nach, auf einer Gitarre, die
ihm die Eltern geschenkt haben. Er hat keinen Unterrichht. Aber er
ist wie dafür geschaffen. "Es war Rhythmus, den ich brauchte",
sagt er später, "das Primitive, in dem alles steckt." Mit
der Gitarre ist er nun wer. Wenn er singt, empfängt er Bewunderung.
Es ist dies das Hochgefühl, dem Stefan Diestelmann von nun an ein
Leben nachjagen wird: im Mittelpunkt stehen, der sein, zu dem alle
aufschauen.
Der
Osten ist für so einen zu klein. Die Stars, die er anhimmelt, mit
denen er entschlossen ist, eines Tages zu spielen, die stehen im
Westen auf der Bühne. „Ich wollte einfach rüber, zurück nach
Hause“, sagt er. Vorsichtige Erkundigungen nach Fluchtmöglichkeiten
enden allerdings im Desaster. Diestelmann, so zumindest berichtet er
es später gern und oft, kommt wegen versuchter Republikflucht ins
Gefängnis. Drei Jahre habe er in einer Besserungsanstalt bei
Regis-Breitingen abgesessen. „Ich habe dort Leute sterben sehen“,
behauptete er.
Diestelmann
überlebt, doch seine Rückkehr ist kein Triumphzug. Er hat
Berlinverbot und darf Potsdam nicht verlassen. „Ich habe beim
Obsthandel gearbeitet, erst als Unterkistenstapler, dann als
Oberkistenstapler.“ Bluestime, die Welt ist schlecht, selbst der
Wechsel zur Post, wo er als Telegrambote unterkommt, tröstet nicht.
„Ich konnte meine paar Freunde nicht kontaktieren und die wussten
nicht, wo ich bin.“
In
diesen Jahren habe er begonnen, ganz für sich allein Songs
aufzunehmen. Diestelmann arbeitet bei einer Fotografin im Labor, er
hat den Traum von einer Karriere begraben, er spielt wieder nur für
sich. Bis es an der Tür läutet und der Gitarrist Axel Stammberger
vorsichtig nachfragt, ob Diestelmann nicht vielleicht Lust hätte,
bei seiner neuen Band vorzuspielen, die einen Sänger und Gitarristen
suche. „Die hatte noch gar keinen Namen, aber das waren alles echte
Profis“, betont Diestelmann. Er selbst mit seinem „Geschrubbe“,
wie er es nennt, kann da nicht mithalten, glaubt er. Er selbst sieht
sich als Autodidakten ohne Anspruch. „Ich wollte mich ja immer nur
begleiten können, nie ein Virtuose sein.“
Begleiten
aber kann Stefan Diestelmann sich wie kaum ein anderer. Er spielt den
Blues auf seine Art, wild und ursprünglich, aber auch deutsch bis
ins Mark. Es kommt ihm nicht auf Perfektion an, sondern auf Gefühle.
Der Herz muss schlagen in der Musik, und sei es, dass er es kitzelt,
in dem er mit einer Hand Gitarre spielt und mit der anderen die
Mundharmonika führt. „Das fand ich spannend, das haben die Leute
gewollt.“ Auch die Kollegen lieben es. Er wird Frontmann von Vai
Hu, feiert Erfolge, spürt, was er sein kann. Und geht.
Seine
erste Solo-Platte schlägt alle Rekorde. Aus 2000 Exemplaren werden
20.000, aus 20.000 nochmal 75.000 Nachauflage. Die Hallen sind voll.
Das Ministerium gewährt ihm „wegen seiner Popularität" den
begehrten Berufsausweis. Die zweite LP, „Hofmusik“ genannt, ist
dann ein Triumph. Diestelmann ist nun der König des Blues in der
DDR, ein vollbärtiger, langhaariger Guru, dem an den Wochenenden
hunderte hinterherreisen, wie die Staatssicherheit im Operativen
Vorgang „Diestel“ feststellt.
Kein
gutes Vorbild für die Jugend, zumal der von sich selbst begeisterte
Entertainer längst begonnen hatte, den vermeintlichen Schutz seiner
Prominenz zu nutzen, um von der Bühne Witze über die DDR zu machen.
Die IMs „Wolfgang Schubert“, „Weiß“ und „Jazz“ schreiben
mit. „Und jeden Montag musste ich im Ministerium erscheinen, um
mich dort für irgendeinen Spruch zu rechtfertigen.“ Diestelmann
ist in Wirklichkeit kein Rebell, kein Dissident. Er ist nur stur und
rücksichtslos. Was er dafür
hält, ist die Wahrheit. Was andere sagen, interessiert ihn nicht.
Er verdient mehr Geld, als er ausgeben kann. Er spielt
bis zu 370 Konzerte im Jahr, „manchmal vier an einem Tag“, sagt
er. Seine Lieder "Der Alte und die Kneipe" oder der
"Reichsbahn-Blues" sind keine Radiohits, aber jeder
DDR-Tramper versucht, sie auf seiner Mundharmonika nachzublasen.
Nur
er selbst kann sich noch stoppen. Und er tut es. Diestelmann geht
ganz an die Grenze, dorthin, wo jeder weitere Schritt das Aus in der
DDR bedeutet. Er schmuggelt Gottfried Böttger, den Westdeutschen, in
Konzerts. Bundesdeutsche Politiker und ARD-Reporter hängen in seiner
Wohnung ab. Er spielt daheim nächtliche Sessions mit dem Amerikaner
Harmonica Phil Wiggins, bis die Polizei klingelt. Er diskutiert mit
dem neuen Amiga-Chef darüber, ob Blues wirklich eine Musik für die
DDR ist. Diestelmann spürt immer nur, was fehlt. Er will im Westen
spielen. In den USA mit BB King auftreten. Stattdessen bekommt er
Auftrittsverbote, weil er "Jugendliche anzieht, die die Ordnung
und Sicherheit gefährden", wie die Stasi schreibt.
Die
hat das Idol der herumtrampenden DDR-Jugend allerdings noch nicht
ganz abgeschrieben. Während Diestelmann immer fürchtet, „dass sie
mit mir die Biermann-Lösung machen“, geht es dem MfS nach Lage der
OPK-Akte XV 7032/81 vor allem darum, den unangepassten Sänger auf
den Pfad der sozialistischen Tugend zurückzuführen. Man zeigt ihm
die Instrumente: Keine Westauftritte, so lange auf der Bühne über
die DDR gelästert wird. Diestelmann gibt klein bei. „Ich dachte
immer, im Westen spielen, das verdient man, weil man gut ist“, sagt
er, „aber die machten einem klar, dass sie das wie einen Preis
verleihen, nur an die, wo sie es wollen.“
Als
es so aussieht, als hätten sie ihn wieder integriert, ist er in
Gedanken schon ausgereist. Jetzt bekommt er den ersehnten Pass, jetzt
bekommt er West-Engagements, die er genießt. „Ich war der Star,
die Leute haben mich bejubelt“, sagt er über Auftritte in
Niedersachsen und Hamburg. Im Westfernsehen trägt Diestelmann eine
rote Latzhose, während er mit Gottfried Böttger seinen Boogie
Woogie spielt. „An der Garderobe müssen sie noch arbeiten“, sagt
danach jemand vom Sender zu ihm.
Diestelmann
ist dazu bereit. Er will nicht mehr Ossi sein. „Ich wollte aber vor
allem nicht mehr darum bangen müssen, wann sie mir die Genehmigung,
in den Westen zu fahren, wieder wegnehmen.“ Vor einem Festival in
Hildesheim sagt er niemandem Bescheid, nicht einmal in Andeutungen.
5000 Fans feiern ihn beim Open-Air-Jazz-Festival. Er ist beseelt. Und
fährt einfach nicht mehr zurück. Die Stasi löst eine Fahndung nach
ihm aus. Stellt sie aber wenig später wieder ein. Begründung: Es
sei bekannt, dass der Gesuchte sich nicht mehr in der DDR aufhalte.
Dort,
wo Stefan Diestelmann nun ist, wird er nicht glücklicher werden. Die
ersten Jahre tingelt er noch, hoffnungsvoll und mit Freunden. „ich
wusste, dass ich auf einem anderen Niveau weitermachen muss“, sagt
er, „aber ich hatte keinen Zweifel, dass ich weitermachen kann.“
Doch nach Anfängen mit Auftritten in Köln und München hadert der
begnadete Improvisationskünstler mit sich. Der Westen bietet ihm
Cafés statt Konzerthallen. Er ist Vorprogramm statt Hauptperson. Der
wichtigste Blues-Mann der DDR wird zum Freizeitkapitän, der sein
Boot über den Ammersee steuert und behauptet, die Musik gar nicht zu
vermissen.
Er
habe dann lieber Werbefilme für Hotels gedreht, sagt er. Ägypten,
Teneriffa, die feinsten Adressen. „Und immer das modernstes
Equipment“, schwört Diestelmann, der einmal sogar von Ägyptens
Diktator Mubarak berufen worden sein will, eine zweiwöchige
Landbereisung zu dokumentieren. „Leider musste ich das Rohmaterial
anschließend komplett abgeben.“
Diestelmann
behauptet in jenen späten Tagen am Ammersee, sehr glücklich zu
sein. Er ist immer noch ein großer Geschichtenerzähler, ein Mann,
der abendliche Runden ganz allein unterhalten kann. Er hat ein
Mündchen für Dialekte, er hat ein Ohr für Dynamik, ein Gefühl für
Pointen. Er erzählt, wie er Mariah Carey und Bruce Willis
kennengelernt habe, wie er für Antonio Banderas Lieder schrieb und
„viel Geld“ verdiente. Die Giesing zieht vorbei, ein großer,
neuer Dampfer. „Der ist dauernd kaputt“, sagt der
Freizeitskipper.
Diestelmann
spricht viel von früher. Er macht Witze. Er macht keine Musik mehr.
Oder nur noch manchmal, so ganz klar ist das nicht. Gelegentlich,
sagt er, spiele er schon noch. Aber nicht mehr als Beruf, nur noch
als Berufung. Wenn Touristen aus dem Osten ihn erkennen und fragen,
warum er denn nicht mehr auftrete und wo eine neue Platte bleibe,
lässt er sie wissen, dass die Musik ihm zu wichtig sei, "dass
ich sie als Broterwerb betreiben will".Sein Blick auf die
Ex-Kollegen ist ein harscher, fast böser: Die machen immer alle
immer weiter, die ahben keine Würde, abzutreten, ätzt er: „Selbst
wenn es längst nötig wäre.“
Er
selber ist weg, weg von der Bühne, weg aus der Öffentlichkeit.
Hinter dem Dreitage-Bart, der vom einstigen Kinngestrüpp geblieben
ist, pflegt Diestelmann den Nimbus des Total-Aussteigers. Kein Blues
mehr, kein Applaus und keinerlei Kontakte. „Er hat sich auch der
Familie entzogen", erinnert sich sein Onkel Jürgen Diestelmann
später.
Eine
Nachbarin, die nicht weiß, wer er ist, hört ihn in diesen Tagen
manchmal Saxophon spielen. "Aber das ist auch schon lange her",
wird sie später erzählen. Sein Vermieter ist der letzte Mensch, der
weiß, dass da der Blues-König des Ostens zu hören ist. Stefan
Diestelmann stirbt an einem Tag im März des Jahres 2007. Sein Arzt,
der gleichzeitig sein Nachbar und letzter Freund war, bittet um
Respekt für den Wunsch des Toten, dass weder bekannt werden soll,
woran er gestorben ist, noch, wo der König des Blues begraben liegt.
Das
ist fünf Jahre später, als zum ersten Mal jemand fragt.