Sonntag, 6. November 2016

Tiefe Einblicke ins Fan-​Ge­hirn


Wenn es ums Geld geht, aber nebenbei auch soziale Erwägungen mitspielen, schaltet das menschliche Gehirn in einen anderen Verarbeitungsmodus. In diese Richtung deuten Ergebnisse einer Studie, die an der Universität Bonn durchgeführt wurde. Bei den zugrundeliegenden Tests konnten Probanden Musikstücke kaufen und den zu zahlenden Preis selbst festlegen. Die Forscher zeichneten währenddessen die Hirnaktivität der Teilnehmer auf - mit verblüffenden Ergebnissen.

Als die Band Radiohead vor zehn Jahren ein neues Album zum Download ins Internet stellte, ohne dafür einen festen Preis zu verlangen, war das ein Großexperiment. Kaufen, aber zu dem Preis, den der Käufer zu geben bereit ist? Ein schlechtes Geschäft, meinten Skeptiker. Doch die Fans belehrten sie eines Besseren: Zwar zahlte nach externen Beobachtungen kaum die Hälfte aller Käufer. Die andere Hälfte aber zum Teil viel zu viel, so dass das Album trotzdem auch kommerziell ein Erfolg wurde.

Wie aber kommt diese unterschiedlich ausgeprägte Bereitschaft, zu zahlen? Was sich bei Käufern im Gehirn abspielt, wollten Wissenschaftler der Uni Bonn im Experiment ermitteln. 25 Teilnehmer steckten sie in einen Hirnscanner, dort hörten die Probanden einen Ausschnitt aus einem Musikstück, anschließend sollten sie entscheiden, ob sie das dazugehörige Album kaufen wollten oder nicht. In einigen Fällen durften die Versuchspersonen dabei entscheiden, wie viel Geld sie ausgeben wollen. Unabhängig vom gezahlten Betrag würden sie die Musik aber auf jeden Fall behalten dürfen. Für die Gegenprobe hatten die Forscher einen Fixpreis festgelegt, dessen Höhe den Teilnehmern nicht bekannt war. Die Probanden konnten ihren Kaufpreis vorschlagen, wussten aber, dass sie das Album nur bekommen, wenn ihr Vorschlag über dem Festpreis liegt.

"Im Fixpreis-Szenario fanden wir Aktivierungsmuster, die genau unseren Erwartungen entsprachen", erklärt Sebastian Markett von der Abteilung Differentielle und Biologische Psychologie: "Direkt beim Hören des Musikstückes wurden bei den Probanden bestimmte Hirnstrukturen aktiv, die zum sogenannten Belohnungssystem zählen." Je besser den Teilnehmern ein Stück gefiel, desto stärker fiel diese Aktivierung aus. Mit deutlichen Folgen: "Desto höher war im Anschluss die Summe, die sie für das Album boten."

Der Musikgenuss bestimmte also, wie viel die Musik dem Käufer wert war. Anders sah es dagegen aus, wenn die Teilnehmer nach dem Hören des Stücks erfuhren, dass sie über den Preis selbst bestimmen können. In diesen Fällen ließ sich aus der Aktivierungsstärke des Belohnungssystems nicht auf die Summe schließen, die die Probanden später zahlen würden. "Stattdessen lief bei ihnen eine Gehirnregion zu Höchstform auf, die auf visuelle Reize reagiert, die eine soziale Komponente beinhalten", wie Simon Waskow erklärt, der die Studie mitverfasst hat.

Die Folge: "In die Entscheidungsfindung wurden nun nicht mehr nur ökonomische Überlegungen, sondern auch soziale Erwägungen wie eben der Fairness-Gedanke einbezogen." Der Preis, der niedriger sein könnte, steigt nun dadurch, dass niemand sich nachsagen lassen will, er zahle zu wenig. 

Mittwoch, 2. November 2016

Eric Fish: Mit leichter Hand


Der in Halle aufgewachsene Subway-to-Sally-Sänger Eric Fish schlüpft auf seinem sechsten Solo-Album wieder in das Gewand des Liedermachers.

Wenn seine Band antritt, dröhnen die Drums, die Gitarren gellen und allerlei atemberaubende Blasinstrumente sorgen für einen unverwechselbaren Sound. Subway to Sally, vor 26 Jahren in Potsdam gegründet, sind die Superstars des Mittelalter-Metal, die ungekrönten Könige einer Musik, deren Fans am liebsten Schwarz tragen und die Lieder ihrer Lieblingsbands immer auch als Lebenshilfe begreifen. Laute Musik vertreibt die Sorgen des Alltags. Und die besonders metaphernreichen Texte laden zum Grübeln und Sinnieren.

Dabei bleibt es auch, wenn Subway-Sänger Eric Fish auf Solopfaden wandelt. Der in Halle aufgewachsene Musiker, der eigentlich Erik-Uwe Hecht heißt, tut das seit 1999 regelmäßig. Und was anfangs aus dem Versuch bestand, Klassiker wie "Find the coast of freedom" oder "Ehrlich will ich bleiben" für ein neues, jüngeres Publikum zu retten, ist unterdessen längst ein zweites, festes Standbein des 46-Jährigen geworden. 


Die meist originell ausgewählten und in ebenso exakten wie gefühlvollen Interpretationen dargebotenen Coverversionen hat Fish auf "Zugabe" genannte EPs verbannt. Auf den richtigen Solo-Alben dagegen gibt es richtige Solostücke, selbst geschrieben und mit der bewährten Mannschaft Uwe Nordwig, Gerit Hecht und Rainer Michalek eingespielt. Aufgenommen wird nicht mehr live, sondern im Studio.

Im Gegensatz zu Subway to Sally, wo Fishs prägnante Stimme flankiert wird von einem Orkan aus Sounds, Rhythmen und Riffs, geht es bei Fish solo aber immer noch ruhig zu. Auch "Mahlstrom", das neue Album, macht da keine Ausnahme, obwohl Fish, der bis zur vierten Klasse in Halle lebte und heute als einziger Ex-Hallenser in der ersten Rockliga mitspielt, hier erstmals fast durchgehend einen Drummer beschäftigt.

Die Musik ist dennoch eher leise als laut, klassische Liedermacher-Kost mit flirrenden Akustikgitarren und schönen Melodiebögen. Fish schreibt zu seinen Melodien, die bei "Kreuzfahrt" mal arabisch, bei "Rad" dagegen eher irisch wirken, Texte, die nach den Herzen der Zuhörer greifen. Das Leben und die Liebe, der Jammer und der Triumph, für jedes Gefühl findet der studierte Maschinenbauer genau die richtige Ausdrucksweise.

Und die richtigen Kollaboranten. Johanna Krins, Sängerin der bayrischen Folkband Delva, singt beim finalen "Schlaf" mit und spielt zudem bei weiteren Stücken Klavier. Bei "Geben und Nehmen" schließlich treffen zwei Hallenser aufeinander: In der biblischen Geschichte um Kain und Abel teilt sich Eric Fish den Gesang mit Ralf Schmidt alias Falkenberg, dem anderen kantigen Singer/Songwriter aus der Händelstadt, mit dem er ab Ende des Monats auch auf Deutschland-Tournee unterwegs sein wird. Gemeinsam machen die beiden hier Front gegen Egoismus und Eigensucht, gegen die "gierige Hand", die den Armen nimmt und den Reichen gibt. "Was du nicht willst, das dir getan, das tue auch nicht anderen an", heißt es da.

Ein Schlüsselsatz, so alt wie die Idee zu dieser Musik hier, die im besten Sinne klassisch ist, ohne Allüren und modische Tricks. Eric Fish ist im Grunde ein Bänkelsänger, der sowohl melodisch als auch inhaltlich immer wieder zu überraschen weiß, indem er Bedeutungen gegen Erwartungen kippt. Die Band musiziert, als säße sie in einem kleinen Klub, Fish singt aus vollem Herzen, der Sound ist warm und weich, ein Kuschelzimmer aus Noten und Fishs Grübeltexten, in denen der Hörer immer wieder neue Bedeutungsebenen entdecken kann.

Konzerttermine hier:
www.ericfish.de
www.falkenberg-musik.de

Donnerstag, 27. Oktober 2016

Nachruf: Manfred Krug, der Glatzkopf aus der Zone


Seinen letzten Hitparadenerfolg hatte Manfred Krug an der Seite von Charles Brauer mit einem Album voll gut abgehangener Oldies. Erst zu dieser Zeit entdeckte der Schauspieler den Sänger in sich wieder.

Popstars sehen anders aus. Popstars haben keine hohe Stirn bis in den Nacken. Nicht ein Delta aus Lachfältchen um die Augen. Keinen Schmerbauch unterm Doppelkinn, nicht diesen fatalen Hang zum Hosenträger, und meist tragen Popstars auch nicht gewienerte Halbschuhe zur scharf gebügelten Cordhose.

Nur zählt das alles nicht, weil Charles Brauer und Manfred Krug nicht mehr jung, hübsch oder modisch waren, also sie mit wohlig-warm gebrummten Weisen Marke "Stormy Weather" Teenie-Lieblinge wie Oli P., Weltstars wie Bryan Adams und Jazz-Legenden wie Al Jarreau in den deutschen Verkaufshitparaden hinter sich ließen.

Es war der letzte Aufruf für Manne Krug, wie ihn seine Fans und Bewunderer nannten. Als „Tatort“-Kommissar Stoever hatte er mit seinem Kollegen Brauer alias Brockmöller bei den Dreharbeiten auf einer kleine Vogelinsel in der Elbmündung Langeweile gehabt. "Ein Leuchtturm, zwei Bauernhöfe, zwei Kneipen", beschrieb Manfred Krug, "also keine Möglichkeit, den Drehtag mit ein bisschen guter Musik, einem schönen Wein und einer guten Zigarre ausklingen zu lassen."

Doch wie der Zufall wollte, stand im Gasthof, in dem er gemeinsam mit seinem Partner Charles Brauer untergebracht ist, ein Klavier: "Ja, und da haben wir halt abends davor gehockt und ganz spontan ein paar Lieder gesungen", erinnerte sich Charles Brauer, "wir hatten in dem Moment wohl auch einen Kleinen sitzen."

Das Publikum der Premiere der beiden Brummbären ließ sich an zwei Fingern abzählen. "Manfred spielte, ich fing einfach an, das Ding zu singen", erzählt Brauer,"und Manfred sagte, Mensch Brocki, ist ja toll." Der Anfang einer Rückkehr des Manfred Krug zur Karriere des Sängers, die er in der DDR hatte.

"Als ich noch dort lebte", erzählt er, "war das ja auch eher eine dankbare Sache, denn da gab es keine amerikanischen Originale, da musste man das selber machen." Gemeinsam mit dem Musiker und Orchesterleiter Günther Fischer spielte Krug damals neun Schallplatten ein, auf ausverkauften Tourneen feierten die Menschen ihn und seine "Berliner Jazzoptimisten".

Krug, zu DDR-zeiten als Clemens Kerber auch Autor seiner eigenen Stücke, war unter der Käseglocke der DDR-Kultur alles auf einmal: Blood, Sweat & Tears, Ray Charles und Frank Sinatra.

Seine komödiantischen Kabinettstückchen wie "Der Hase im Rausch" und "Die Kuh im Propeller" können nicht nur beinharte Fans bis heute in exakter Manne-Manier rezitieren.

Nach der Ausreise des Superstars des DDR-Soul blieb von der Herrlichkeit nicht viel. "Als ich rüber kam, bin ich noch einmal ins Plattenstudio", sagt Krug, "aber da kamen kaum die Kosten wieder herein." Im Westen habe ihn niemand gekannt, meint er, "die Leute haben zu Recht alle auf Milva geguckt, nicht auf diesen Glatzkopf aus der Zone."

Krug, der sich über die Rolle des Fernfahrers Franz Meersdonk in der Vorabend-Serie "Auf Achse", wieder ins große Geschäft kämpfte, hat das Singen nicht vermisst. Das Publikum vermisste ihn auch nicht. Zwanzig Jahre blieb es bei gelegentlichem Brummeln vorm Badezimmerspiegel, ohne dass ihm etwas fehlte. "Ich habe mich wieder auf meine eigentliche Arbeit kapriziert", sagt der 63-Jährige, der seine Liebe zum "antiken endgültigen Schlager" nur noch als Schallplattensammler pflegte.

Doch je älter er wurde, desto mehr zog es ihn zurück auf die Bühne. Kleine Bühne, gern mit Uschi Brüning, volle Säle, aber meist in der Provinz. Krug, der immer in der ersten Reihe stand, ließ sein Leben im wahrsten Sinne ausklingen. Er sang "Alright, Okay, You Win" und „On the sunny side oft he street“, dünner geworden, aber immer noch ein Charakterkopf, der sich lange Touren zumutete, die mancher halb so alte Künstler abgelehnt hätte.Aber Krug war ein Zirkuspferd, eine der Bühnenmaschinen, die raus müssen und Publikum brauchen, weil sie sonst eingehen.

Als er starb, 20 Jahre nach seinem letzten Film und nur zwei nach seiner letzten CD, zudem direkt aus einer laufenden Tournee gerissen, wurde er als Schauspieler betrauert. Und als "ostdeutscher Schauspieler" sowie - obwohl er gerademal 20 seiner 60 Karrierejahre in der DDR verbachte.



Samstag, 22. Oktober 2016

Harald Welzer: Im digitalen Heuhaufen


Der Zukunftsforscher Harald Welzer sieht die Gesellschaft vom Internet bedroht.

Alles auf einmal, alles gleich und am besten alles auch noch überall und jederzeit - die Versprechen der digitalen Zukunft haben die Gesellschaft im letzten Jahrzehnt stärker verändert als Mauerfall und Ende des Staatssozialismus. Die Welt ist offener geworden, kleiner und gleicher, neue Firmen wuchsen zu Giganten, alte Wirtschaftszweige brachen zusammen. Technologie löste Menschen ab, der Handel mit digitalen Gütern den mit echter Ware.

Und doch meldet der Zukunftsforscher Harald Welzer, im Hauptberuf Professor für Transformationsdesign an der Uni in Flensburg, Zweifel an. Die frohe Zukunft aus selbstdenkenden Maschinen, riesigen Cloudspeichern mit eigenem Lernvermögen und allmächtigen Großunternehmen wie Google, Apple und Amazon als Profiteuren sieht der 63-Jährige als "Angriff auf unsere Freiheit", wie es im Untertitel seines neuen Buches "Die smarte Diktatur" heißt.

Welzer, der zuletzt mit "Selbst denken: Eine Anleitung zum Widerstand" Konsumwahn und "politisches Illusionstheater" (Welzer) gleichermaßen - und gemessen an Verkaufszahlen sehr erfolgreich - kritisiert hatte, schlägt diesmal einen großen Bogen von der Verfolgung im Nationalsozialismus zum Datentracking durch kommerzielle Unternehmen und staatliche Behörden. "Diese Formation macht die totale Überwachung von Menschen perfekt umsetzbar wie noch nie in der Geschichte", urteilt er.

Selbst im Kleinen, auf der äußersten Benutzeroberfläche, zeigten sich die Folgen. Daten aus sozialen Netzwerken dienen als Futter für sogenannte Shit Storms, Menschen werden aufgrund ihrer öffentlich geäußerten Meinung zu einem bestimmten Thema als ganze Person angegriffen und zuweilen richtiggehend vernichtet.

Eine Gesellschaft lernt daraus, sie verändert sich.


Sie spricht irgendwann nicht mehr offen aus, was sie im Inneren bewegt.

Freiheit, eigentlich die Abwesenheit von Zwang, wird subtil neu zugeteilt. Der moderne Mensch nimmt sie sich selbst. Und verliert sie gleichzeitig dabei, ohne es zu spüren. Harald Welzer beschreibt das nachvollziehbar, bleibt aber hier nicht stehen. Nach und nach entblößt er die tieferen Strukturen des digitalen Heuhaufens: die im Elend gründenden Lieferketten der glänzenden Smartphone-Wirtschaft, die allein in Deutschland die Energieproduktion von vier Atomkraftwerke verzehrenden Serverfarmen, die globalisierte Billigproduktion von Lifestyle-Artikeln. Und das alles nur, schließt Harald Welzer messerscharf, um "Probleme zu lösen, die wir zuvor nicht hatten".

Zu drastisch, aber nötig, um die Grundanklage des Neokolonialismus zu begründen, die er schließlich erhebt. An den habe die Menschheit ihre Zukunft verloren, es sei Zeit, sie von der "smarten Diktatur" zurückzuholen. Wenn es denn nicht schon zu spät ist.




Donnerstag, 20. Oktober 2016

So gründlich hätte ein Atomkrieg die DDR vernichtet


Als es frostig wurde im Kalten Krieg, spielten die USA die Möglichkeit durch, die Sowjetunion mit einer Serie von massiven Atomschlägen nuklear zu enthaupten. Nicht nur die UdSSR selbst war dabei im Visier, sondern auch deren verbündete Staaten in Osteuropa. Allein zwischen Erfurt und Peking zählt die geheime Liste mit der Identifikationsnummer 32006765 genau 948 Orte, die als Ziele ausgemacht waren. Gemeinsam ist allen Städten, dass es sie nicht mehr geben würde, wären die Pläne aus einer Atomkriegsstudie des US-Militärs jemals zum Einsatz gekommen. Das Strategic Air Command (SAC) der US-Luftwaffe hätte sie förmlich ausgelöscht, wie sich mit Hilfe der Online-Simulation Nukemap simulieren lässt.

Auch Halle wäre im Fall einer Eskalation der Auseinandersetzungen mit dem Warschauer Pakt nach den Vorgaben des SAC-Chefs General Curtis LeMay komplett zerstört worden. Mit zwischen 36.000 und mehr als 100.000 Toten und 50.000 bis 100.000 Verletzten hätte es die Stadt nach einem Besuch der US-Atombomberflotte mit B-47-Bombern aus Großbritannien, Marokko und Spanien und B-52 aus den USA nicht mehr gegeben.

Laut der „Air Power & Systematic Destruction List“ stand Halle nicht direkt auf der Zielliste. Doch um einen nuklearen Schlagabtausch zu verhindern, wollten die USA Städte mit sowjetischen Truppenstützpunkten wie Merseburg, Aken, Bernburg, Tröglitz, Dessau, Merseburg, Wittstock oder Zerbst so massiv angreifen, dass die Saalestadt ebenfalls zum Ground Zero geworden wäre. Eine zweite Liste sogenannter Delta-Targets enthielt dann weichere Ziele wie Verkehrsknotenpunkte, Städte und Industriezentren. Spätestens jetzt wäre nach einem 800-seitigen Papier, das nach einer Klage des Journalisten Michael Dobbs im Dezember 2015 vom Nationalarchiv freigegeben werden musste, ganz Ostdeutschland zu einer atomaren Wüste geworden.

Weil überwiegend Explosionen auf dem Boden vorgesehen waren, um die Infrastruktur möglichst gründlich zu zerstören, rechnete die Air Force zudem mit einem viel höheren nuklearen Fallout als bei gleich großen Nuklearexplosionen in der Luft, wie sie Hiroshima und Nagasaki zerstört hatten. Diese Phase der „systematischen Zerstörung“ des sogenannten „kriegsfähigen Potentials“ des Ostblocks hätte den Abwurf von Atombomben mit einer Sprengkraft von nur 0,16 Megatonnen vorgesehen. Auch das ist aber immerhin noch acht Mal mehr als die Nagasaki-Bombe hatte.



Freitag, 14. Oktober 2016

Bob Dylan in der DDR: Muffliger Gott mit Gießkannenstimme

Ein warmer Tag. Und die ganze Republik ist auf den Beinen. Keiner, der nicht gut drauf zu sein scheint. Wochenlang war das Ereignis ausgiebig diskutiert und minutiös vorbereitet worden. Abfahrt dann, dort und dort, Fahrt, Halt zum Bierholen an dieser und jener Stelle, Weiterfahrt und Treff mit den anderen, wer immer das im Einzelfall war. Irgendwie bedeutete Dylan ja plötzlich selbst denen was, die sonst nur Van Halen und Genesis hörten.

Hätte es, was damals nicht der Fall war, die verunglückten Spätwerke des Meisters in den "Plattenläden" genannten staatlichen Verteilstationen gegeben und wären, was bis zuallerletzt nicht erlaubt wurde, außerdem richtige Hitparaden zugelassen gewesen, niemand hätte dem altgewordenen zornigen jungen Zimmermann die Nummer eins streitig machen können. Dylan war, wenigstens, bevor er dann wirklich auf die Bühne kam und grußlos ein Lied namens "When The Night Comes Falling Down" zu nölen begann, mehr als irgendein Sänger sonst in irgendeinem Konzert. Mit ihm zog die neue Zeit, er kündete unübersehbar vom Ende der ostdeutschen Popprovinz.

* * *

So wenigstens hatten es sich die Hunderttausend auf der Wiese vor der Parkbühne in Treptow ausgedacht, die ihm wie auf einer verfrühten Republiksgeburtstags-Kundgebung seltsame Losungen wie "Fürstenwalde grüßt Bob Dylan" entgegenreckten. Ein bißchen Anbiederung, ein paar warme Worte und ein klein wenig "Sing-with-me" und Dylan hätte als Erlöser enden können. Das wurde dann allerdings doch nichts.

* * *

Nachmittags hatten noch alle Nachwuchs-Bobs der Republik an allen Straßenecken Berlins ein "Like A Rolling Stone" genäselt. Abends dann war Gott nur ein fusselbärtiger Mann im Bauernhemd, der mit Gieskannenstimme uninspiriert vor sich hinmummelte. Dazu konnte man weder besonders gut tanzen noch im Takt klatschen. Das zweifellos Bemerkenswerteste an seinem Konzert war die ratlose Begeisterung der Massen, das grußlose Ende nach kaum mehr als neunzig Minuten und der anschließende Versuch der Heimfahrt, bei dem sich zehntausend Menschen in die sieben Waggons des einzigen Reichsbahn-Nachtzuges Richtung Süden zu zwängen versuchten. Es klappte nicht. Das war die DDR.

* * *

So groß die Enttäuschung am Tag danach - geträumt wurde weiter unverdrossen. Was hat er wohl sagen wollen, indem er gar nichts sagte? Geübt im Lesen zwischen den Zeilen, versuchten sich Stammtischrunden an der Dechiffrierung der Dylan`schen Botschaft. Es gab Bier, 56 Pfennige das Glas, und es gab "Goldbrand" dazu und die Kneipen machten Schluß, wenn es am Schönsten war. Das war mitten in der Nacht und die Lösung von "how does it feel" stand in den trüben Sternen über Halle-Neustadt.

Sonntag, 9. Oktober 2016

Die DDR im Rückspiegel: Es war nicht alles, vieles ist auch noch


Zweieinhalb Jahrzehnte nach dem Mauerfall sind die Schatten der DDR verblichen, verschwunden aber sind sie nicht. Ein Blick zurück zeigt nach Meinung mancher, "wieviel DDR in der heutigen Bundesrepublik steckt". Nein, es war nicht alles. Manches ist immer noch.

Es ist der Ketchup, der am meisten fehlt. "Meine Oma hat den so genial gemacht", schwärmt Christian Vetter bis heute nach dem Mauerfall. Der überspülte das Gebiet der ehemaligen DDR mit einer Welle aus echter Tomatensauce. Doch Vetter hat noch immer den Geschmack der selbstgemachten Soße auf der Zunge. Mitte 30 ist er, arbeitet beim ADAC und denkt nur noch selten an die DDR, die das Land seiner Kindheit war. Nur manchmal überkommt ihn die Sehnsucht nach dem Eigenbau-Ketchup so heftig, dass Vetter, eher der Typ für den schnellen Bissen im Restaurant, sich sein Ketchup sogar selber kochen würde. "Leider weiß Oma das Rezept nicht mehr."

Wo statt der Rezepte nur Erinnerungen sind, ist die Entscheidung leicht, was gut war und was schlecht in und an der DDR. Die Kinder waren betreut, alle hatten Arbeit und man half einander, so schwingen die Grundakkorde, zu denen die Hälfte der Ostdeutschen heute ein von positiven Erinnerungen komponiertes Hohelied des DDR-Sozialismus singt.

So leicht aber ist es nicht immer, denn es war ja nicht alles und ist nun vergangen und vorbei. Vieles ist bis heute - in den Städten und in den Menschen. "Diese alte DDR-Kunst etwa, die an ein paar Fassaden klebt", sagt Christian Vetter, "man guckt, und sofort ist der Gedanke an die DDR wieder da."

Ein Gedanke, mit dem Mandy Wachtel stets zuerst "zu Hause" assoziiert. 14 war sie, als das SED-Regime zusammenbrach, das ihren Bruder aus der Familie hatte zwangsweise wegadoptieren lassen. "Die DDR hat mich geprägt", glaubt die Köthenerin, die in Mecklenburg lebt und bei einer Internetfirma arbeitet. Denke sie an früher zurück, sehe sie trotz der Erfahrungen ihrer Familie nicht Parolen und Paraden vor sich. "Sondern unser altes Haus, in dem ich mit meiner Oma wohnte." Das existiert fort in ihrem Kopf, nicht in der richtigen Welt. Als sie das letzte Mal dort gewesen sei, habe sie vergebens versucht, sich zu erinnern, wie früher alles aussah. "Mir kam alles seltsam fremd vor."

Wie ein anderer Planet, auf den man sich nicht zurückwünscht, selbst wenn man ihm zugesteht, "dass es eine Alternative zu der Gesellschaft war, in der wir jetzt leben", wie es Sven Moelke tut. Der Hallenser, der das Ende aller Gewissheiten als Pionier erlebte, hat sich sein DDR-Bild aus "Selbsterlebtem und Überliefertem zusammengepuzzelt" und ist überzeugt: So wie damals nicht alles schlecht gewesen sein könne, ist heute nicht alles gut. Die DDR spukt in ihren Kindern, die sie wiedererkennen, wo sie Schatten von ähnlicher Form sehen. "Heute erinnert mich die Subventionierung großer Konzerne an das Versagen eines Gesellschafts- und Wirtschaftsmodells", sagt der Theatertechniker.

Ilko-Sascha Kowalczuk hält das allerdings so wenig für eine zulässige Parallele wie "gut" oder "schlecht" für nützliche Fragen. "Meine Kategorien lauten frei oder unfrei", sagt der Historiker, der zu DDR-Zeiten als Pförtner arbeitete, erst nach der Wende studieren konnte und mit dem Buch "Endspiel" eine minutiöse Beschreibung der letzten DDR-Monate vorgelegt hat. Richtige Fragen geben sich selbst die Antwort: "Wer will bestreiten, dass die DDR ein extrem unfreies Gebilde darstellte?" Als die Mauer fiel, war das für Kowalczuk dennoch kein Moment des Triumphes, sondern einer des Aufatmens. Er hält bis heute an: "Ich bin unendlich froh, dass es die DDR nicht mehr gibt."

Vom System selbst ist nichts mehr übrig als ein paar Worte an verblichenen Wänden. Die letzten Verfechter des vermeintlich besseren Deutschland haben sich in obskure Internetforen zurückgezogen, in denen sie Vor- und Nachteile der Planwirtschaft diskutieren. Hier gilt das Scheitern der DDR als Betriebsunfall. Gut gedacht, falsch gemacht! Die Realität geht, die Sehnsucht bleibt, wenn Freiheit selbstverständlich scheint, konstatiert Kowalczuk. "Viele Menschen träumen von Gleichheitsutopien und glauben, Geschichte könnte einen Endpunkt haben."

Hat sie nicht, da ist Rüdiger Thieme ziemlich sicher. "Alles geht immer weiter", sagt der 44-Jährige, "und der kleine Mann ist der Gekniffene." Längst sei der Anpassungsdruck in seinem Job als Kraftfahrer wieder "mindestens so groß wie früher", nur die Gründe seien andere. "Früher hieß es, wer muckt, kriegt Dresche, heute wer muckt, der fliegt." Der Unterschied: In der DDR habe man ihn wegen seiner großen Klappe auf dem Kieker gehabt, er aber habe wie seine Chefs immer gewusst: "Wenn´s mir zu bunt wird, bin ich weg".

Heute hingegen gebe es kein Land, in das man ausreisen könne.

Den Mann bekommt man aus dem Land heraus, aber nicht das Land aus dem Mann, sang der DDR-Liedermacher Gerhard Gundermann. Christiane Kühr, die aus Merseburg stammt und seit Ende der 90er in Bayern lebt, würde das auch als Frau sofort unterschreiben. "Ich fühle mich im Westen daheim", sagt sie, "aber ein Westler bin ich deshalb nicht." Die Erfahrungen aus 27 DDR-Jahren hat die Mitarbeiterin eines Ingenieurbüros "wie einen Rucksack immer dabei". Kein lästiges Gepäck, wie sie findet: "Ich kenne Muster im Verhalten von Menschen von damals und ich erkenne sie heute wieder."

Das geht auch dem in Eisleben geborenen Musiker Thomas Schoppe so. Erinnere er sich an die DDR, dann an "eine sich selbst in den Ruin stürzende Gesellschaft voller Lügen", sagt der Sänger der einst verbotenen Band Renft. Christiane Kühr wählt weniger drastische Worte, um gefühlte Ähnlichkeiten zu beschreiben: "Die Sprache der Politik in Phrasen erstarrt, der Kalender voller Rituale und im Fernsehen wird heile Welt gespielt." Lebendige Schatten der Gegenwart, die in den Farben der DDR schimmern. Bei den Freunden in Nürnberg freilich komme ihre Diagnose "einfach nicht an". Um zu sehen, was ganz anders so ähnlich funktioniere, müsse man die DDR wohl selbst erlebt haben. "Wer nur darüber gelesen hat, kann nicht mitreden."

Thomas Schoppe nickt. "Die Vielfalt der Meinungen schafft nur ein scheinbar objektives Bild", hat der Autor von Songs wie "Als ich wie ein Vogel war" in seinen drei Jahrzehnten DDR, 14 Jahren BRD und den Jahren im vereinigten Deutschland seitdem bemerkt. "Es gibt heute jede Menge Leute, die sich ein Urteil über die DDR anmaßen", sagt er, "und nur wenige, die den Mut haben, zur Beseitigung gesellschaftlich verordneter Verdummung im Westen aufzurufen."

Umso mehr "nervt es einfach, wenn mir solche Leute erklären wollen, wie mein Leben in der DDR war", sagt Matthias Gärtner. Der Hallenser saß früher für die PDS im Landtag von Sachsen-Anhalt und leistet heute als Mitarbeiter der Linken-Fraktion in Niedersachsen Aufbauhilfe West. Wo Gleichaltrige in Speyer und Siegen an die Barbiepuppen und Playmobil-Figuren ihrer Kindheit denken, fallen ihm "Intershop, FDGB-Heim, die furchtbare chemiegetränkte Luft in Bitterfeld und Brötchen für fünf Pfennig" ein. Mandy Wachtel dagegen denkt an "weniger Arbeitslose und weniger Gewalt" und gelegentliche DDR-Déjà-vus: "Manchmal lässt mich der Duft einer Schokolade innehalten". Auch Lieder versetzten sie zuweilen zurück in die Zeit, als Musik mehr war als eine Tapete aus Tönen. Das geht Thieme und Moelke genauso. "Manches berührt noch, anderes klingen hohl", sagt Rüdiger Thieme. "Das meiste schmeckt auch nicht mehr so wie früher", zuckt Mandy Wachtel die Achseln.

Die DDR liefert den Menschen, die in ihr lebten, bis heute manchmal Grund zum Schenkelklatschen, manchmal auch Gelegenheit, an der Gegenwart zu zweifeln. Es war nicht alles, einiges ist immer noch. Die Vergangenheit trägt nicht mehr Fleischerhemd, sie trinkt nicht mehr Rosenthaler Kadarka und schimpft über das Politbüro. Aber sie steckt in den Menschen und prägt ihren Blick auf die Welt.

"Der Umgangston auf Ämtern oder in Restaurants etwa", sagt Heidi Bohley, die vor der Wende zu den Köpfen der Opposition in Halle gehörte, "ist bis heute relativ häufig DDR". Neulich sei ihr in einer Gaststätte untersagt worden, sich eine Speisekarte selbst zu holen - die werde gebracht, Punkt! Ein eisiges Erziehungsrelikt aus dem volkseigenen Restaurant, in dem der DDR-Mensch fürsorglich platziert wurde, ob er wollte oder nicht. Und eine Frequenz, die denen, die sie schon einmal gehört haben, bekannt vorkommt: Veggie-Day und Rauchverbot, korrektes Sprechen und verbotenes Denken. "Manchmal ist die Wahrheit noch recht abenteuerlich", singt Reinhard "Oschek" Huth von der Leipziger Gruppe Karussell im alten Hit "Ehrlich will ich bleiben", "ruhiger lebt der noch, der sie schön behält für sich."

Es stimmt alles noch. "Oh, ein Leben lang auf der ausgetretenen Bahn, täglich gleicher Trott und Tran", heißt es in einem anderen Karussell-Stück, "oh, ein Leben lang, alles fertig, alles klar, was noch sein wird, alles wahr." Der Osten, er wurde nicht gebraucht, um die Demokratie der alten Bundesrepublik mitzubauen. Alles war fertig, alles war verabredet und klar. Man musste nur noch mitmachen wie damals beim wissenschaftlichen Kommunismus.

Für manchen früheren DDR-Menschen erzeugt das ein Deja vú. Ein Leben wie in einem Wartesaal, über dem "dieses Gefühl der Vergeblichkeit", schwebte, "dass die Zeit still steht und sich nie etwas ändern wird", wie es Heidi Bohley beschreibt. Sie habe früher in der Gewissheit gelebt, "dass die Dummen die Macht haben, die Intelligenten zu zwingen, so zu tun, als ob sie nichts merken vom gesellschaftlichen Stillstand". Vor ihrem Haus in der halleschen Innenstadt aber habe sich damals der Dreck auf den Straßen getürmt. Die Erinnerung mag da golden malen, soviel sie will. Das "Graue, Vergammelte, die Trostlosigkeit der Sprüche und Schaufenster, das war die Wirklichkeit", ist die Bürgerrechtlerin sicher.

Wie sie, die 1984 Berufsverbot erhielt, hat auch Sachsen-Anhalts Ministerpräsident Wolfgang Böhmer den größten Teil seines Lebens in der DDR verbracht. "Das waren 40 Jahre, die mich geprägt haben", sagt der gebürtige Sachse, der von 1974 an in einem Wittenberger Krankenhaus arbeitete. Denkt Böhmer zurück, verurteilt er nicht. Aber auch er erinnert vor allem "die vorsorgliche Reglementierung aller Lebensbereiche, wobei möglichst nichts dem Zufall überlassen bleiben sollte". Dass die DDR für andere dennoch anders gewesen sein könnte, ist Böhmer klar. "Erinnern ist immer subjektiv. Ich würde es keinem Betroffenen abnehmen, der von sich behauptet, in dieser Frage objektiv zu sein."

Darum gehe es aber gar nicht, glaubt Christian Vetter. "Sicher kennen externe Experten mehr Fakten - aber wenn man nie Trabbi gefahren ist oder in der Bananenschlange gestanden hat, ist alles Wissen Theorie." Gut oder schlecht, vergangen oder immer noch da - intellektuell könne die DDR begriffen werden, verstanden aber? Heidi Bohley winkt ab: "Wie soll man jemandem erklären, dass es existentiellen Mut brauchte, sich stumm mit einer Kerze auf den Marktplatz zu stellen."



Freitag, 7. Oktober 2016

Trump: Annäherung an eine Schreckensfigur

Michael D’Antonio schreibt über den Mann, der US-Präsident werden will. Seinem Buch Die Wahrheit über Donald Trump ist allerdings deutlich die Antipathie des Autor anzumerken: Trump wird hier zum miesen, fiesen Unmenschen. Ein Konzept, das dem Erfolg des Buches helfen dürfte.

Er kam als sonderbare Witzfigur, ein komischer, greller Mann mit Helge-Schneider-Gedächtnisschopf, der große Töne spuckte. Doch in Kürze könnte Donald Trump trotzdem Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika sein: Letzte Meinungsumfragen sehen den Kandidaten der Republikanischen Partei fast gleichauf mit Hillary Clinton, seiner demokratischen Konkurrentin. Trump wäre die erste Witzfigur im Weißen Haus, zumindest wenn man den weitgehend übereinstimmenden Berichten in verschiedenen Medien glaubt.

Wie konnte es so weit kommen? Was ist es, das den groben, lauten 70-Jährigen zumindest bei einem Teil der Amerikaner so populär macht, dass er binnen eines Jahres vom krassen und belächelten Außenseiter zum ernsthaften Kandidaten auf das mächtigste Amt der Welt wurde?

Michael D’Antonio, erfahrener Autor historischer Sachbücher etwa zu den Skandalen der katholischen Kirche oder zur US-Atomrüstung, wollte es anfangs gemeinsam mit Donald Trump herausbekommen. Damals, als noch niemand glaubte, dass es Trump so weit bringen könnte.

Der frühere Journalist traf sich mit dem Milliardär, man beschnupperte sich, rieb sich aneinander. Und Trump sagte ihm korrekt voraus: Ehe wir fertig sind, werde ich sie verklagen. So kam es, denn Trump gefiel nicht, was D’Antonio schrieb. Und so kommt es nun, dass D’Antonios Buch - im Original „Nie genug“ überschrieben - in der deutschen Übersetzung nun „Die ganze Wahrheit über Donald Trump“ heißen kann.

Es ist ein Fleißwerk, das der Amerikaner, der auf Long Island lebt, da geschrieben hat. Detailverliebt bohrt er sich in die Trumpsche Familiengeschichte, er beleuchtet die Geschäfte von Opa und Vater und zeigt, wie und wo Junior Donald seine Grundeinstellungen erworben hat, die Kritiker mal „menschenfeindlich“, mal „erzkonservativ“ oder der Einfachheit halber gleich „irre“ und „wahnsinnig“ nennen. Welche Absichten und Ansichten das genau sind, bleibt meist verborgen. Ein paar Stichworte, knappe Zitate, fertig ist der Alptraumkandidat.

Was steckt aber nun tatsächlich hinter dem überraschenden Erfolg des zweifellos egozentrischen Milliardärs? D'Antonio zufolge sind es Wettbewerb und Ehrgeiz, die Trump antreiben. Der Mann will gewinnen, immer und überall und er sagt das laut. Eine Strategie, die im traditionell erfolgsneidischen Deutschland eher auf Ablehnung, in den mit Tellerwäscher-Stories großgewordenen USA aber für Achtung sorgt.

Trump ist ein Sonderfall. Der Sohn eines Baulöwen gilt dem Biografen als „extremes Beispiel für Obsession, Aggression und Unsicherheit“. Die überspiele er durch Schamlosigkeit, sei im Gespräch aber auch „schlagfertig, charmant und witzig“. Dass der „begnadete Provokateur“ mit seiner Kandidatur erfolgreich sein würde, verdanke sich weniger der Persönlichkeit Trumps als vielmehr seinem Gespür dafür, dass es gelingen könne, „Sorgen und Zorn verunsicherter Menschen auszunutzen, denen ein politisches System suspekt war, das von Menschen dominiert wurde, die den Parteien riesige Wahlkampfspenden zukommen ließen“.

Donald Trump gehört zweifellos selbst zu diesen System. Doch das auch von seinen Gegnern gepflegte Bild des Milliardärs mit der Moppfrisur als rücksichtslosem Querschläger hilft ihm bei der Selbstinszenierung als Rebell gegen das Establishment.

In Wirklichkeit, glaubt Michael D’Antonio, sei Trump nur eines: ein Narzisst, der es liebt, sich selbst im Spiegel der Öffentlichkeit zu bewundern. Ein Urteil, das einer Verurteilung nahekommt.

Mittwoch, 5. Oktober 2016

Steven Wilson: In seiner eigenen Zeit

Als Steven Wilson anfing, ernsthaft Musik zu hören, näherte sich das Zeitalter der Megabands gerade dem Ende. Genesis und Pink Floyd wurden vom Punk weggefegt, junge Bands ätzten alle Verzierungen aus der Rockmusik. Das änderte aber nichts an Wilsons Überzeugung, dass die später progressive Rock genannte Mischung aus Art-Rock, Metal und Klassik weiter Berechtigung haben wird.

Wilson gründete erst die anfangs nur aus ihm selbst bestehende Band Porcupine Tree, um seine Mission umzusetzen. Richtig erfolgreich im breiten Markt aber ist der stets barfüßig auftretende 46-Jährige, seit er unter eigenem Namen Musik macht. Vor allem das Monumentalwerk "The Raven That Refused to Sing" katapultierte den Soundbastler, Gitarristen, Sänger und Komponisten aus einer Nische der Populärmusik in die Charts.

Der Nachfolger des ehrgeizigen "Raven"-Albums, das sich bemüht hatte, keinerlei musikalische Grenzen mehr anzuerkennen, wurde inspiriert von der wahren Geschichte einer jungen Frau aus London, die drei Jahre lang tot in ihrer Londoner Wohnung gelegen hatte, ehe sie vermisst wurde. Wilson macht daraus ein Stück dramatisches Musiktheater um Vereinsamung und Anonymität. Acht Stücke, eingespielt mit allem, worauf sich Töne erzeugen lassen und teilweise überlang, entwickeln eine bedrohliche, klaustrophobische Atmosphäre. Manchmal klingt das nach den frühen Marillion, manchmal nach Dream Theater oder King Crimson.

Für Musik, die ganz kompromissloser Ausdruck der künstlerischen Vision eines Mannes ist, keine schlechte Bilanz.

Mit dem jetzt gerade veröffentlichten Album "Transience" geht Wilson noch einen Schritt weiter. Die Sammlung aus älteren Aufnahmen und Coverversionen, die der Multiinstrumentalist ursprünglich für eine Serie von Singles eingespielt hatte, ist kompakter und gefälliger als die Eigenkompositionen des vielbeschäftigten Produzenten und Labelchefs. Hier gibt es mehr akustisch orientierte Musik, darunter eine Interpretation von Porcupine Trees "Lazarus" und von Alanis Morisettes Superhit "Thank you", den Steven Wilson auf die reine Essenz eindampft.

Der produktionstechnische Größenwahn, der das Schaffen des Spezialisten für audiophile 5.1-Mixe sonst prägt, fehlt völlig. "Transience" schwebt zwischen Rock wie in "Harmony Korine" und klaviergestütztem Pop wie in "Insurgentes". Ein Album, das als Tor ins Universum eines der großen Musikgenies der Gegenwart funktionieren könnte.

Musik, die in sich selbst ruht, abseits aller digitalen Hektik, aller sozialen Netzwerk-Trends. Nicht aus der Zeit gefallen, sondern der Zeit so weit hinterher, dass sie ihr schon wieder weit voraus ist.

Montag, 3. Oktober 2016

Deutsche Einheit: Vergangenheit im Fleischerhemd


Einmal haben wir über die kleinen Atomkraftwerke gesprochen. Diese unendlich hässlichen Dinger, die in jeder Kneipe auf jedem Tisch standen, damals, als wir noch Kinder waren. Links Salz, rechts Pfeffer. Und in der Mitte unter einer bunten Plastekuppel etwas grün-grau Vertrocknetes, das einmal Senf gewesen war.

Komischerweise erinnerten wir uns alle an das drollige Löffelchen, das unter der Haube im hartgetrockneten Mostrich stak. "Das war der Spatel", sagte einer, und wir wussten noch, dass stets mindestens eine Zigarettenkippe genau da steckte, wo beim echten Atommeiler die Brennstäbe sind.

Wir haben daraufhin fast so laut gebrüllt vor Lachen wie dieses andere Mal, als wir uns über die Turnschuhe unserer Kindheit unterhalten haben, die "Botas" hießen und "Germina", in einem Laden verkauft wurden, der sich "Schnees" nannte, und die mit den Turnschuhen von heute soviel Ähnlichkeit hatten wie unsere farbechten Boxer-Hosen mit richtigen Jeans.

Zugegeben, es war Sonntagabend, wir saßen beim Bier und lachten vielleicht nicht nur, weil es komisch war, über Sachen zu reden, die längst vergessen gehört hätten. Aber gelacht haben wir. Gelacht über Einkaufsnetze von unglaublicher Dehnbarkeit. Über blau-weiß gestreifte Baumwollblusen, die aus Buna stammten, aus unerfindlichen Gründen jedoch "Fleischerhemden" genannt wurden. Gelacht auch über Handbewegungen wie die, mit der wir Bierflaschen aus dem Kasten nahmen, sie herumdrehten und schräg gegen das Licht hielten, um nach dem Anteil an Schwebteilchen die Wahrscheinlichkeit dauernder Gesundheitsschäden nach dem Genuss abzuschätzen. Oder den routinierten Griff, der den Plastik-Milchbeutel an einem Zipfel aus der Kiste hob und gemessen abtropfen ließ, um zu sehen, wie viele Lecks er wohl heute wieder habe.

Genauso gelacht haben wir früher, als wir uns in einer anderen Kaschemme treffen mussten, weil es die Kellnerschaft dort nicht so genau nahm mit dem Jugendschutz. Der Spaß damals war: Die Kneipe lag direkt gegenüber dem Hauptquartier der Staatssicherheit, und nicht nur der Brotfahrer, der für die MfS-Küche unterwegs war, trank am Nebentisch sein Feierabendbier, während wir uns amüsierten, wie seltsam das Land war, in das es uns verschlagen hatte.

So ist das gewesen in der Neubausiedlung, in der wir groß geworden sind. Es war grau und es war grässlich und wir hatten jede Menge Spaß. Es gab das Jahr, in dem alle AC/DC hörten. Dann kam der recht bizarre NVA-Jacken-Boom. Und schließlich begann die Zeit, in der jeder Gitarre spielen lernte und im Sommer nach Ungarn fuhr, um in Indien gepresste Platten von Queen und Levis-Jeans zu kaufen.

Eine Jugend in Deutschland, auch wenn die Gegend für den Moment anders hieß.  Einmal haben wir in einem seltsamen Anflug von Humor "Proletarier aller Länder, reinigt Euch!" riesengroß an eine Wand gesprüht, ein andermal den Durchgang an der Schule, in dem wir in der Pause unsere kratzigen "Karo" rauchten, mit flattrigen Fettstiftzeichnungen des Sängers Sting verziert. Es war eine Jugend in einem Land, das man Leuten, die nicht dort gelebt haben, nicht erklären kann.

Wir sind nie erwischt worden. Wir sind die glückliche Generation. Wir haben auch nicht wirklich in der DDR gelebt wie unsere Eltern. Wir hielten uns dort auf, ja, schon, natürlich. Allerdings waren wir in Gedanken bei der Hessenhitparade mit Werner Reinke, Udo Lindenberg war unser Held, Freddie Mercury eine Lichtgestalt und alle unsere Träume handelten von Mädchen und Musik, nicht von Mangelwirtschaft.

Daheim waren wir nicht in den Wohnblöcken, sondern auf den Bänken dahinter. Wir hätten immer noch weggehen können, wenn es eines Tages wirklich zu blöd geworden wäre.

Nicht einmal das mussten wir. Der Fettstift-Sting war noch nicht ganz verblasst, da war die DDR verschwunden. Einer ist dann nach Frankreich gezogen, eine nach England, eine nach Argentinien, ein anderer nach Bangkok. Ein paar wohnen heute im Westen, ein paar in Berlin und einer will in die Türkei auswandern.

Je größer die Welt wird, desto kleiner ist das Stückchen, das wir Zuhause nennen können. Durch Halle-Neustadt fahren wir mittlerweile selten, außer einem von damals wohnt dort auch keiner mehr. Ein paar von den anderen sieht man manchmal in der Kneipe oder bei Partys.

Die übrigen kommen hin und wieder zu Besuch in der Vergangenheit.

Freitag, 30. September 2016

Robert Carl Blank: Tanzen auf dem Dach


Pop. Robert Carl Blank selbst sagt das Wort, wenn er über sein neues Album "Fairground Distractions" spricht. Es ist das vierte des Mannes mit den bunten Hippie-Jeans und dem Faible fürs Fallschirmspringen. Und nachdem erst im Vorjahr das dritte Werk "Room for Giants" erschienen war, ist die Scheibe ein überraschend schneller Nachfolger.

Denn so funktioniert die Karriere des 40-jährigen Gitarristen und Sängers mit tschechischen Wurzeln bisher nicht. Blank, erst spät berufen, spielte zwar schon mit seiner ersten Band im Vorprogramm von Elton John, Whitney Houston und Eros Ramazotti. Doch es gefiel ihm nicht, und so warf er alles hin und fing von vorne an.

Blank hat sich als Straßenmusiker neu erfunden. Nur mit seiner Gitarre um den Hals zog er um die Welt, Monat für Monat, Land für Land. Für Studioaufnahmen blieb da nur selten Zeit und manchmal war auch nicht genug Geld für die Studiomiete da. Zwei Alben schaffte er so. In sieben Jahren. Und nun sind es zwei in zwei Jahren.

Aus dem großgewachsenen Mann mit der schnellen Zunge, der auf der Bühne Songs zur akustischen Gitarre singt und unterhaltsame Geschichten vom Herumreisen in der Welt erzählt, ist auf "Fairground Distractions" ein Entertainer in Magical-Mystery-Tour-Jacke geworden, der das ganz große Pop-Gefühl beschwört: runde Melodien, emotionale Refrains, Kopfstimme, Banjo. Noch nie zuvor war ein Blank-Album so prall produziert, mit so einem satten Sound.

"Ich hatte nie einen Zweifel an der Richtung, in die es geht", sagt Robert Carl Blank selbst. 15 Musiker haben mit ihm, der sonst ein Einzelkämpfer ist, an den zwölf neuen Songs gearbeitet - und genauso klingen die Jahrmarkt-Ablenkungen auch.

Es geht nicht mehr wie zuletzt um das oft einsame Gewerbe des reisenden Sängers zwischen Himmel und Erde, der sich mit langen Wegen, Buckelstraßen, zu wenigen Zuschauern und zu vielen kleinen, kalten Hotelzimmern herumschlagen muss, die die Seele nicht wärmen können. "Fairground Distractions" geht es größer an: Blank singt vom Leben, vom Lieben und Leiden. "Fairground Distractions" ist eine "Symphony in your head" (Liedtitel) mit Bläsern und Geigen und Celli, die nicht jammert oder verzagt, sondern das Dasein in allen Facetten feiert.

Manches verblasst hier wie in "The Photographer", anderes schmerzt wie in "The Price", manches geht zurück bis in die 50er wie "Many ways in" und manchmal meint man, jeden Moment müsse Paul McCartney hereinkommen, um zu fragen, ob er sich das Lied für ein neues Beatles-Album leihen könne ("Your Life"). Wird nicht passieren. Robert Carl Blank hat sich vor Jahren, als er in Australien Gitarre spielen lernte, für ein Leben als fahrender Sänger entschieden. Als der ist er auch weiter unterwegs. Nun allerdings mit einem Album im Gepäck, das auch in die Hitparade passen würde.

Direkt zum Künstler:
www.robertcarlblank.de

Sonntag, 11. September 2016

9/11, 15 Jahre danach: Die Mutter aller Lügen


Verräter. Verbrecher. Verschwörer. Falsche Bärte und gefälschte Fährten, kalte Spuren und heiße Eisen. Nein, auch nach 15 Jahren ist noch nicht alles über den 11. September 2001 erzählt, noch nicht jede Möglichkeit ausgelotet. Das hat William Cooper gerade erst bewiesen: Mit dem mühsam zusammengekehrten Video "10 erschütternde Fakten zu 9/11" holte er sechs Millionen Klicks bei Youtube. Zuschauer waren die, die auch nach anderthalb Jahrzehnten noch an den unzähligen Rätseln rund um den Angriff auf Amerika knabbern. Was heißt auch. Erst recht.

Natürlich, denn Khalezov bezichtigt nicht nur die US-Regierung der Lüge über die Anschläge. Das tun sie alle, die Wahrheitssucher und Verschwörungstheoretiker, die Aufdecker und Aufklärer. Auch der in Palästina geborene Isländer Elias Davidsson, im Hauptberuf Komponist, weiß genau, wie es nicht war: So, wie es offiziell behauptet wird.


Atombombe im Fundament


Das World Trade Center wurde am 11. September 2001 gar nicht von Flugzeugen getroffen! Es gab keine Flugzeuge. Es gab keinen Mohammed Atta, jedenfalls keinen, der ein Attentäter war. Wie alle anderen Männer, der der Mittäterschaft an den Anschlägen beschuldigt werden, ist Atta für Davidsson ein "unschuldiger Muslim". Für alles andere gebe es keine Beweise.


Immerhin, wieder etwas richtig Originelles im seit zehn Jahren währenden Streit um den wahren 11. September. Seit dem Tattag ist schon so ziemlich alles enthüllt worden: Es gab keine Flugzeuge, nur eine kontrollierte Sprengung. Es gab keine Attentäter, sondern einen "Inside Job" von US-Regierungskreisen. Ins Pentagon schlug kein Flieger ein, sondern eine Rakete. Dafür wurde die von Passagieren zurückeroberte vierte Maschine von einem Jäger abgeschossen.



Die "Mutter aller Lügen" nennen bekennende Ungläubige die Ereignisversion der US-Regierung, in der Al-Qaida-Terroristen, begünstigt durch allerlei Schlampereien, vier Flugzeuge entführen und zu Waffen umfunktionieren konnten.


Denn das wäre viel zu einfach. Und keine Erklärung für die Unmenge an Ungereimtheiten, die ein Blick auf den Bericht zutage fördert, den der US-Kongress 441 Tage nach den Anschlägen vorlegte. Wie etwa konnte es den Terroristen gelingen, trotz Einreiseverbotes in den USA Flugunterricht zu nehmen? Wie schafften es Terrorpiloten, denen Fluglehrer jede Befähigung zum Steuern einer Kleinmaschine absprachen, große Jets zielgenau in die WTC-Türme zu steuern? Wieso wurden die Stahlträger der Türme vom brennenden Kerosin geschmolzen, obwohl doch der Schmelzpunkt von Stahl weit über der Verbrennungstemperatur von Flugzeug-Treibstoff liegt?

Anzeichen für Sprengungen

Weshalb schließlich sahen Augenzeugen vor dem Einsturz Anzeichen für Sprengungen? Warum stürzte das Hochhaus WTC 7 ein, obwohl es kaum von Trümmern getroffen worden war? Wie konnte eine Boeing von 38 Metern Breite nach dem Angriff auf das Pentagon in einem nur fünf Meter breiten Loch verschwinden? Und wie schafften es Passagiere in den entführten Flugzeugen, mit ihren Handys zu telefonieren? Wo doch später Versuche ergaben, dass es unmöglich ist, eine Verbindung zu bekommen?

Abweichende Antworten haben Dauerkonjunktur, vor allem im Internet. In zahllosen Foren diskutieren selbsternannte "Truther" seit anderthalb Jahrzehnten ruhelos angebliche und wirkliche Widersprüche. Wahrheitsfilme wie "Zeitgeist" oder "Loose Change" erreichen ein Millionenpublikum. Vortragsreisende von Elias Davidsson knibbeln lose Ende zusammen und drehen der offiziellen Version einen Strick. Zuletzt speiste sich das Phänomen der Tea-Party in den USA aus dem Lager der "9/11 Truther", in dem sich die versammeln, die die amtliche Geschichte vom Angriff der Attentäter aus den Bergen von Afghanistan nicht glauben wollen.

Der Zweifel ist nicht nur im Zielland der Anschläge eine Industrie geworden, die sich von den zahllosen ungeklärten Widersprüchen der offiziellen 911-Geschichte ernährt. Vielmehr markiert das Zweifeln nach dem 11. September den Beginn einer Ära, in der immer mehr Menschen an immer mehr Dingen zweifeln.

Früher Fall für Gespensterjäger

Früher waren Verschwörungstheorien ein Fall für Gespensterjäger. Die Mondlandung gefälscht, der Ufo-Unfall von Roswell. Oder die Ermordung John F. Kennedys , der natürlich nicht von einem einzelnen Schützen erschossen, sondern im Auftrag von CIA, dem Vizepräsidenten und der Militärindustrie hingerichtet wurde. Ebenso übrigens wie Prinzessin Diana , von der man leider bis heute nicht weiß, wie sie die Pläne der geheimen Weltregierung störte. Aber tot ist sie, was nach der Überzeugung von Verschwörungstheoretikern ganz klar beweist, dass sie jemanden im Wege gewesen sein muss. warum sonst sollte sie tot sein?

Wer Spaß an Fantasiespielen hatte, spann die Geschichten vom "Unternehmen Capricorn" weiter. Manche verglichen Fotos. Anderen lachten über die "Mothman-Prophezeiungen".  „Nur weil du paranoid bist, heißt das nicht, dass sie nicht hinter dir her", hat der US-Schriftstelle Joseph Heller schon vor vielen Jahren festgestellt. Und so war es ja auch.

Wie im Film „Fletschers Visionen", in dem Mel Gibson als New Yorker Taxifahrer Jerry Fletcher die von Julia Roberts gespielte Staatsanwältin Alice Sutton so lange mit verqueren Verschwörungstheorien behelligt, bis sich herausstellt, dass es tatsächlich eine ganz hoch angebundene Verschwörung gegen den US-Präsidenten gibt, zeigt sich in der wahnhaften Furcht vor Beobachtung und Überwachung ein notwendiger Überlebensreflex. Es ist ja so, und es ist eigentlich noch viel schlimmer.

Seit Snowden ist das bekannt. Das Ausmaß der Überwachung des öffentlichen Lebens durch westliche Geheimdienste ist größer als es sich Verschwörungstheretiker je hatten erträumen lassen. Seit  der NSU ist klar, dass Geheimdienste und Nazi-Terroristen einander immer zuarbeiteten. Die Unverletzlichkeit der Wohnung und die Behauptung, es gebe ein vom Gesetzgeber geschütztes Fernmeldegeheimnis, sind dahin.

Und mit ihnen auch das Vertrauen weiter Teile der Bevölkerung in die eigene Urteilskraft.

Die Spinner haben Recht

Die Spinner hatten Recht! Die Wahnsinnigen wussten mehr über das wahre Leben als Klugen, entspannt zurückgelehnt lebenden Internetauskenner! Ein Schock, dessen Nachwirkungen inzwischen überall zu beobachten sind.

Nicht nur bei den 9/11-Forschern, sondern auch bei den Reichsbürgern, nach deren Ansicht die Bundesrepublik nicht existiert, wenn man sich selbst zum Staat ausruft.

Die Gewissheiten sind mit demselben Tempo verschwunden, mit dem der Staat selbst Hand an seine Rechtsgrundlagen legte. Die EU-Verträge waren irgendwann nur noch Papier, in den EZB-Rechtsvorschriften fand sich eine monetarisierbare Lücke. Die Grenzen gingen auf, das vertrauen ging runter.

Inzwischen halten Teile der Bevölkerung nicht mehr nur Roswell, Hitlers Flucht nach Argentinien und die Existenz von Reptiloiden für durchaus möglich. Sondern auch, dass Angela Merkel  bei der Stasi war und bis heute in Erich Honeckers Auftrag handelt.

Denn wenn es möglich ist, dass, wie die Bundesregierung tapfer schwört,  niemand davon gewusst hat, dass die CIA die Kanzlerin abhört, dann gibt es eigentlich nichts mehr, was mit einiger Fantasie nicht auch noch vorstellbar wäre. In einem Hangar auf der amerikanischen Air Force Base Wright- Patterson lebt ein Außerirdischer? Jemand hat einen Vergasermotor entwickelt, der nur acht Liter Benzin auf 500 Kilometer verbraucht, die Autokonzerne aber haben das Patent aufgekauft und halten es unter Verschluss? Microsoft-Chef Bill Gates ist in Wirklichkeit der Teufel persönlich, denn korrekt heißt er William Henry Gates III. Wenn man die Buchstaben seines Namens in Codes der Computersprache ASCII umwandelt, ergibt das 666, die Ziffer des Gottseibeiuns. Vielleicht gibt es sogar ein Abhörsystem namens Echelon, mit dem die CIA jedes Telefongespräch, jede E-Mail und jedes Fax weltweit abfangen und mitlesen kann?

Echelon - vom Gerücht zur Tatsache in 30 Jahrem

Gibt es. Wirklich. Echelon etwa war drei Jahrzehnte lang ein unbestätigtes Gerücht. Jeder konnte die riesigen Abhöranlagen in Bad Aibling oder dem malloiquinischen Puig Major de Son Torrella sehen. Aber selbst europäische Spitzenpolitiker beteuerten, worum es sich handele, sei nicht ganz klar. Erst 2001 gelang es einer offziellen Untersuchungskommission des europäischen Parlaments, die bereits 1976 durch den NSA-Mitarbeiter Winslow Peck öffentlich gemachte Existenz des Systems sicher zu bestätigen. 2015 besuchte die Bundesdatenschutzbeauftragten Andrea Voßhoff den Stützpunkt. Sie fand massive Rechtsverstöße, "die herausragende Bedeutung haben und Kernbereiche der Aufgabenerfüllung des BND betreffen". Zwölf offizielle Beanstandungen ausgesprochen. Weiter geschah nichts.

Das Volk protestierte nicht. Es nahm vielleicht nicht einmal zur Kenntnis. Es erwartete wohl auch gar nichts anderes.

Vertrauen lässt sich nur einmal verlieren, dann ist es für immer weg.

Freitag, 2. September 2016

Luther in schlechtem Licht: Wer nichts hat, nimmt eben das


Jahrelang war es das brutalstmögliche Frühaufstehen, mit dem Sachsen-Anhalt weltweit für Aufsehen sorgen wollte. Hunderttausende Euro wurden verbraten, um mit Schildern an Autobahnen deutlich zu machen, dass hier früher aufgestanden wird als anderswo. Ganze Plakatserien sollte es anfangs geben, daraus wurde - die Ansprüche sind bescheiden - dann zwar nur aller paar Jahre mal ein neues Motiv. Aber sechs Millionen kostete der Spaß. Ein paar davon will die EU inzwischen zurück.

Doch zumindest durch den leichten Hang ins Absurde wurde der Claim "Wir stehen früher auf" am Ende doch zumindest ein wenig berühmt.

Zeit für einen Neuanfang, befand die Landesregierung. Und griff tief in die Kiste mit der Landesgeschichte. „Sachsen-Anhalt Ursprungsland der Reformation“ ist nun anstelle von „Willkommen im Land der Frühaufsteher“ auf den Schildern zu lesen, die künftig entlang der Landesgrenze an den Autobahnen stehen sollen. Zwei zusammengesetzte Substantive. Ein Artikel. Ein Fremdwort. Und ein halber Rechtschreibfehler. Sachsen-Anhalt in einem grammatikalisch unvollständigen Satz auf den Punkt gebracht.

„Wir wollen ab jetzt situativ auf bestimmte Ereignisse im Land hinweisen", begründet ein Regierungssprecher die Wahl des Slogans, der noch eine Ecke kantiger ist als der frühere.

"Bestimmte Ereignisse im Land". Die sich vor 500 Jahren abgespielt haben.

Wer nichts hat, nimmt eben das.

Irgendwie passt dann auch der Rest. Der Ministerpräsident baute sich bei der Vorstellung der Kampagne, die keine sein soll, jedenfalls "keine vollständige", wie es offiziell heißt, so unglücklich auf, dass er den Agenturfotografen den freien Blick auf die einzige Botschaft der Plakate verbaut. "luther-erleben.de" steht genau da, wo man es hinter der Gestalt mit den hängenden Anzugschultern und den schmalen Zitronenlippen nicht lesen kann.

Für ein Hinweisbanner auf die Kampagne beim Landesportal haben sich die Initiatoren für eine abweichende Schriftart in anderer Farbe entschieden. Nein, hier gibt es kein einheitliches Design! Vielleicht, um zu unterstreichen, dass es gar keine richtige Kampagne ist. Deshalb unterblieb wohl auch eine Verlinkung von sachsen-anhalt.de zu luther-erleben.de. Suchmaschinen danken das, das wissen sie in Magdeburg. Und beachten es: Wenn man auf der Startseite des Landesportals sachsen-anhalt.de links oben auf das Sachsen-Anhalt-Logo klickt, kommt man direkt - richtig, auf die Startseite von sachsen-anhalt.de, auf der man sich gerade befindet.

Zum Ausgleich aber hat der Präsentator das Plakat bei der Öffentlichkeitspremiere so günstig ins Licht gestellt, dass dunkle Schatten sich von der Seite ins Bild schieben.

Von rechts dunkler Schlagschatten. Hinten ein Parkverbotsschild. Vorn institutionalisierte Bewegungslosigkeit.

Sachsen-Anhalt in einem Foto.

Fest steht schon jetzt: Wen diese Werbung nicht an Saale oder Elbe lockt, der ist zu schnell gefahren.

Mittwoch, 24. August 2016

Ausbau der Überwachung: Die Codeknacker vom Amt


Whatsapp und Google bieten ihren Nutzern inzwischen Verschlüsselung serienmäßig. Die Bundesregierung reagiert darauf: Eine neue Behörde soll die Sicherheitsalgorithmen entschlüsseln.

Google machte den Anfang, aber der war bescheiden. Als der Suchriese, nebenher auch einer der größten E-Mail-Anbieter weltweit, im Dezember 2013 ankündigte, den Kommunikationsverkehr seiner Kunden künftig standardmäßig zu verschlüsseln, war das mehr Versprechen als Realität. Weil Verschlüsselung nur funktioniert, wenn Sender und Empfänger mitmachen, war letztlich nur rund ein Drittel der Mails keine elektronische Postkarte, in die jeder hineinschauen konnte.

Doch das hat sich geändert. Weil immer mehr E-Mail-Dienste und Messenger auf Verschlüsselung setzen, sind heute im Durchschnitt mehr als 85 Prozent aller E-Mails chiffriert, die Googles G-Mail-Dienst sendet und empfängt. Der Benutzer selbst merkt das nicht, denn bei ihm kommt immer Klartext an, weil nur die Übermittlung verschlüsselt wird.

Doch ein Problem damit haben Ermittlungsbehörden: Greifen sie irgendwo zwischen Sender und Empfänger in einen Mailwechsel ein, können sie zwar die Daten abgreifen. Nur lesbar zusammensetzten können sie sie nicht, weil ihnen der Schlüssel zum Schloss fehlt. Auch bei Whats-app oder der aus Sachsen-Anhalt stammenden Messenger-App Chiffry hat jede Nachricht ihr eigenes Schloss mit einem eigenen Schlüssel, so dass nicht einmal die Anbieter die über ihre Server laufenden Inhalte in Klartext verwandeln können. In den USA verurteilte ein Gericht Apple dazu, chiffrierte Kundendaten - in diesem Fall ein Passwort - an einen Geheimdienst herauszugeben. Dabei hat sich herausgestellt, dass der Konzern dazu gar nicht in der Lage war.

Gut für die Nutzer, schlecht für Ermittler und Geheimdienste. Die Bundesregierung plant deshalb nach einem Bericht des sogenannten Rechercheverbundes von Süddeutsche Zeitung, NDR und WDR die Einrichtung einer neuen Code-Knacker-Behörde. In dieser„Zentralen Stelle für Informationstechnik im Sicherheitsbereich“ - abgekürzt Zitis - sollen 400 Mitarbeiter Techniken für die Überwachung des Internets und von Messenger-Diensten entwickeln. Ihre Aufgabe sei es, damit Strafverfolgern und Staatsschützern zu helfen, künftig auch verschlüsselte Botschaften im Netz mitlesen zu können. Entsprechende Pläne sollen zwei Staatssekretäre aus dem Bundesinnenministerium und das Kanzleramt Abgeordneten der Regierungsparteien bereits vor Beginn der Terrorwelle vorgestellt haben, die Deutschland zuletzt erschütterte.

Zumindest beim Selbstmordanschlag von Ansbach spielten verschlüsselte Whatsapp-Chats offenbar eine Rolle, so dass die Pläne zum Start von Zitis im kommenden Jahr nun noch mehr regierungsamtlichen Schub bekommen. Der Bundesinnenminister schließt sich Frankreichs Kampagne gegen verschlüsselte Kommunikation an, bei der die Tatsache allein, dass Menschen unbeobachtet vom Staat kommunizieren, zum Verdachtsmoment erklärt wird. De Maiziere möchte nun für sich "rechtsstaatlich eng begrenzte Möglichkeiten geben, verschlüsselte Kommunikation zu entschlüsseln", wobei die enge Begrenzung wie immer nicht lange halten wird.

Gesucht werden für die künftige Bundescodeknackerbehörde derzeitvor allem IT-Spezialisten. Bis zum Jahr 2022 soll das neue Alt bereits 400 Mitarbeiter beschäftigen. Für das kommende Jahr sei ein Budget im niedrigen zweistelligen Millionenbereich geplant.

Der ehemalige Bundesbeauftragte für den Datenschutz, Peter Schaar, hat den Aufbau von Zitis inzwischen harsch kritisiert. Die Strafprozessordnung liefere keine Rechtsgrundlage für den Einsatz von Staatstrojanern. Thomas de Maizière hatte im Stil einer großen Semantikers auf diesen Umstand reagiert: "Die Behörden müssen technisch können, was ihnen rechtlich erlaubt ist", hatte er in Umkehrung seiner Absichten verlautbart, als liege es am technischen Unvermögen, dass der Staat nicht bei allen seiner Bürgern mitlesen darf. Nicht an grundgesetzlichen Regelungen.

Montag, 22. August 2016

Bioo Lite: Handy-Strom aus dem Blumentopf

Eine ganz normale Grünpflanze lädt das Smartphone auf? Beim Bioo Lite geht das:
Grün ist der Grundgedanke, grün auch die Umsetzung. Das spanische Unternehmen Arkyne Technologies hat wirklich einen Blumentopf entwickelt, der Handys auflädt.

Was im ersten Moment etwas seltsam klingt, ist weder Spinnerei noch Schwindel: Der Bioo Lite-Topf verfügt unter dem Platz, den Erde und Blattpflanze benötigen, über eine zweite Etage, in der in einem Substrat Bakterien leben, die mit Wasser reagieren, wenn die Pflanze beginnt, Kohlendioxid in Sauerstoff umzuwandeln und der in den Boden gelangt, wo ihn das Wasser aufnimmt.

In einem Video erklärt Arkyne genau, wie der grüne Strom in der ebenfalls in der Tiefe des Topfes verborgenen Batterie landet. Ehe er von dort aus über ein einfaches USB-Kabel zu einem - hübsch in einem Steinchen versteckten - USB-Anschluss gelangt, an den man Handy oder Tablet zum Aufladen hängen kann.

Von da an funktioniert alles wie an jeder anderen Steckdose: Laut den Erfindern kann eine Pflanze genug Energie liefern, um ein Smartphone bis zu dreimal pro Tag aufzuladen. Dabei wird sowohl nachts als auch tagsüber Strom produziert. Es wird von rund 3,5 Volt und 500 Milliampere gesprochen, abhängig sei das davon, welche Art Pflanze im Topf steckt. Um die nachzuladen, braucht Bioo Lite nichts Besonderes: Regelmäßiges Gießen reicht völlig aus.

Mehr zum Elektrotopf:
www.bioo.tech

Samstag, 20. August 2016

Das letzte Konzert des Rio Reiser: Ein König dankt ab

Rio Reiser im Jahr 1990 in der Schorre in Halle. Damals waren die Hallen noch ausverkauft.

Er weiß es an diesem Tag im Mai 1996 noch nicht, aber der Mann, der sich Rio Reiser nennt, wird heute sein letztes richtiges Konzert spielen. Einmal noch all die Lieder, wobei er seine größten Hits weglässt. Einmal noch alles geben, auch wenn die Halle längst nicht mehr ausverkauft ist. Ein paar Tage später wird er ein Konzert nicht mehr zu Ende spielen können. Alle anderen sagt er ab. Drei Monate später wird Reiser tot sein. Aber das Konzert war gut, und zwar so gut:


Erstmal zieht er immer die Schuhe aus. Kann kommen, was will – Rio Reiser setzt sich, schlüpft aus den Slippern und zerrt die blauen Frotteesocken von den Füßen. Ein Ritual. Ralf Möbius, wie Rio eigentlich heißt, tritt barfuß auf, egal, ob Mitte der 70er im Hinterhof eines besetzten Hauses, Mitte der 80er in der ausverkauften Seelenbinderhalle in Berlin oder Mitte der 90er in der kaum halb gefüllten Schorre in Halle. Danach geht er zum Mikro und singt: "Alles was ich sagen kann / ist schon längst gesagt".

Sechs lange Jahre hat Rio nicht mehr auf der Bühne gestanden. "Irgendwie keine Lust" habe er gehabt, und außerdem jede Menge anderes zu tun. Rio Reiser, der als Sänger der Anarcho-Polit-Combo Ton Steine Scherben ein Kapitel deutscher Rockgeschichte schrieb, komponierte die Musik zu einem Theaterstück, er spielte die Hauptrolle in einem "Tatort", machte ein Musical, verfaßte ein Buch und produzierte daheim auf seinem Bauernhof im verträumten Fresenhagen Platten von Freunden wie Lutz Kerschowski, der ihn jetzt als Gitarrist begleitet. Die Welt draußen hat ihn darüber ein bißchen vergessen, den einstigen "König von Deutschland". Vorbei die Zeiten, als ihn tausende Fans für Hits wie "Blinder Passagier" feierten, als ihn die versammelte deutsche Rockprominenz zum besten Texter kürte und Alt-68er, Popfans und Punks ihn gleichermaßen liebten. Heute ziehen die Jungen zu Green Day oder den Boyzone, die Mittleren treffen sich bei den Toten Hosen und die 68er pilgern zu Pur.

Reiser allerdings stört das nicht im mindesten. Die geschwollenen Augenlider fest zugekniffen, die Hände um die Gitarre geklammert, steht er da und singt. Für sein Comeback hat sich der 46jährige immerhin etwas ganz besonderes ausgedacht. Im Vorprogramm bietet er Deutschlands einzigen Minnesänger Nikolai von Treskow auf, im Abspann läßt er die Berliner Klamauk-Kapelle Knorkator lärmen.

Nichts paßt zusammen, und das ist beabsichtigt. Rio Reiser, immer für Überraschungen gut, tut weiterhin alles, Erwartungen nicht zu befriedigen. Jahrelang riefen sie in Konzerten nach alten Scherben-Stücken wie "Macht kaputt was Euch kaputt macht", aber Rio war das bald "zu blöd". Heute schreien sie nach seinen eigenen Hits -und er spielt sie nicht. Kein "König von Deutschland", kein "Alles Lüge", kein "Geld". Einer wie Reiser macht es sich selber schwer, bleibt so weitgehend unfaßbar für die Pop-Industrie und also integer immerdar.

Reiser hat gekokst und gespritzt, er qualmt wie ein Schlot und stürzt Alkoholika hinunter, als gäbe es kein Morgen mehr. Aber allen Verlockungen, den Pop-Clown zu machen und einmal im Leben richtig Geld zu verdienen, hat er widerstanden. "Ich will ich sein / anders will ich nicht sein", singt er, und das großartige "Laß" uns ein Wunder sein", bei dem seine nach den Griffen tastenden Finger den Kampf mit den Saiten aufgeben. Reisers neue Lieder, letztes Jahr erschienen auf einer Platte namens "Himmel & Hölle", sind zarter, zornloser, zurückgenommener denn je.

Der Mann, der einst jugendliches Revoluzzertum und Unangepaßtheit personifizierte, ist jenseits der 40 zum stillen Beobachter der Zeitläufte geworden. Rio rockt nicht mehr, er singt, als balanciere er barfuß über Glasscherben, und wenn er schon mal aufschaut zur staunenden Menge, dann zielt sein Blick weit über die Köpfe ins Dunkel, wo er "Licht, Liebe und Hoffnung" (Rio) sieht. "Wann, wenn nicht jetzt?, wo, wenn nicht hier, wie, wenn ohne Liebe, wer, wenn nicht wir?", fragt er tapfer, obwohl er die Antworten kennt. Und als einzige Zugabe gibt es das Liebeslied "Junimond": "Es ist vorbei, bye, Junimond, es ist vorbei".


Mittwoch, 17. August 2016

Olaf Schubert: Der Spaßvogel in der Ostbaracke

Sein Kapital ist das Gesicht, aus dem er so fassungslos und entsetzt, so gleichgültig und ernsthaft zugleich gucken kann. Olaf Schubert, hoher Scheitel, Fusselhaar und über dem schmächtigen Brustkorb den unerlässlichen Pullunder, staunt dann in die Runde, die meist gerade brüllend lacht. Lacht über etwas, das Schubert gerade gesagt hat. Aber kann das sein? Dass Menschen sich vor Vergnügen ausschütten wollen, nur weil er einen durch ein Delta an Nebensätzen mäandernden Monstersatz nach viermal durchatmen und dreimal neu ansetzen zu einem glücklichen Ende gebracht hat?

Es hat eine ganze Weile gebraucht, bis Olaf Schubert, der eigentlich Michael Haubold heißt, es geglaubt hat. Bis dahin tourte der gebürtige Plauener, der heute neben Cindy aus Marzahn, dem Eisleber Duo Elsterglanz und dem Dresdner Uwe Steimle zu Ostdeutschlands Comedy-Elite gehört, mit seiner Band DekaDance durch die Lande. Schon diese Kapelle war nicht gänzlich ernst gemeint. Zum Programm gehörten Ausschweifungen über die Grenzen des guten Geschmacks hinaus, die Musiker trugen wundersame Verkleidungen und es wurde viel Unsinn erzählt. „Women back in the Kitchen“ sangen sie damals oder auch „Döbeln in the Sky“ und eine Bläsertruppe stieß dazu ins Horn, dass die Wände wackelten.

Bilder von damals zeigen Olaf Schubert in komischen Kittelschürzen, Lederjacken und Lindenberg-Hosen. Ein linkischer Kerl, dem der Schalk im Nacken sitzt. Es dauert denn auch ein halbes Jahrzehnt, bis das humorige Talent des selbst ernannten „Mittlers zwischen Kunst und Sozialabbau“ auch außerhalb der kleinen Säle entdeckt wird, in denen DekaDance auftreten. Hatte der Künstler seine ersten Jahre noch als ruhelos Reisender zwischen kleinen Klubs verbracht, in denen er seine abstrusen Protestgedichte und Aktionshörspiele mit hohem Einsatz, aber gegen ein geringes Salär vortrug, öffneten sich mit Beginn des neuen Jahrtausends die großen Tempel des deutschen Humors bis weit hinüber in den humortechnisch immer noch abgeschirmten Westen.

Schubert, der seine Hörspiele traditionell im halleschen Überschall-Tonstudio von „Zorn“-Autor Stephan Ludwig einspielt, gastiert seitdem im „Quatsch Comedy Club“ und bei „Night Wash“, er heimst Kleinkunstpreise und anno 2008 schließlich sogar den Deutschen Comedypreis als „Bester Newcomer“ ein. Dazwischen bespielt der Sachse Open-Air-Arenen wie die Pferderennbahn in Halle.

Ungeachtet des Umstandes, dass der Wahldresdner eine hochartifizielle Art von Humor pflegt, die von Anspielungen, unerwarteten Wendungen und gezielten Schlägen unter die Gürtellinie lebt, werden seine Bühnenprogramme nun zur besten Sendezeit im Fernsehen gezeigt. Zuletzt erst übernahm die ARD die vom MDR produzierte Fernsehshow „Olaf verbessert die Welt“, weil die überaus erfolgreich bei jungen Zuschauern ist.


Ebenso unverdrossen wie prinzipiell unverstanden steht Schubert nun dort auf der großen Bühne, im Scheinwerferlicht, immer noch begleitet von Bert Stephan, seinem alten DekaDance-Kollegen, und immer noch im Rauten-Pullunder, den, so will es die Legende, seine Oma ihm einst gestrickt hat. Olaf Schubert ist ein Star, ein Comedian, er spielt in der Liga von Dieter Nuhr, Mario Barth und Atze Schröder. Aber auf seine Art: Schubert sucht nach dem Tabu, um es grob zu verletzen, er ist politisch unkorrekt, beleidigend und unterwürfig zugleich und er verballhornt Begriffe und Bedeutungen, bis sie ganz neu erkennbar werden. Sich selbst nennt er deshalb stolz den „Rufer in der Wüste, Gegner der Finsternis und Vergewaltiger des Bösen“.

Der Spaßvogel in der Ostbaracke singt mit Gießkannenstimme und verhaspelt sich. Dann sattelt er den nächsten halben Satz und reitet ins Klischee, während die stets leicht verstellte Stimme in einem selbsterdachten weich dahinfließenden Bildungssächsisch Floskeln so lange aufbläst, bis sie begleitet von einem erstaunten „Oh!“ vor aller Augen platzen. Eine Kunstfigur, die noch mehr mit dem Mann dahinter verschmolzen ist als im Fall von Gilbert Rödiger und Sven Wittek, die nur alsDuo Elsterglanz wahrgenommen werden, und Ilka Bessin, die ihre erfolgreiche Kunstfigur „Cindy aus Marzahn“ erst vor wenigen Wochen aus Überdruss am Verwechseltwerden beerdigt hat.

Schubert, der kürzlich erst einen Feuerwehrschlauchfetischisten im neuen Film der Elsterglanz-Kollegen gespielt hat, wird für Schubert gehalten, die Erfindung. Nicht für Haubold, den Lenker, Denker und Texter hinter den Grammatik-Gebirgen und bizarren Zeitformverzerrungen, der öffentlich nie aus dem Schatten des „Wunders im Pullunder“ (Schubert über Schubert) tritt.


Nur so kann das Kunstkonzept Olaf Schubert funktionieren: Wenn die Person auf der Bühne das zu sein scheint, was sie zu sein vorgibt - ein an Selbstüberschätzung leidender Besserwisser, von nichts eine Ahnung, aber zu allem aussagebereit. Schubert schwätzt vom „erweiterten Infinitiv mit Kapuze“, von einer „Durchsetzung der deutschen Sprache mit Anglizismen, vor allem mit englischen“ und er erzählt von bizarren Begebenheiten aus seinem Alltagsleben als freischaffender „Betroffenheitslyriker“ (Schubert). Mit dem Lachen über ihn, der so verzweifelt versucht, so zu tun, als habe er alles im Griff, lachen die Leute immer auch über sich selbst.


www.olaf-schubert.de
www.objekt5.de

Samstag, 13. August 2016

Manuel Schmid: Ein Stern, der seinen Namen trägt



Der neue Stern-Meißen-Sänger legt mit „Seelenparadies“ sein zweites Solo-Album vor. Es versammelt Klavierballaden, Demmlertexte und viel Gefühl.

Er kam nach dem großen Streit und er kam aus dem Nichts. Manuel Schmid meldete sich vor vier Jahren, als Stern-Chef Martin Schreier gerade auf der Suche nach einem neuen Sänger war. Schmid stammt aus Altenburg, er sang in kleinerem Rahmen und er sang immer auch Lieder von Stern Meißen. Schmid war damals Ende 20. Die Band, bei der er einsteigen wollte, war doppelt so alt.

Aber es klappte. Mit seiner warmen, bis in sehr hohe Lagen reichenden Stimme hat der gelernte Keyboarder und studierte Audio-Ingenieur sich inzwischen längst einen Platz in den Herzen der Stern-Fans erobert. Schmid singt Klassiker wie „Kampf um den Südpol“ und „Was bleibt“ auf eigene, aber unterdessen akzeptierte Art. Und eben die pflegt er auch auf „Seelenparadies“, seinem gerade erschienenen zweiten Solo-Album, das mit „Also was soll aus mir werden“ auch eine modernisierte und als Duett inszenierte Version eines Stern-Klassikers enthält.

Der Rest sind Schmid-Kompositionen, die der Freund von Melancholie und Romantik mit Unterstützung von Puhdys-Basser Peter Rasym, Ex-Stern-Keyboarder Marek Arnold und Dirk Zöllner eingespielt hat. Schmid pflegt dabei eine zarte Gangart, die immer harmonisch bleibt und nicht vor Klischees zurückschreckt.

In „Hüte deinen Traum“ sind die Augen groß und die Seelen fest verbunden, „Worte sind wie Bilder“ wird von A-Capella-Gesang begleitet, und das Stück „Seelenlieder“ ist als Hommage an den verstorbenen ehemaligen Stern-Sänger Reinhard Fißler ausgewiesen, der sich am Anfang noch einmal selbst per Telefon zu Wort meldet. Zusammen mit Dirk Zöllner singt Manuel Schmid dann Teil zwei der Ode. Und den Schlusspunkt setzt, wie als Handschlag mit der Vergangenheit, ein neuvertonter Text von Kurt Demmler.

Mittwoch, 10. August 2016

Heimatgeschichte: Das Flugzeug-KZ am Rande der Stadt


Zugewachsen, von einem Zaun umgeben, mit Warnschildern versehen. Ein Hundeübungsplatz ist hier, ansonsten nur Ruinen, überwachsen, überwuchert. Eine Szenerie wie in der "Zone" aus  Tarkowskis "Stalker". Dabei handelt es sich bei dem Platz in der Frohen Zukunft, der bis heute von Wachtürmen überragt wird, um historisch belasteten Boden: Hier saßen einst die Siebel-Flugzeugwerke. Deren Hauptgebäude war das gegenüberliegende Haus, in dem heute das Landesverwaltungsamt residiert.

In den Siebel-Werken mussten in den Jahren des 2. Weltkriegs Zwangsarbeiter für die deutsche Rüstungsproduktion schuften. Der Journalist Nico Wingert hat vor Jahren beschrieben, wie 550 Häftlinge täglich aus dem KZ "Birkhahn-Mötzlich", einer Außenstelle des KZ Buchenwald, einem nahegelegenen Kriegsgefangenenlager an der Osramstraße, einem Zwangsarbeiterlager in der heutigen Kleingartenanlage Freundschaft und dem Fremdarbeitslager in der Frohe Zukunft zu den Produktionsstätten marschieren mussten, die heute verborgen und vergessen hinter einer dichten Hecke direkt an der Ausfallstraße liegen.

Hier rüstete das Dritte Reich Görings Luftflotte aus. Die Häftlinge, so hat Wingert herausgefunden, waren vor allem mit der Fertigung von Tragflächen und der Montage von Sturzkampfflugzeugen und Bombern der Baureihen Ju 88 und Ju 188 beschäftigt. SS-Einheiten bewachten das Gelände, von dem heute selbst ältere Hallenser nicht mehr zu sagen wissen, was es einst war. Ein Siebel-Flieger hingegen hat es bis ins Stadtmuseum geschafft.

Nach dem verlorenen Krieg wurde der Betrieb enteignet, aus dem Außenlager am Goldberg wurde eine Gartenanlage und aus dem Produktionsgelände ein GST- und Polizei-Schießplatz. Nach dessen Schließung verwilderte das Gelände immer mehr und immer malerischer, der Hundeverein nutzt nur einen Teil der Fläche, auf dem Rest überwuchern wilde Ranken die Reste der einstigen Bebauung.

Spuren der unseligen Vergangenheit sind nur noch wenige zu finden. Verrosteter Stacheldraht hängt hier und da an bröckligen Betonpfeilern, Stahltore rosten vor sich hin, bewacht von Schildern, die abenteuerlustigen Kindern den Zutritt verbieten sollen. "Bis heute", schrieb Nico Wingert vor fast zehn Jahren im "Stern", "gibt es kein Hinweisschild und auch keine Gedenktafel: Das Vergessen des ehemaligen Außenlagers des KZ Buchenwald scheint total zu sein."

Ist es immer noch.

Dienstag, 2. August 2016

Sandow: Ein Film ohne Bilder


Sandow-Sänger Kai-Uwe Kohlschmidt kombiniert auf seinem neuen Album „Den Himmel malen“ Fiktion und Erinnerung, Musik und Vergangenheit.

Was sie taten, war in den Augen der sozialistischen Kulturbürokraten unerhört. Auf offener Bühne bemalt ein Mann nackte Frauen, eine Band spielt dazu apokalyptische Musik. Songs, die kaum als solche zu erkennen sind. Rock, der nicht nach DDR klingt, sondern nach New York, Tokio oder London.

Die Band hieß Sandow, der Maler Hans Scheuerecker. Keine gewöhnliche Band, auch wenn ihr größter Hit „Born in the GDR“ wie eine normale Rockhymne daherkam. Und kein Maler wie jeder andere, denn Scheuerecker, geboren in Thüringen, aber ansässig in Cottbus, hatte in der DDR über Jahre hinweg vergebens versucht, zum Kunststudium zugelassen zu werden.

Doch auch das war die DDR in ihren letzten Jahren: In Nischen unterhalb der staatlichen Anerkennung gelang es Künstlern, sich dem Konformitätsdruck der Zulassungskommissionen zu entziehen und zu tun, was sie tun wollten.

Der Preis dafür war, dass die Staatssicherheit nie weit weg gewesen ist. Scheuerecker fand nach dem Zusammenbruch 800 Seiten Akten über sich, zusammengetragen von 70 IM. 800 Seiten, die der 64-Jährige sich zu lesen weigerte. Stattdessen ließ Scheuerecker, 2011 mit dem Brandenburgischen Kunstpreis geehrt, das Sandow-Chef Kai-Uwe Kohlschmidt tun.

Den schüttelte zuerst der „Ekel“, wie er sagt. Dann aber faszinierte ihn der eigentümliche Stasi-Sound aus „Einfalt, Dummheit und armseliger Missgunst“. Eine Heerschar von Denunzianten umschwirrt einen jungen Bohemien, „rätseldeutet sein Tun“ (Kohlschmidt). Es geht nun nicht mehr darum, zu urteilen oder gar zu verurteilen. Sondern darum, aus dem Konvolut von Bürokratensprache, Hinterrückshetze und Plänen zur Zersetzung ein Hörspiel zu machen.

„Den Himmel malen“ hat Kohlschmidt den 79 Minuten langen und überaus aufwendig gestalteten Film ohne Bilder genannt, der fast vollständig auf einem Boot auf der Ostsee spielt - wo der größte Teil des ungewöhnlichen Werkes auch aufgenommen wurde.
„Produzieren im Raum“ nennt der Musiker und Theatermacher seine Herangehensweise. Sechs Rollen, sechs Sprecher, ein Boot, das wirklich fährt. „Die Story und ihre Figuren nehmen Besitz von uns“, beschreibt Wolfgang Wagner, der den Max Scharnegger spricht, in dem unschwer der echte Scheuerecker zu erkennen ist.

Es geht um einen schillernden Maler, um den Kreis seiner Bewunderer, um seine Liebhaberinnen und Jünger und um den dunklen Geist der Stasi, der die Beziehungen zwischen Freunden noch aus Jahrzehnten Abstand vergiften kann. Alles ist inspiriert von den Akten, hat aber mit der wahren Geschichte nichts zu tun. Hier sitzt der Stasi-Mann todkrank auf einer Insel und wartet darauf, den von ihm verehrten wie bespitzelten Maler ein letztes Mal missbrauchen zu können.

Scharnegger solle ihm den Himmel malen, fordert der Stasi-Offizier, der vom Überwacher zum Fan und vom Fan zum Mäzen geworden ist, dessen Ankäufen der Maler nach dem Aufbruch in die freie Kunstwelt alles verdankt.

Wo ist Schuld? Wo bleibt die Sühne? Hier endet die Geschichte nicht im langsamen Vergehen der Zeit, nicht im Verschwimmen der Erinnerung und dem Zuwachsen von Wunden. Sondern in einem reinigenden Abschied auf hoher See, bei dem die Opfer und der Täter im selben Tränenmeer schwimmen.

Gelöst ist nichts, denn es gibt keine Lösung.

Das Doppelalbum enthält eine DVD mit einem Film zum Making Of
und ist in einer Sonderedition mit einem limitierten Siebdruck von Hans Scheuerecker erhältlich.

www.kaiuwekohlschmidt.net
www.mangan25.de