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Donnerstag, 29. März 2018

Kabinett de Maiziére: Die Abwickler der DDR


Die Minister der ersten und letzten demokratisch gewählten DDR-Regierung schauen in einem umfangreichen Interview-Band zurück auf die kurze Zeit an der Spitze eines untergehenden Staates.

Nicht viel mehr als 100, 130 und für manche auch 175 Tage dauerte  dieses letzte, allerletzte Kapitel der  40-jährigen DDR-Geschichte.  Die  im März 1990 eilig gewählte  Regierung des früheren Kirchenmusikers Lothar de Maiziere trat ihr Amt im April an. Und sie hatte eigentlich nur eine Aufgabe: Die Arbeiter- und Bauernrepublik besenrein übergeben, wenn das große Ziel der deutschen Einheit endlich erreicht ist.

Eine Selbstmordmission, wie die  17 Frauen und Männer beschreiben, die  als  Volkskammerpräsidentin, Ministerpräsident oder Ministerinnen  für immer die Letzten ihrer Art bleiben werden. Sie alle waren Amateure, manche wie der spätere SPD-Außenminister Markus Meckel oder DSU-Innenminister Peter-Michael Diestel durchaus machtwillig. Andere dagegen - wie der aus Magdeburg stammende Landwirtschaftsminister Peter Pollack oder Jugendministerin Cordula Schubert - blieben in ihrer Amtszeit durchgehend höchst verwundert über das Amt, das ihnen die Geschichte da plötzlich zugespielt hatte.

Politiker, die keine sind, regieren einen Staat, der keiner mehr sein will - die Einblicke, die der vom Leipziger Filmproduzenten Olaf Jacobs herausgegebene Interviewband  „Die Staatsmacht, die sich selbst abschaffte“ gibt, zeigen einen in der Historie einmaligen Vorgang aus der Innensicht. Während es draußen auf den Straßen brodelt, die Menschen politisiert sind wie nie, Unsicherheit grassiert und kaum noch staatliche Institutionen anerkannt werden, sitzen die letzten DDR-Minister vor einem Berg Abwicklungsarbeit.

Unter normalen Umständen wäre das alles überhaupt nicht zu schaffen gewesen, das sagen sie alle, von Sabine Bergmann-Pohl, einer  aus Eisenach stammenden Ärztin , über  den  wehrdienstverweigernden Pfarrer Rainer Eppelmann, der Verteidigungsminister wird und sein Amt sofort in „Abrüstungsminister“ umtauft, bis hin zum Merseburger Karl-Hermann Steinberg, der als Umweltminister eher ein Industrieabschaltminister sein wird. Aber es sind eben keine normalen Umstände mehr, wenn   ein   Staatsfeind plötzlich die Sicherheitsbehörden führt und eine Fachschuldozentin  aus Wengelsdorf auf einmal als Handelsministerin dafür sorgen muss, dass 16 Millionen Bürgerinnen und Bürger trotz Wirtschaftskrise, Freiheitseuphorie und Einheitssehnsucht etwas zu essen auf dem Tisch haben.

Mehr als ein Vierteljahrhundert Abstand tun den Berichten der Protagonisten dieser letztlich 174 Tage langen Zwischenzeit gut. Ohne noch Rücksicht auf Empfindlichkeiten von Parteien und früheren Kollegen nehmen zu müssen, sprechen die Ministerinnen und Minister a.D., die sich nach bundesdeutschem Recht nicht einmal so nennen dürfen, Klartext. Überfordert sind sie gewesen, anfangs oft allein beim Versuch, den übernommen SED-treuen Verwaltungsapparat auf die die neue Linie zu bringen.

Es war immer zu viel Arbeit und immer zu wenig Zeit, die Hilfe aus dem Westen blieb undurchsichtig und die Spielregeln mussten mitten in der laufenden Partie gelernt werden: Als Volkskammerpräsidentin Bergmann-Pohl per Fax mit einer Ablehnung des Einigungsvertrages im Parlament droht, wenn nicht eine Übergangsregelung zur Versorgung der Abgeordneten nach dem Einigungsakt vereinbart werden, sticht das Büro ihrer Bundestagskollegin Rita Süssmuth das Papier an die Presse durch.

Es sind diese Details, die die Berichte interessant machen. Wenn Lothar de Maiziére seinen Anspruch beschreibt, in den Einheitsverhandlungen mit Helmut Kohl keinen „Kaufvertrag, sondern einen Gesellschaftsvertrag“ zustandebringen zu wollen, schwingt die leise Ahnung mit, dass die andere Seite auch mit einem einfachen Kauf zufriedengewesen wäre. de Maiziéres Amateurtruppe kämpft dagegen an, während sie gleichzeitig mit Stasivorwürfen umgehen muss, LPG-Bauern demonstrieren und die riesigen Industriekombinate immer mehr Mitarbeiter auf die Straße setzen.

„Nicht vergnügungssteuerpflichtig“, nennt Lothar de Maiziére seinen Posten als Ministerpräsident und aus heutiger Sicht würde er sich und seine Minister doch mit  „zwei bis drei“ benoten. „Wir waren unendlich fleißig und haben vieles auch richtig eingeschätzt.“

Vieles auch nicht, aber es gab keine Vorbilder, keine Muster und immer nur einen Versuch, wie Peter Michael-Diestel sich erinnert, der den Deutschen aus heutiger Sicht ein „Defizit in Dankbarkeit“ attestiert. Diestels Ministerkollege Markus Meckel, der zuletzt als Präsidenten des Volksbundes Deutsche Kriegsgräberfürsorge  amtierte, ist weit weniger zufrieden. Der Sozialdemokrat sieht im Rückblick viel Unseriosität am Werke. Auch schmerzen den im Sommer 1990 im Vorfeld des Bundestagswahlkampfes von seinem Amt zurückgetretenen Ex-Außenminister bis heute spürbar persönliche Verletzungen.

Dass ihm die Entwürfe der DDR-Seite zum Einigungsvertrag nicht von seinem Ministerpräsidenten und Koalitionspartner zur Einsicht gegeben wurden, sondern er sie informell aus dem Bonner Kanzleramt bekam, das hat Meckel nie verwunden.

Montag, 26. März 2018

Wieder Wessi: Dann geh´ doch rüber


Auf einmal waren wir in der "Zeit". Das ist ungewöhnlich, denn dorthin schafft man es nicht so einfach als Journalist aus Sachsen-Anhalt. Aber die Geschichte fing eigentlich anders an. Es war eigentlich bloß um ein Buch gegangen, das ich vorgestellt hatte. Ein Buch, in dem sich zwei Wissenschaftler mit political correctness beschäftigten und damit, wie gutgemeinte Sprachregelungen vermeintlich unsere Gesellschaft zerstören. Ich hatte das Buch eher beschrieben als kritisiert, ich bin schließlich kein Wissenschaftler, ich kann schlecht beurteilen, wie richtig oder falsch ist, was Sarah Diefenbach und Daniel Ullrich in ihrem Buch „Es war doch gut gemeint“ als "PC-Ideologie" brandmarken. Deshalb musste es so reichen, ein Angebot zum Nachlesen und Nachdenken.

Es gab danach zahlreiche Mails und Online-Kommentare, überwiegend geschrieben von Leuten, die das Buch wohl nicht lesen werden, aber mal grundsätzlich Bescheid geben wollten, dass sie das mit der PC alles ganz unerträglich finden. Auch ein Kollege aus Berlin schickte mir eine Mail. Die warnte mich dringend, ein solches Buch doch besser beim nächsten Mal nicht vorzustellen. Das spiele nur den Falschen in die Hände. Damit dies nicht geschehe, gebe es "notwendige Tabus“, denn immerhin stehe hier die „Zukunft der Demokratie“ auf dem Spiel.


Wieder wider die "Falschen "



Ich war verblüfft. Den Falschen in die Hände spielen, das hatte ich zum letzten Mal vor 30 Jahren gehört. Damals in der DDR war es üblich, dass öffentliche Äußerungen rituell daraufhin abgewogen wurden, ob sie dem "Klassenfeind" in die Hände spielen könnten. Positionen, die in solchem Verdacht standen, durften keinesfalls eine sogenannte "Plattform" bekommen. Entsprechend antwortete ich dem älteren, in Westdeutschland geborenen und sehr viel erfahreneren Kollegen. "Ich denke nicht, dass du uns sagen muss, wo die Grenzen des Sagbaren sind", schrieb ich, "wir sind so neu hier, immer noch, wir sind da viel empfindlicher als Du."

Es entspann sich daraus ein Dialog, dem bald ein weiterer Kollege beitrat und der flugs beiderseits ein gewisses Unverständnis auszudrücken begann: Wie könne man nur die DDR und unser heutiges Deutschland miteinander vergleichen, hieß es aus Berlin. Was erlaube es ihm, antworteten der hallesche Kollege und ich, uns nahelegen zu wollen, welche Erinnerungen aktuelle Ereignisse und Erlebnisse in uns wachrufen dürfen und welche nicht?

Der Kollege stellte nachdrücklich klar, dass "notwendige Tabus einer freien Gesellschaft heute und die Unterdrückung der Meinungsfreiheit vor 1989" selbstverständlich nichts miteinander zu tun hätten. Nur bei uns klang dieser Sound genau wie der von früher, als Freiheit die Einsicht in die Notwendigkeit bedeutet, manches nicht zu sagen. Oder besser gleich: Zu denken.

Derselbe vorgekaute Kram in genau derselben indoktrinären Absicht dargeboten, wie wir ihn in der echten, nicht in der von Menschen mit der Gnade der Westgeburt versehenen später mühsam anstudierten DDR erlebt haben. Das auszusprechen, konnte die Sorgen des besorgten Kollegen nicht mindern, eher im Gegenteil. "Dass so kluge Leute wie ihr so denkt, wie ihr denkt, vergrößert meine Sorge noch", schrieb er.

Ich zitiere das alles aus eigentlich nicht für die Öffentlichkeit bestimmten Mails nur, weil, wir werden es weiter unten sehen, ich selbst auch zitiert worden bin, ungefragt und als namenloser "Ostdeutscher", obwohl ich doch schon mehr als die Hälfte meines Lebens im Westen lebe.


Ende in Sprachlosigkeit


Irgendwann endete der Dialog jedenfalls in Sprachlosigkeit. Wir hatten einander offensichtlich nicht überzeugen können. Wir schrieben etwas von Arroganz. Die letzte Mail aus Berlin bekundete tiefe Enttäuschung.

Es war die Art Enttäuschung, wie sie früher mancher Missionar empfunden haben muss. Sie kennen solche Geschichten sicher: 20 Jahre lang hat er alle Kümmernisse eines leider noch kannibalisch lebenden Stammes von Südseeinsulanern mitgetragen. Und nun muss er entdecken, dass seine Schützlinge gerade einen Kessel für ihn anheizen. Oder der Ethnologe, der nach vielen Jahren des Lebens in einer ihm völlig fremden Kultur selbst glaubt, er sei ein integraler Teil seiner Gastkultur. Nur um festzustellen, dass der Flieger, der am Flughafen auf ihn wartet, ihn auf alle Zeiten zu einem Fremden machen wird. Oder aber der Bienenforscher, der seine Völker immer gegen den Vorwurf verteidigt hat, sie würden unnötig stechen. Und nun unter Schmerzen konstatiert, dass sie das auch bei ihm selbst tun.

Solche Enttäuschung kann nicht in ein paar Mails vergraben bleiben. Sie muss raus, denn sie erfordert Konsequenzen. Der Berliner Kollege begriff sich ja bislang öffentlich als "Wossi", er hatte sogar Bücher über die fremden Stämme im Osten geschrieben, in denen er kundig erklärte, wie die DDR wirklich war, was für Menschen sie produziert hat und wie man das alles verstehen müsse. Er mochte den Osten erklärtermaßen, ein Freund des Ewigfremden sozusagen, der sich sogar für ostdeutsche Nazis entschuldigte. Nicht alle Ossis seien welche. Danke.

"Ich bin wieder der Wessi", heißt der Text in der "Zeit", der laut Unterzeile die "Geschichte einer Entfremdung" erzählt und uns, die beiden DDR geborenen und aufgewachsenen Berufskollegen, neben der ostdeutschen Schriftstellerin Monika Maron ungefragt als Zeugen anführt für eine Entwicklung, die den Mann, der von sich sagt, er habe "den Osten immer so verteidigt", nun zwingt, sich loszusagen.

Ein Akt der Überhöhung


Dabei ist erschütternd nicht der Akt der Überhöhung, sondern die fröhlich Sach- und Gesetzeslagen durcheinanderwirbelnde Argumentation. Maron etwa bekommt für ihr Beharren darauf, dass es einen Unterschied gebe zwischen Deutschen, die vor 1989 aus der DDR in den Westen gingen, und Geflüchteten, die heute nach Deutschland kommen, den Ukas zugestellt, sie halte sich "qua Nationalität für etwas Besseres". Oder wenn nicht, dann wolle sie sich "gegen die intellektuellen, politischen und moralischen Konsequenzen imprägnieren, die es notgedrungen hat, wenn man zwischen dem Flüchtling aus Bautzen und dem aus Homs keine substanzielle Differenz erkennt".

Es ist nun aber nicht Monika Maron, sondern das Grundgesetz, das den Unterschied macht. Es kennt eben deutsche Staatsbürger und Menschen, die keine deutschen Staatsbürger sind. Was dazu im Sozialkundeunterricht der alten Bundesrepublik gelehrt wurde, lässt sich von hier aus nicht mehr ermitteln. Im Staatsbürgerkundeunterrricht der DDR, von dem noch mehr die Rede sein wird, ritt der Mann mit dem Engels-Bart, der meine Klasse betreute, jedenfalls so oft auf dem "Alleinvertretungsanspruch" der Bundesrepublik herum, dass wir Schüler irgendwann Bescheid wussten: Wir alle waren Bundesbürger, die ganze Zeit, von der Stunde unserer Geburt an! Nur eben im falschen Land und ohne Zugang zu unseren Reisepässen.

Gelänge es aber einem von uns, irgendwie hinüber zu kommen, müsste er dort kein Asylverfahren durchlaufen und nicht mal bitte, ich will bleiben, sagen. Nein, er verwandelte sich einfach aus dem Bundesbürger im Wartestand in einen mit aktivem und passivem Wahlrecht.


Qua Nationalität etwas Besseres


Qua Nationalität etwas Besseres, weil es das Grundgesetz so will, nicht Monika Maron, die das weiß, weil sie selbst in den Westen übersiedelte. Ohne Asyl beantragen zu müssen. 

Aber darf man das so sagen? Als "Ostdeutscher", der ja doch nur ein karges viertel Jahrhundert in Freiheit gelebt hat und bis zu seinem 25. Geburtstag nicht im Grundgesetz lesen durfte? Oder wird man damit selbst im Handumdrehen zu einem der "Falschen", die unser Mann in Berlin säuberlich in Töpfchen sortiert, auf die er - vielleicht nur aus Höflichkeit und rücksichtsvollem früherem Naheseinglauben -  nicht die Kurzform dessen schreibt, was er stattdessen in den gefühlvoll vagen Satz packt: "Es treibt mich in den Wahnsinn, dass der verordnete DDR-Antifaschismus viele einstige DDR-Bürger gegen jede Form des Antifaschismus ein für alle Mal immunisiert zu haben scheint." Ja, er ist ohne Zweifel fest überzeugt, nicht nur etwas über "notwendige Tabus", sondern auch etwas über den "verordneten DDR-Antifaschismus" zu wissen und dessen fatale Wirkungsspur bis heute nachverfolgen zu können.

Wo wir die verordneten Rituale schon damals mit der inneren Beteiligung von Toten absolviert haben, schreibt er, der keine Stunde mit dem Mann mit dem Engelsbart verbracht hat, dem faulen Zauber, an den nicht einmal die ausführenden Unterzauberer selbst noch glaubten, eine bis heute anhaltende Wirkung zu. Secondhand-Geschichte, authentisch wie ein Märchenbuch.


Vergleichsverbot


Was könnten die, die es erlebt haben, dagegen sagen? Nichts, denn wir "zwei Ostdeutsche, die meinen, die (westdeutsche) Political Correctness von 2018 sei vergleichbar mit dem Staatsbürgerkundeunterricht von vor 1989", so der Autor, wissen ja nicht einmal diesbezüglich, wovon wir reden. Im Gegensatz zu ihm haben wir zwar ein paar hundert Stunden Stabü-Unterricht nicht nur erlebt, nein, jeder von uns hat sogar ein paar Dutzend Stunden so erfolgreich gestalten können, dass Diskussionen vom Lehrer abgebrochen wurden, weil sie aus Sicht des Lehrertisches in die falsche Richtung liefen.

Dennoch scheinen wir Zeitzeugen nun ganz selbstverständlich nicht nur nicht die Deutungshoheit darüber zu haben, ob und wie sehr der DDR-Staatsbürgerkundeunterricht mit seinen Denkschablonen und Sprachvorgaben uns an die heutige Praxis politisch korrekten Sprechens erinnern darf. Wir haben nicht einmal mehr eine Stimme in der Diskussion darüber, was wir erlebt haben und was das heute mit unserer Fähigkeit zur Mustererkennung macht.

Das Urteil bleibt anderen vorbehalten. Die aus ihrer Enttäuschung darüber, dass sie uns, die damals so großherzig aufgenommenen "Ostdeutschen", schon für viel weiter gehalten hatten, keinen Hehl machen. So gut haben wir es hier, und so wenig dankbar sind wir doch. Dass wir meinen, aus unseren Erfahrungen nun noch eigenständige Bewertungen ableiten zu dürfen.


Es ist ein fast hörbares Kopfschütteln im Text. "Spätestens in dem Augenblick wusste ich, dass Debatten keinen Sinn mehr haben", heißt es in der "Zeit" zu dem Moment, wo der wohlmeinende, tolerante und trotz so mancher schrägen ostdeutschen Eigenart bisher um Integration bemühte Autor sich aus tief empfundenem Verantwortungsbewusstsein abwenden muss. "Es geschieht das, was meine Freunde 1989 befürchteten – ein Vierteljahrhundert, nachdem er sie eingerissen hat, baut der Osten neue Mauern."

Der Osten. Diese Landschaft ohne eigene Elite, ohne eigene Publizistik, ein Landstrich im Begriff, die Spuren der eigenen Geschichte demontiert zu bekommen. Wunder geschehn. Es verbietet sich, da mitzutun. "Ich bin jetzt wieder der "Wessi", der ich vor meinem Umzug 1992 war", geht der Kollege den einzigen noch möglichen Weg zurück, dorthin, woher er kam.

Heimat sei schließlich da, "wo man verstanden wird und seine Mitmenschen versteht", schreibt er am Ende, irgendwie nun doch qua Geburtsort etwas Besseres. Doch was muss, das muss. "Ich habe mich vom Osten wieder entheimatet und er sich von mir."

Uns fällt das eben nicht so leicht.


Samstag, 24. Februar 2018

Goitzsche Front: Der Bitterfelder Weg


Zum ersten Mal seit Tokio Hotel vor knapp zehn Jahren hat es wieder eine Band aus Sachsen-Anhalt an die Spitze der deutschen Albumcharts geschafft. Diesmal steht kein Masterplan und kein Großkonzern hinter dem Phänomen.

Erstmals seit 2009 steht wieder eine Band aus Sachsen-Anhalt auf dem Spitzenplatz der deutschen Albumcharts. Goitzsche Front aus Bitterfeld, vor zwei Jahren mit ihrem Album "Mon(u)ment" schon wie aus Nichts auf Platz 6 gelandet, sitzen mit ihrem neuen Werk "Deines Glückes Schmied" auf dem Hitparadenthron. Vor knapp zehn Jahren war es die Magdeburger Teenie-Gruppe Tokio Hotel, die mit einem solchen Erfolg Furore machte für ein Bundesland, dessen Rockmusikszene kaum je für überregionales Aufsehen sorgt. Und nun jetzt sind es vier junge Männer aus Bitterfeld: Christian Schulze, Maxi Beuster, Pascal Bock und Tom Neubauer, die ihre Band vor zehn Jahren eigentlich nur als Spaßkapelle gegründet hatten, dann aber immer deutlicher merkten, dass da mehr geht.

Der Unterschied zu Tokio Hotel könnte nicht größer sein. Kamen die schon mit ihrer Debütsingle überall ins Fernsehen, weil ein großes Teenie-Magazin den Hype gezielt anheizte, sind es bei ihren Nachfolgern die sozialen Netzwerke, die den Erfolg tragen. Videos wie „Der Osten rockt“, „Menschlich“ oder „Männer aus Stahl“ kommen auf Millionen Abrufe und lassen damit etablierte Ostbands der alten Garde wie Silly, Karat und die Puhdys um Längen hinter sich. Inzwischen spielen die vier Musiker regelmäßig vor ausverkauftem Haus, jedes Konzert wird angegangen wie ein Endlauf bei Olympia, höchste Konzentration, dann alles geben, was da ist.

Das sei alles nicht geplant gewesen, beschreibt Gitarrist Maxi Beuster, der als letzter zur Band stieß, die der heute seine Familie nennt. Irgendwie aber funktionierte es, irgendwann bemerkten die vier Bitterfelder, dass sie zusammen etwas zustandebringen können, was in vielen Menschen eine Saite zum Schwingen bringt. Niemand hier hatte die Absicht, Größen wie Ed Sheeran, Justin Timberlake, Helene Fischer oder Peter Maffay in den Charts hinter sich zu lassen. Aber nun ist es passiert: „Deines Glückes Schmied“, ein handfestes, gefühlsseliges und erdigen Album, angefüllt mit 16 Hymnen an das Leben, die Liebe und das Leid, katapultiert Beuster, Schulze, Bock und Neubauer in Sphären, von denen sie nicht einmal geträumt haben.

Aber darauf hingearbeitet, das haben sie, ohne Kompromisse zu machen. Echt sein, sich nicht anpassen und machen, was man selbst für richtig hält - seit der 29-jährige Bock und seine Kindergartenkumpel Schulze und Neubauer ihre Band vor neun Jahren mit wenig Können und viel Euphorie gründeten, sind die Musiker aus Bitterfeld diesem Grundsatz treu geblieben. Es ging nie um Image, Stromlinienform und Mode. „Sondern darum, zu machen, was man glaubt, tun zu müssen“, wie Bock sagt. Maximilian Beuster, mit 23 der Jüngste der Band, bestätigt das. „Wir sind wirklich nicht nur Bandkollegen, sondern die allerbesten Freunde.“

Immer noch müssen die Bandmitglieder Urlaub nehmen, um auf Tour gehen zu können. Demnächst geht es los - erst solo, dann als Anheizer für die Kollegen von Frei.Wild. Eine neue Herausforderung. "Vor so vielen Leuten haben wir noch nie gespielt", sagt Maximilian Beuster und es klingt nach Respekt und Vorfreude. Der legendäre Bitterfelder Weg, er  führt weiter, immer weiter. Mal sehen, bis wohin, sagen sie selbst.



Konzerttrermine in diesem Jahr

Samstag, 17. Februar 2018

FDJler mit Fingern am Hintern: Wir DDR-Amerikaner


Der Tabubruch ist komplette Handarbeit. Sieben Zentimeter lang, fünf breit und mit klitzekleinen Mäusestichen hinten an die Tasche der Jeanshose genäht. Ein Affront aus Baumwolle, der Klassenfeind auf Unterwandertour in der DDR Ende der 70er Jahre. Schwurfinger, die das Victory-Zeichen zeigen, das ist schrecklich genug, denn in der finalen Phase des Kalten Krieges zählt nicht mehr, dass dessen Erfinder Winston Churchill seinerzeit einem Land vorstand, das gegen den sogenannten Hitlerfaschismus verbündet war mit dem Bruderland der DDR, der großen sozialistischen Sowjetunion. Es kann ja auch nicht zählen, denn die ideologischen Kriegsführer im Westen haben den Stoffpatch mit der Schwurhand mit den amerikanischen Farben zum Überbringer einer klaren Botschaft gemacht. Wir werden siegen. Ihr werdet verlieren.


Nachdem die willige Freundin das „Aufnäher“ genannte Stück Stoff auf die Jeans gepappt hatte, wurde der Träger der Hose zum Verkünder der Wahrheit des Gegners im Ringen der Systeme. Egal, ob die Jeans eine Levis, Wrangler, Edwin oder Wisent war, wo das Victory-Zeichen in US-Flaggenfarben prangte, schrillte der Klassenkampf-Alarm. Lehrer bezogen ideologische Schützengräben, Direktoren luden in ihr Büro, Pionierleiter eilten mit Bastelscheren durchs Treppenhaus, um den Angriff der 5. Kolonne Washingtons auf das Herz des sozialistischen Bildungssystems abzuwehren.


Das von einem sogenannten Sowjetmenschen entworfene und der Uno vom sozialistischen Brudervolk geschenkte Schwerter-zu-Flugscharen-Symbol zu tragen, war schrecklich. Doch die Schwurfinger des amerikanischen Imperialismus übertrafen alles. Eltern mussten antreten und ihren Nachwuchs gegen den Vorwurf des Verrats an den Grundsätzen von Frieden, Freundschaft und Solidarität verteidigen. FDJ-Leitungen waren gezwungen, ihr Nichteingreifen mit Blindheit zu entschuldigen. Fiel ein Victory-Aufnäher einer Volkspolizei-Streife auf der Straße auf, hieß es „mitkommen, Klärung eines Sachverhaltes“.


Und der ließ sich nie mit dem Hinweis klären, dass der staatsfeindliche Aufnäher aus dem befreundeten Ungarn oder von einem Straßenmarkt im RGW-Bruderland Polen stammte. „Wir sind hier in der DDR“, sprach der Wachtmeister da, „hier gelten unsere sozialistischen Gesetzlichkeiten.“ Die eine völkerverbindenden Verbindung von DDR-Boxerjeans, steif, unausbleichbar und mit abspringenden Knöpfen, mit Amerikanergruß aus einer polnischen Kellernäherei nicht vorsah.


Eben das machte es ja so spannend. Je weiter weg Amerika in der DDR-Propaganda rückte, je mehr aus Amerikanern bluttrünstige, mordgierige, die Welt unterjochende Monster wurden, desto reizvoller schien es, selbst Amerikaner zu sein, und sei es nur ein bisschen, durch lange Haare, Jeans und ein Stück Stoff am mageren Teenager-Arsch. Ein Risiko war ja auch kaum dabei, denn außer einer Stellungnahme, abzugeben vor dem FDJ-Kollektiv, das Mühe hatte, nicht in Gelächter auszubrechen, drohte höchstens ein Tadel beim Morgenappell. Erwischt zu werden brachte damit auch noch Anerkennung von allen, die auch lieber Amerikaner gewesen wären als kleines Neubaukind.


Dienstag, 30. Januar 2018

Meister aus Halle: Der leise Tod einer Fussball-Legende

Werner Stricksner (Mitte) bei einem Spiel gegen Lok Leipzig im Jahr 1955, das am Ende 2:2 ausging.

Turbine Halle ist der letzte DDR-Fußballmeister, den Halle hatte. Und auch wenn Werner Stricksner damals im historischen Jahr 1952 nur ein einziges Spiel an der Seite von Legenden wie Herbert Rappsilver, Heinz Schleif, Horst Ebert I, Walter Schmidt, Otto Knefler und Erich Haase machte, war der 1926 geborene Hallenser doch Teil der legendären Meistermannschaft. Stricksner erlebte den histroischen 2:1-Auswärtssieg bei Turbine Erfurt, der die Meisterschaft perfekt machte, nicht auf dem Platz. Doch tausende mitgereiste Anhänger feierten auch den 25-Jährigen als Teil der bis heute letzten Fußballelf aus Halle, die eine Spielzeit einer höchsten Liga als Tabellenführer abschloss.




Deren Ende kam allerdings schneller als gedacht. Turbine rutschte erst ins Mittelmaß, dann kam aus der Parteibürokratie die Anweisung, dass die Oberligamannschaft zum neugegründeten Sportclub Chemie Halle-Leuna wechseln müsse. Es brauchte angeblich 34 Sitzungen, bis die widerstrebenden Spieler mit Druck und guten Worten und der Drohung, sonst nie wieder Oberligafußball spielen zu dürfen, bereit waren, Turbine zu verlassen und künftig für Chemie Halle-Leuna aufzulaufen. Auch Stricksner, der nach seinem Debüt noch weitere sieben Spiele für Turbine machte, spielte nun für Chemie. Er kam auf weitere 18 Oberligapartien - weniger als seine Namensvettern Diethart und Lothar, denn es lag von Anfang an kein Segen auf der von oben herbeigepressten Neugründung, die schon ein Jahrzehnt später erneut umgebaut und zum bis heute existierenden Halleschen FC wurde.

Schon am 24. April 1955 machte Chemie nach einer verheerenden Debütsaison sein letztes Oberliga-Spiel. Die Hallenser gewannen zwar mit 2:1 gegen den Armeeverein ZSK Vorwärts Berlin. Aber der Abstieg war amtlich. Auch in der Liga, in der Werner Stricksner zum Stamm gehörte, der den sofortigen Wiederaufstieg schaffen sollte, rangierte die junge Sockoll-Elf lange nur auf Platz 2 hinter dem Favoriten aus Jena.

Erst als der vor 25000 Zuschauern mit 4:2 aus dem halleschen Kurt-Wabbel-Stadion geschossen wurde, durften die Heuer, Klaus Hoffmann, Oelze; Bierbäum, Imhof; Lehrmann, Lehmann, Schmidt und Stricksner vom Aufstieg träumen. Im Dezember 1956 holten sich die Chemie-Fußballer dann durch einen 2:1-Sieg über Vorwärts Berlin vor 25 000 Zuschauern in Magdeburg dann auch noch sensationell den FDGB-Pokal. Unter Trainer Horst Sockoll lief neben Spielerlegenden wie Klaus Hoffmann, Robert Heyer, Wolfgang Knust, Werner Lehrmann, Walter Schmidt, Dieter Rauschenbach und Günter Imhoff auch Stricksner auf.

Der Abwehrrecke, der damit Meister und Pokalsieger war, beendete wenig später seine seine Spielerkarriere und wechselte auf die Trainerbank der Bezirks-Juniorenauswahl, der Nachwuchsabteilung des SC Chemie und der DDR-Juniorenauswahlmannschaft. Hauptberuflich als Sportlehrer tätig, trainierte Stricksner nebenher die Bezirksligaelf der BSG Motor Ammendorf. Mit der schnupperte der blonde Hallenser noch einmal Oberligaluft: Vor 1500 Zuschauern unterlag seine Elf 1962 im FDGB-Pokalspiel gegen den hochfavorisierten Meisterschaftsanwärter SC Empor Rostock.


Jetzt ist Werner Stricksner im Alter von 91 Jahren gestorben.


Mittwoch, 24. Januar 2018

Vor 25 Jahren: Dynamo Dresdner Drunter und Drüber

Vor 25 Jahren stand Dynamo Dresden vor Aus. Die Bilanz des Dresdner Fußballs nach anderthalb Jahren Bundesliga war ernüchternd: Die Klasse zwar gehalten, aber die Kassen waren leer. Die besten Spieler sind verkauft, doch die Millionen verschwunden. 16,4 Millionen Mark Schulden hatten die damals letzten Ost-Vertreter im Reigen der besten deutschen Kicker aufgehäuft. Gründe dafür gab es so viele, wie es Interessen im Gerangel um die Macht im maroden Klub gab. Dynamo war ein Verein der Widersprüche und Widersinnigkeiten, ein Objekt für Liebe und Geschäfte. Und auch die Rettung durch den hessischen Bauunternehmer Rolf-Jürgen Otto würde nicht die letzte bleiben.


Ein Krimi aus dem Jahr 1992.



Pascale, der Wirt der Dynamo-Schenke, hat schon gewaltige Schlachten erlebt. "Aber was uns heute Abend bevorsteht", poltert er, "hat ein anderes Kaliber." Heute Abend geht es nicht um Fußball. Heute Abend geht es um Glauben. "Wenn wir nämlich nicht mehr an uns selber glauben", wird Rolf Hekker, der in den Fünfzigern "ein knochenharter halblinker Läufer der Dynamo-Oberligaelf" gewesen sein will, später prophezeien, "dann wählen wir heute Abend den Otto und beten zu. Gott, dass er uns nicht belogen hat."


Um das Selbstbewußtsein der Dynamos ist es schlecht bestellt. Trotz achtbarem Platz 10 in der laufenden Saison steht es böse um den letzten ostdeutschen Fußballverein in der ersten Bundesliga, der von sich selbst sagt, er spiele nicht nur für Sachsen, sondern für die Fußballfans in allen fünf neuen Ländern.


Schalke auf sächsisch



Dynamo Dresden war in der alten DDR ein "Polizeisportverein", was Vereinsmitglieder vorsorglich immer erwähnen, um den Verdacht auszuräumen, Dynamo Dresden sei - wie die verabscheute Konkurrenz vom Berliner FC Dynamo - eine "Stasimannschaft" gewesen. "Dynamo - das ist unsere Show" hieß es damals in der Dresdner Vereinshymne - doch nie war der Spruch wahrer als heute. Gruppen und Grüppchen streiten beharrlich um die Macht, Rücktritte, Abtritte und verbale Tritte gegen gegnerische Schienbeine haben Dynamo den Ruf eines Skandalvereins eingebracht. 


Dynamo Dresden, das ist Schalke auf sächsisch. Hier gibt es Männer, die sich "Freunde" nennen, einander aber spinnefeind sind. "Retter" konkurrieren mit "Helfern"; "Geldgeber" und "Vertragspartner" entpuppen sich in schöner Regelmäßigkeit als Beutelschneider, Journalisten gruben im Vorleben von Präsidenten, Präsidenten wiederum setzten, so erzählen Eingeweihte, Detektive auf Journalisten an. Der einst gefürchtete "Dynamo-Kreisel" dreht sich denn auch nicht mehr auf unten auf dem Platz, wo die Mannschaft um Kapitän Müller gegen den Abstieg kickt, sondern in der Geschäftsstelle, die in einem angegrauten Betonflachbau neben dem Rudolf-Harbig-Stadion residiert.


Bei Dynamo, sagen die Dynamo-Fans, gibt es so viele Meinungen wie Mitglieder. Die sich daraus ergebenden Konflikte werden mit Verbissenheit ausgetragen: Staatsanwälte beschäftigen sich mit dem Geschäftsgebahren des Klubs, Stasivorwürfe wurden erhoben und widerlegt, Anzeigen erstattet und zurückgezogen. Paragraphen, Verträge und diverse "Formfehler" in ihnen sind längst so wichtig wie Spiele, Tore und Punkte. Gleich eine Handvoll Anwälte verdient nicht schlecht an dem Verein, dessen letzter Präsident nicht zu sagen wusste, "wie ich den Bus zum nächsten Auswärtsspiel bezahlen soll."



Dynamos Schicksal sind die Umstände. Und Dynamos Schicksal sind die Menschen, die sich vom ersten Spieltag in der 1. Liga mühten, mit den Umständen klarzukommen. Warum das nicht gelang? Reinhard Hafner, einst begnadeter Mittelfeldspieler, erklärt es mit allgegenwärtigen "Fallstricken, über die jeder Neuling in diesem Geschäft gestolpert wäre."

Dieter Burmester dagegen, von Haus aus Autohändler, ist Anhänger der "Anschluss-Theorie." "Dynamo hat dieselben Probleme gehabt wie all die Ost-Betriebe, die sich auf einmal mit der westlichen Konkurrenz auseinandersetzen mussten", referiert er. Es habe "keine Schonzeit" für die Sachsen gegeben, "wir sind ins Wasser geworfen worden und mussten sofort losrudern." Burmester, gebürtiger Bremer und letzter Dynamo-Interimspräsident, muss es wissen. Hat er doch seine Zelte gleich nach der Einheit an die Elbe verlegt und sich den eben aus der Oberliga in die 1. Bundesliga beförderten Dynamos als Sponsor angedient. 

"Damals", erzählt der "Wahlsachse" mit dem nasal gesnackten "R" der Norddeutschen, "hatten wir hier 84 hauptamtliche Klubmitarbeiter, 84!" Ahnung von Buchhaltung, Vertragsgestaltung und Management hatte keiner - folglich schlug die Stunde der "Berater." Im Ergebnis wurde*da mal eine Vertragsklausel "vergessen" wie beim Matthias-Sammer-Verkauf an Stuttgart. Dort mal Geld zum Fenster herausgeworfen, wie beim Stadionumbau, für den Dynamo Millionen blechte, obwohl das Stadion der Stadt gehört. 

Schlechte Spieler

Schlechte Spieler wie der Leverkusener Page wurden für gutes Geld teuer gekauft, worüber sich die Insider bei den Westklubs vor Lachen immer noch die Bäuche halten. Das Sagen im Verein hatte die Gruppe um den schütterhaarigen Wolf-Rüdiger Ziegenbalg, einen in Radeberg beheimateten Rundfunkhändler, der "immer den besten Willen" hatte, aber schon mal mit der Einsicht kokettiert, dass "ich wohl ein bisschen zur Selbstdarstellung neige." Unter Selbstdarsteller Ziegenbalg, einem eifrigen Amateur im Profi-Geschäft, war der große Wurf gelungen: Spielen in der Bundesliga. Aber Bundesliga, die Ernüchterung folgte auf dem Fuße, ist kein Spiel.


Schon kurz nach Saisonbeginn '91 steht "Boards & Sports", die Hamburger Werbeagentur, die alle Vermarktungsrechte an Dynamo hält, vor dem Konkurs. Fieberhaft macht sich das Präsidium auf die Suche nach neuen Geldgebern. Fündig allerdings wird ein anderer. Dynamo-Geschäftsführer Manfred Kluge, ein fülliger, gamsbärtiger Mensch mit Geschäftssinn und dem Blick für Gelegenheiten, nimmt Kontakt zum Saarbrücker Werbemann Georg Rebmann auf und überredet diesen, mit seiner Firma "Sorad" neuer Partner von Dynamo zu werden. Wolf-Rüdiger Ziegenbalg, seitdem nach eigener Ansicht "um etliche Illusionen ärmer geworden", unterschreibt die Verträge 14 Tage später, "weil die Frage stand: Sorad oder Pleite." Sorad hilft Dynamo mit einem 2,5 Millionen-Darlehen aus dem Gröbsten, der Klub scheint gerettet. Der Preis dafür ist die knebelvertraglich besiegelte Umarmung Rebmanns, der nur "das Beste für beide Seiten" will. Und fortan 40 Prozent aller Dynamo-Einnahmen einstreicht.


"Belege in Kartons gestapelt"



Das Loch in der Kasse des letzten ostdeutschen Erstligisten wird nun täglich um rund 30 000 Mark größer, "ganz einfach weil", erklärt Ziegenbalg, "mehr Geld 'rausging, als 'reinkam." "Aber die Zustände in der Buchführung", schimpft Dieter Burmester, "waren so katastrophal, daß das gar keiner gemerkt hat." Solange Geld da war, wurde auch welches ausgegeben. 


Burmester schildert die Zustände in der Geschäftsstelle: "Keine Nachweisführung, dafür Belege in Kartons gestapelt; marode Finanzen, über die aber keine konkrete Übersicht." Der Sessel von Wolf-Rüdiger Ziegenbalg wackelt nun bereits beträchtlich. Aber noch einmal setzt sich der "Ursachse" durch: "Wir Sachsen brauchen keine Wessi-Hilfe", kreiert er einen neuen Dynamo-Leitspruch, der den selbstverliebten sächsischen Fans, die sich ohnehin beständig von West-Schiedsrichtern und West-Funktionären benachteiligt fühlen, runtergeht wie Öl. 

Statt des importierten Helmut Schulte, dem das "Dresdner Umfeld nicht gefällt", entert Ex-Trainer und Ex-Manager Klaus Sammer die Bank. Reinhard Hafner, der die Dynamos in die Bundesliga trainiert hatte, dann aber für den Hamburger Schulte Platz machen musste, "weil wir jetzt einen erfahrenen Mann auf der Bank brauchen" (Ziegenbalg), besteigt den Managerstuhl. Die "sächsische Lösung", der Not gehorchend von Ziegenbalg in "schlaflosen Nächten" ausgebrütet, findet den Beifall der Fans. Und die Fußballwelt in Dresden ist wieder in Ordnung, auch wenn keines der wirklichen Probleme gelöst ist.


Otto heizt den Ofen



Rolf-Jürgen Otto, von humorig veranlagten Sachsen in Umkehrung seiner Initialien auch zynisch "J. R." genannt wie das Ekel aus der Fernsehserie "Dallas", hat Dynamo Dresden seitdem immer mal wieder gerettet. "Hätte der nicht dann und wann mal was in die Tüte gepackt", bestätigt Burmester, "wäre der Ofen lange aus." Rolf-Jürgen Otto ist in Dresden dennoch so unbeliebt wie kein zweiter. Ein kleiner, feister Mann mit Doppelkinn und beginnender Wirbelglatze ist der Frankfurter Bauunternehmer, der das "Hauptaugenmerk meiner Geschäftstätigkeit" vor zwei Jahren nach Sachsen verlegt hat und dort "Millionen investiert."


Otto, der in Dresden den Architekten Walter Hoff kennenlernt, hat ein "großes Fußballherz." Früher sponsorte er Tischtennisvereine und hielt Rennpferde, versuchte sich auch mal beim hessischen Oberligisten Neu-Isenburg, als aber der Aufstieg nicht gelang, gab Rolf Otto, damals noch ohne "Jürgen", sein Mäzenatentum auf. Erst in Dresden kam die Liebe zur schönsten Nebensache der Welt wieder über den 52-Jährigen. Mit ihm, dem millionenschweren Unternehmer, tritt Mitte vergangenen Jahres ein neuer, schwergewichtiger Mitspieler auf die umkämpfte Dynamo-Bühne.


Umkämpfte Bühne


Ziegenbalg ist als Schuldiger am Schlamassel um die Klubfinanzen ausgemacht. Der Radeberger soll gehen. An seine Stelle soll Walter Hoff, Ottos Busenund Geschäftsfreund, treten. Aber obgleich Hoff, ein langhaariger Playboytyp, als Morgengabe für den Fall seiner Wahl einen auf anderthalb Millionen dotierten Otto-Scheck vorweisen kann, fällt der Ludwigsburger Präsidentenimport bei den Sachsen durch. Der geschickte Taktierer Ziegenbalg, ganz auf seinen Ost-Bonus setzend, bleibt Chef im Verein, in dem die wahre Macht allerdings längst Sorad-Chef Rebmann in Händen hält.


Burmester und der aus Süddeutschland stammende Georg Schauz rücken nunmehr fest ins Präsidium. Unter diesem Trio wird der Verein, der nach dem Versuch, die Sorad-Verträge einseitig zu kündigen, "nahezu handlungsunfähig" ist, mehrmals vom ehemals für Sorad tätigen Wirtschaftsprüfer Walter Knief durchleuchtet. Dessen Fazit: "Der Stand des Vereines ist in höchstem Maße gefährdet, der Konkurs droht." Im Streit zwischen Ziegenbalg, dem "Totengräber des Vereins" (Freundeskreis), und Sorad-Chef Rebmann schlägt sich Otto im Dezember dennoch überraschend auf die Seite des Dynamo-Präsidenten. 

Das allerdings nur, um die Brocken acht Tage später mit dem Hinweis, Dynamo sei "ein Faß ohne Boden", wieder hinzuschmeißen. Erst solle Ziegenbalg gehen, dann wolle er, Otto, auch wieder Geld lockermachen. Ziegenbalg weigert sich. Nun überschlagen sich die Ereignisse. Rebmann droht mit Schadenersatzforderungen in Höhe von 15 Millionen und Pfändung der Vereinskasse. Otto winkt mit Millionen, rückt aber keinen Pfennig heraus. Erst ein neues Gutachten von Knief gibt den Ausschlag - Silvester tritt der gestresste Ziegenbalg, der sich "nach wie vor unschuldig" fühlt und verschlungenen Verschwörungstheorien nachhängt, ab. Burmester übernimmt kommissarisch, aber, wie er sagt "ohne weitere Ambitionen." Eine Provinzposse.


Da Geschichte sich, wenn überhaupt, dann als Farce wiederholt, findet der vorerst letzte Akt im Dresdner Drunter und Drüber passenderweise im großen Saal des Hygienemuseum statt. Nach dem Rücktritt von Wolf-Rüdiger Ziegenbalg hat sich eine neue Koalition gebildet: Die Otto-Gruppe geht jetzt mit dem Rumpfpräsidium Burmester zusammen.


Der "Freundeskreis", die ehemalige "offizielle" Opposition im Verein, hat sich nach Herzattacken und Kreislaufschwächen ihrer Führungspersönlichkeiten aufgelöst. Neugegründet dagegen hat sich das "Rettungsgremium", dessen Mitglieder - darunter Opernsänger Gunter Emmerlich, Sachsens Innenminister Eggert und andere Prominente - eine "sächsische Lösung" für Dynamo suchen, aber lange nichts als kämpferische Parolen vorzubringen imstande sind.


Die Gegenseite


Dagegen ist die Aufgabenverteilung auf der Gegenseite klar: Autohändler Burmester und sein Copilot Georg Schauz, ein Elan versprühender Endzwanziger, der mit Vorliebe bayrische Trachtenjakketts trägt, bereiten die Wahlversammlung vor, auf der Rolf-Jürgen Otto zum neuen Dynamo-Präsidenten gekürt werden soll. Otto revanciert sich dafür mit zwei Plätzen in seiner "Regierungsmannschaft." Weitere Rollen sind mit Dynamo; Anwalt Christoph Schickhardt, wie Hoff aus Ludwigsburg stammend und dem Otto/Hoff-Imperium verbunden, und Peter Knief, dem Hamburger Wirtschaftsprüfer, besetzt. Schickhardt ist von der Regie als Veranstaltungsleiter vorgesehen, Knief hält den Bericht des unabhängigen Wirtschaftsprüfers, in dem gesagt wird, daß es schlechter als schlecht steht und „der Verein Montag morgen zum Konkursrichter gehen muß, wenn die Mitglieder nicht jemanden wählen, der für die dringendsten Verbindlichkeiten in Höhe von rund fünf Millionen Mark geradesteht."

Für's Geradestehen kommt nurmehr einer in Frage: Otto, von seinem Clan umlagert, hockt pausbäckig in der ersten Reihe und beobachtet zufrieden, wie Burmester, Schickhardt und Knief für ihn Wahlkampf machen. Für Burmester ist er der „einzige akzeptable Kandidat, der das mitbringt, was wir brauchen: Geld und Abmachungen mit Herrn Rebmann, um die Knebelverträge zu lösen oder nachzubessern." Burmester warnt die knapp 600 Dynamo-Mitglieder im Saal: „Jeder, der sich hier heute abend versündigt, macht sich zum Totengräber des Klubs."


Totengräber des Klubs


Knief bekräftigt die Worte des Interimspräsidenten: „Heute ist nicht der Tag, über die Vergangenheit zu diskutieren, heute ist der Tag, über die Zukunft zu entscheiden." Und Zukunft, soviel hat unterdessen auch der letzte im Saal begriffen, heißt bei Dynamo Otto.

Die alten Männer auf der Seitentribüne aber zürnen. „Sturmreif schießen nenne ich sowas", nörgelt der schmerbäuchige Ex-Halblinke Rolf Hecker verachtungsvoll. Man könne seinetwegen auch „Erpressung" dazu sagen. Falk Reinhardt, Dynamo-Nachwuchsschiedsrichter und „Mitglied seit Anfang der Siebziger", ärgert sich, „daß nur Hanseaten, Hessen und Bayern da unten 'rumsitzen, als Sachse verstehst Du ja kein Wort von derem Gequatsche!"


Die Sachsen sind eigen


Ausgerechnet da sind die Sachsen eigen: Einerseits tragen sie ihrem Premier Biedenkopf ausdauernd nach, daß er „sich noch nie auf dem Platz hat blicken lassen" (Reinhard), andererseits ist ihnen Otto, der auch nach zwei Jahren Ostengagement noch im Hotel lebende Hesse mit dem zum „Seh" umgeschliffenen „S" und der Liebe zu Dynamo, auch bloß suspekt. Daß der letzte Ostverein künftig von „zwielichtigen Zugereisten" (Fankneipier Wolfgang Bellmann) geführt werden könnte, berührt die sensibelsten Empfindlichkeiten der Alteingesessenen. Darauf angesprochen, fallen sie ins Philosophieren. Dynamo, das sei ein Stück sächsische Lebensart. 


Ein Glaube. Eine Lebenseinstellung. "Eine Religion. Hekker und seine Freunde sitzen seit 30 Jahren jedes Wochenende auf der Tribüne - Einmischung „von Leud'n, die uns goar ni' verstehn gönn, gönn mir hier goar ni' gebrauch'n", schimpfen sie. Otto hat zwar die Millionen und dazu die Stirn, sich in einer von Wutanfällen unterbrochenen Rede als „verliebt in den hiesigen Menschenschlag" und als „einer von euch Sachsen" zu bezeichnen."

Aber die wachsamen Dynamo-Fans hören doch nur heraus, „dass da eener unseren Verein koofen will, dem jedes Mittel recht ist." Das wird klar, als sich Ex-Präsident Ziegenbalg zu Wort meldet. Er, so der Ex-Präsident, wolle zu den Ursachen der jetzigen Situation sprechen, „um die künftige Vereinsführung zu warnen". Unruhe im Präsidium. Schickhardt, dem jede Abweichung von der Tagungsregie körperliche Schmerzen zu bereiten scheint, lehnt ab.

Ziegenbalgs Antrag wird nicht abgestimmt. Ziegenbalg, beantragt Otto-Intimus Hoff, solle nach erfolgter Wahl unter Punkt 10/Sonstiges, zu Wort kommen. Darüber läßt Schickhardt eilig abstimmen. Hoffs Antrag wird abgelehnt. Im Saal wird vielstimmig gebrüllt: ,;Antrag! Antrag! Ziegenbalg soll reden!" Die Szenerie erinnert an die letzten Tage im Parlament der verendenden DDR. Schickhardt schafft es irgendwie, diesmal nicht abstimmen zu lassen. „Fünf Minuten gebe ich Ihnen, Herr Ziegenbalg", sagt er stattdessen. Der Expräsidenten jedoch sieht sich außerstande „drei Jahre Präsidentenzeit in fünf Minuten abzuhandeln."

Das wiederum tut Schickhardt leid. Aufatmen im Präsidium. Ziegenbalg geht. Tumult im Saal. Eine Traube von Mitgliedern folgt dem Ex-Präsidenten. Nur links vorn wird die Rückkehr zur Tagesordnung beklatscht. „Da sitzt die KKH", klärt Theo Stahlschmid, ein nach der Wende aus Stuttgart zurückgekehrter gebürtiger Sachse, die zahlreichen Journalisten beim Bier in der nun restlos überfüllten Pausenbar bereitwillig auf, „weil ich es unmöglich finde, wie hier 500 Ostler von fünf Westlern über den Tisch gezogen werden."

350 neue Mitglieder hat das Präsidium Dynamo Dresdens seit dem Rücktritt von Ziegenbalg aufgenommen - darunter auch „fast die komplette KKH-Belegschaft", wie Ziegenbalg weiß.

Schwelende Liebe entdeckt


Nicht um Fußball geht es hier, sondern um Macht und um Pfründe. Georg Schauz, Ottos Kandidat für den Posten des Schatzmeisters, kommt von der KKH. Das ist nicht alles: Auch ein Gutteil von Ottos 600 sächsischen Bauarbeitern soll in den letzten Wochen vor der Entscheidungsschlacht ihre schwelende Liebe zu Dynamo entdeckt und einen Antrag auf Mitgliedschaft gestellt haben. Und: Peter Vogt, von Schickhardt in die Wahlkommission berufen, ist Verkäufer im Autohaus Burmester. Und: Hans-Jürgen Behr, der „Alibi-Sachse" (Freundeskreis-Anwalt von Kummer) in Ottos Regierungsmannschaft, ist Bürgermeister ausgerechnet in Weißig, dem Ort, in dem Bau-,
löwe Otto die Hälfte des Grund und Bodens gekauft hat, um Millionen zu investieren.

Nein, Rolf-Jürgen Otto hat nichts dem Zufall überlassen. „Was hier läuft, ist eine Farce", winkt Hansi Kreische, einer aus der Dynamo-Traummannschaft der siebziger Jahre, der heute die Dynamo-Amateure trainiert, beim Pausenbier im Foyer mutlos ab. Kreische, wie Ex-Stürmerkollege Ralf Minge stiller Unterstützer der vom Rettungskomitee mit Hilfe der Stadt bis zur letzten Sekunde betriebenen „sächsischen Lösung", sieht enttäuscht aus, weil er sich „unter Demokratie doch etwas anderes vorgestellt"' hatte als daß „die Leute mit Geld und Winkeladvokatenmethoden gezwungen werden, irgendwas zu tun, was ihnen eigentlich gegen den Strich geht." 


Aber „eins wirst Du noch sehen, Hansi", fällt ihm die 72jährige Dynamo-Trainerlegende Walter Fritzsch da vom Nachbartisch tröstend ins Wort, „solche wie der Otto kommen und gehen, Dynamo Dresden aber bleibt."

Sonntag, 14. Januar 2018

Eisenbahngeschichte: Pelzerzug auf dem Abstellgleis


Morgens drängten sich die Menschen auf dem rechten Bahnsteig. Links fuhr nur eine S-Bahn ab, die kaum besetzt Kurs auf Nietleben nahm. Rechts aber donnerte um kurz nach sechs der Personenzug Richtung Buna-Werk herein. Halle-Neustadt, Tunnelbahnhof, mitten in der Woche, mitten in den 80er Jahren. Ein paar hundert letzte Züge an der F6 oder Karo, während die Bremsen kreischen.


Ein paar hundert erste Schritte zur Waggontür, ein paar hundert kurze gemurmelte Grüße im Wagen. Und schon im Anfahren sind ein paar hundert Augen geschlossen; zehn, fünfzehn Minuten lang, ehe die Bahn ihre Menschenlast am Hintereingang des VEB Chemische Werke Buna wieder ausspukt. Die vom Volksmund „Pelzerzüge“ getauften Pendelbahnen zwischen der Chemiearbeiterstadt Halle-Neustadt und den Fabriken in Buna und Leuna ratterten im Schichtrhythmus hin- und zurück.

Wer in die ersten Züge stieg, war Wechselschichter in Produktionsanlagen wie Karbid oder Aldehyd. In dem danach folgten Büro-Angestellte und das Instandhaltungspersonal. Und im so genannten Mutti-Zug schließlich saßen die, die ihren Nachwuchs vor der Arbeit erst noch hatten in den Kindergarten bringen müssen. Rolf Beilschmidt ist die Strecke zwölf Jahre lang gefahren. „Jeden Morgen hin, jeden Abend zurück“, erinnert er sich, „und immer im selben Wagen, immer mit denselben Kollegen.“

Beilschmidt saß im dritten Waggon, zweite Sitzgruppe, rechte Seite, und er wusste auf dem 200 Meter langen Tunnelbahnsteig genau, wo er stehen musste, damit die Waggontür sich exakt vor ihm öffnete. Schon auf dem Weg zum Bahnhof traf der Schlosser stets einen Kollegen, auf dem Bahnsteig dann einen weiteren. Der vierte Mann stieß eine Minute später beim Halt am Neustädter Kinderdorf dazu. Da waren die Skatkarten meist schon ausgeteilt. „Wir haben bis Buna gespielt“, erzählt Rolf Beilschmidt, „und wenn die Runde nicht ganz fertig wurde, ging es nachmittags auf der Rückfahrt weiter.“

Die Zuggesellschaften auf der Pelzerlinie waren spätestens Mitte der 80er zu einem mikroskopischen Spiegelbild der DDR-Gesellschaft geworden. Die Räder drehten sich noch. Doch es bewegte sich nichts mehr.

Morgens roch es muffig, nach kaltem Qualm und billiger Seife. Die Heizungen in den schmutzigen Waggons waren immer bis zum Anschlag aufgedreht, die Fensterplätze sämtlichst wie mit unsichtbaren Namensschildern versehen. Graue Gesichter hinter ungeputzten Scheiben, auf denen in Schläfenhöhe Fettflecke von den Köpfen glänzten, die sich im so genannten Schicht-Schlaf dagegengekuschelt hatten. Abteilungsleiter und Funktionär, Lehrling und Ingenieur, Monteur und Sekretärin – bei jedem Wetter duckten sich alle vor dem Sturm, der durch den finsteren Tunnelbahnhof blies.

Zwanzig Minuten später dann schwankte die Brücke, die in Buna über die Gleise zum Werktor führt, unter dem Gleichschritt der im Morgengrauen herantappernden Massen. Pelzerzüge hatten die Gemütlichkeit von Mitropa-Toiletten. Die Farbe blätterte, der Boden klebte. Am Nachmittag kreisten unter Skatbrüdern und Werkstattkollegen zärtlich „Rohre“ genannte Flaschen mit Korn und Braunem. Die Skatkarten klatschten auf Aktentaschen, „Karo“ und „Neue Juwel“ qualmten. Fand ein echter Pelzer seinen persönlichen, über Jahre eingesessenen Platz im Zug nach dem Einsteigen besetzt, reichte ein Kopfnicken, um ahnungslose Schüler, die in ihren „Unterrichtstagen in der Produktion“ zum ersten Mal hineinschnupperten in die DDR-Volkswirtschaft, zurück in den Gang zu treiben.

Der Tod der Zweckbahn, für die selbst eingeschworene Eisenbahn-Romantiker kaum Gefühle zu entwickeln vermochten, kam in Raten. Mit der Wende stiegen zahllose Passagiere auf das eigene Auto um. Mit dem Schrumpfen der Werke mussten noch mehr gar nicht mehr nach Buna fahren. Der längste Regionalbahnsteig der Republik leerte sich. Die Wände des düsteren Tunnels füllten sich mit greller Grafitti.

Der Neustädter Bahnhof, ursprünglich als architektonisches Achtungszeichen aus Aluminium und Glas entworfen und mitten in das nie beendete Zentrum der ersten sozialistischen Stadt gestellt, verrümpelte. Das „Schiene“ gerufene Lokal, das nach Einfahrt der Bunazüge einst täglich zur dritten Schicht geladen hatte, machte zu. Später scheiterte ein halbherziger Versuch, das Gebäude zur Kulturinsel zu machen. Das Haus wurde ausgeräumt, abgesperrt und zugenagelt. Inzwischen ist vom belebtesten Bahnsteig der größten Stadt im Land nur eine leere Endzeit-Kulisse geblieben.

Ein paar Trinker lagern schon vormittags verloren am Eingang, eine Handvoll Menschen wartet im Tunnel auf die S-Bahn. Die Bahnhofstreppe hinaus ins Freie, die der Maler Uwe Pfeifer Anfang der 80er als Tür zum Himmel porträtierte, ist videoüberwacht. Dennoch hat kein Fenster mehr eine Scheibe, der Blumenladen ist verrammelt, der halbe Bahnsteig hinter einer Blechwand versteckt.

Die Zeiger der Bahnhofsuhr haben um 17 Minuten vor zwölf für immer Halt gemacht.

Donnerstag, 4. Januar 2018

Digedags: Familie Duck der DDR

Hannes Hegens Comiczeitschrift "Mosaik" war zwei Jahrzehnte lang die realsozialistische Antwort auf Mickey Mouse - nur noch viel erfolgreicher. Nach dem plötzlichen Ende der Heftserie übernahmen die Abrafaxe, doch für echte Fans blieben die immer bloße Kopie.

Unvermittelt pflegten sie aufzutauchen, unangekündigt sowieso. Der Schuldirektor,- im Schlepptau ein, zwei Lehrer. "Ranzenkontrolle", blökte einer durch den Raum. Die Deutschstunde jedenfalls war gelaufen. Wenn nicht sogar der ganze Tag. Wurden die gnadenlosen Suchtrupps nämlich fündig, brach das Donnerwetter über den betreffenden Schüler herein. "Schundund Schmutzliteratur" in der Schultasche verwahrt zu haben, zog regelmäßig regelrechte Verhöre nach sich: Woher stammt die Konterbande? An wen wurde das inkriminierte Groschenheft bereits verliehen? Wer besitzt ähnliches "gedrucktes Gift" (NBI)? Wo sind Mickey Mouse, Lucky Luke, Donald Duck und die anderen versteckt? Und warum gab sich der Ertappte mit solchem "geistigen Müll" ab?


Der verderbliche Einfluss, den "westlich-dekadente" Bildgeschichten auf den kindlichen Charakter haben, war in der DDR unumstritten. Dagobert Duck galt als die Inkarnation des bösen, geldgierigen Kapitalisten, Lucky Luke als indianermordender Cowboy. Der Kalte Krieg zwischen Ost und West tobte und die fröhliche Unverkrampftheit der bunten Heftchen konnte so nur eine ganz besonders perfide Masche sein, um den Sozialismus, von dem man felsenfest meinte, er "erstarke" unablässig, zu zerschmettern. 
Walt Disney war ein Handlanger beim Angriff des Klassenfeindes auf die Jugend, die doch eben im Begriff war, die Zukunft zu bauen.


Doch alle Kämpfe an der ideologischen Front, alle Ranzenkontrollen nebst harter Bestrafung erwischter Delinquenten nützen nichts. Die Seuche Comics, ausgebrochen in den USA der vierziger Jahre und von den siegreichen amerikanischen GIs nach Deutschland verschleppt, hatte zum Ärger der SED-Führung auch die halstuchbeschlipste DDR-Jugend angesteckt. 



Irgendwie kam Johannes Hegenbarth da genau richtig. Der Ostberliner Grafiker und Zeichner hatte schon seit Anfang der Fünfziger die Idee einer eigenen DDR-Comiczeitschrift, denn, so meinte er im Unterschied zur damals herrschenden Schulmeinung nicht nur im Osten Deutschlands, nicht die Form der Comics an sich ist schlecht - die Inhalte sind entscheidend. Was also lag näher, als die Comicsform mit dem Erziehungsanspruch des sozialistischen Bildungswesens zu verbinden? Im Dezember 1955 war es soweit. Alle Widerstände glücklich überwunden, die erste Nummer gedruckt. Johannes Hegenbarth, der sich als Herausgeber amerikanisch verknappt "Hannes Hegen" nannte, präsentierte im FDJ-Verlag "Junge Welt" das "Mosaik". Die Folge 1 - "Auf der Jagd nach dem Golde" genannt - war der erste einer einzigartigen Serie von DDR-Comics.


Dig, Dag und Digedag hießen Hegens knollennasige Helden, die in den nachfolgenden 21 Jahren und insgesamt 229 Heftnummern Abenteuer auf Mars, Mond und Erde, im Amerika der Gründerzeit, im Mittelalter, und Gott weiß noch wo erleben sollten. Anfangs von misstrauischen Beobachtern unter Generalverdacht der Jugendverblödung gestellt, gelang es den Digedags genannten Dreikäsehochs mit ihren einfachen und "sauberen" moralischen Ansichten und Ansprüchen schnell zu wahren Kultfiguren zu werden.


Obgleich die Druckauflage seit Anfang der sechziger Jahre beständig - wenn auch stets nur "im Rahmen der ökonomischen Möglichkeiten" - gestiegen war, reichte das Angebot hinten und vorn nicht, um die Nachfrage auch nur annähernd zu befriedigen. Das "Mosaik", sechzig Pfennig teuer und zu seinen Hochzeiten mehr als eine Million Mal im Monat verkauft, avancierte zur gefragtesten Bückware an den Zeitungskiosken zwischen Ahrenshoop und Zittau. Im Abonnement hatte Hegens bahnbrechende Neuerfindung des- Comic als sogenannte Bilderzeitschrift eigentlich von Anfang an eines dieser Sternchen, die besagten: "Neu-Abo nur möglich, wenn Alt-Abonnent stirbt."


Trotz oder gerade wegen dieser, alle Parteitagsbeschlüsse und Republikgeburtstagsverpflichtungen hartnäckig überlebenden Erschwernisse wuchsen glatte drei Generationen von DDR-Kindern mit Dig, Dag, Digedag; dem gutmütig-doofen Ritter Runkel, mit dem lächerlichen Bösewicht Coffins und all den anderen '. freundlichen, skurrilen Gestalten auf. Reisten die von ihren Fans liebevoll "Digis" genannten Gnome in die Zukunft, in der ihnen von glücklichen sozialistischen Menschen nur so wimmelnde gigantische Flughäfen und natürlich gemeinschaftliche genutzte Elektro-Autos begegneten, reisten zumindest alle DDR-Bürger zwischen acht und sechzehn mit. Ging der Ausflug in die ferne Vergangenheit der Kreuzzüge, wartete man nicht weniger gespannt auf die' nächste Folge.


Wie das Abenteuer ausgehen würden, war natürlich immer vorher klar. Die  stets adenauergesichtigen Knurrgestalten des Bösen durften kämpfen. Aber am Ende gelang es den Digedags doch immer,  mit List und Klugheit und durch die Hilfe eines ganzen Haufens sich stets wie von Wunderhand um sie versammelnder guter Menschen zu obsiegen.


Im Unterschied zu "kapitalistischen Comics" hatte Hegens "sozialistische Bilderzeitschrift" vor allem in den ersten Jahren erklärtermaßen eine erzieherische Funktion neben der rein unterhaltenden. Abenteuer, Flüge, ferne Welten und fremde Gestade dienten vorzugshalber als Kulisse für naturwissenschaftliche Kurzvorträge eines Koerzählers namens "Lexi , der es sich bei passender Gelegenheit auch nicht nehmen ließ, vorsichtige Agitation mit chemisch-physikalischen Neuigkeiten zu verbinden. 


Mit den Jahren aber änderte sich das - "Lexi" verschwand ohne Spuren zu hinterlassen.und aus dem "technic strip" wurde mehr und mehr eine Spielwiese des Allgemeinmenschlichen. Ob im alten Rom oder im Wilden Westen, ob im Orient oder auf dem Mond, die Digedags - irgendwie immer unschwer zu erkennen als die DDR-Bürger, die sie ja in Wirklichkeit auch waren - hatten nur noch eine Botschaft: Wo die Bösen regieren, muss das Gute sich einmischen. Dann geht es um das große Ganze, und dann hat der eigene, kleine, persönliche Vorteil nichts zu suchen.


Die Parallelen zur Wirklichkeit ist so unübersehbar wie beabsichtigt: Die Digedags kämpften immer wieder die Kämpfe der Realität nach, siegten als putzige Karikaturen ihrer verhinderten Herren; nicht zuletzt jedoch erlebten sie dabei stellvertretend die große, weite Welt, die ihren Lesern verschlossen blieb. Und ihre Abenteuer begründeten zugleich bis Mitte der siebziger Jahre, warum zum Teufel das so sein muss. Den Garaus machte den drolligen kleinen Kerlen schließlich ein Streit zwischen ihrem Erfinder Hannes Hegen und dem Verlag Junge Welt im Jahr 1976, der mit dem Bruch zwischen beiden und der nachfolgenden Erfindung der "Abrafaxe" endete, die den Digedags zwar bis hin zu Charakteren, Gesten und Verhaltensweisen täuschend echt nachempfunden waren, deren Kultstatus jedoch nie erreichten.

Seit Anfang Dezember gibt es die Digedags in einer eigenen Dauerausstellung im Zeitgeschichtlichen Forum Leipzig zu erleben.

Montag, 18. Dezember 2017

Flake Lorenz von Rammstein: Auf der Rückseite des Ruhms

Er ist der ewig Unbeholfene in der Besetzung von Deutschlands erfolgreichster Rockband, ein schmaler, linkischer Riese mit schiefem Lächeln, der immer den Eindruck macht, als habe er bis heute nicht verstanden, was ausgerechnet ihn zu einem Weltstar machen konnte.

Aber Christian Lorenz, genannt Flake, ist einer, das zeigt schon die Völkerwanderung, die der kleine, recht abgelegene Ort Brachwitz erlebt, nur weil der 51-jährige Rammstein-Keyboarder dort aus seinem zweiten Buch „Heute hat die Welt Geburtstag“ liest. Aus Zwickau, Berlin und Magdeburg sind die Fans gekommen, mehr als 300 füllen den Saal des Restaurants „Saalekiez“, dessen Betreiber Christian Hager seit Jahren mit dem Namensvetter aus dem Prenzlauer Berg befreundet ist.

Auf der Bühne, anfangs stehend und später zurückgelehnt in einen riesigen Sessel, ist das Gegenmodell eines Rockstars. In seinen schwarzhumorigen Erzählungen von der Rückseite des großen Rockruhmes bleibt von Glamour und Glitzer des Showbusiness nichts übrig. „Auf Tournee sein heißt vor allem Warten“, beschreibt Flake, der seine Lesung nur gelegentlich mit vorgelesenen Buchkapiteln bestreitet. Die restliche Zeit erzählt er aus dem einsamen und aberwitzigen Leben in der Blase der Berühmtheit. Es geht um stinkende Bühnenklamotten, abenteuerliche Missgeschicke in Konzerten und um all die Erlebnisse, die nur der macht, der im innersten Kreis einer der größten Rockbands aller Zeiten lebt.

Und sich bis heute fragt, wie es soweit kommen konnte. Lorenz’ Grundhaltung ist die des Clowns, der alles hinterfragt. Die Antworten schießt er zugespitzt auf sein Publikum ab, die Gesichtszüge wie vereist. Die Fans, die dichtgedrängt bis hinter zum Tresen sitzen, kommen minutenlang nicht mehr aus dem Lachen heraus, während Flake ungerührt von seiner Verhaftung in den USA erzählt oder schildert, wie seine Band 46 000 Mark für Getränke aus der Minibar bezahlen sollte. So sieht es also aus, wenn die Scheinwerfer verloschen sind und die Band zum Bus stiefelt! Und so, wenn einer von Rammstein im kleinen Kreis Autogramme gibt!

Die Schlange im „Saalekiez“ reicht bis zur Eingangstür.


Samstag, 14. Oktober 2017

Ex-Stasi-Vizechef Werner Großmann: Keinen Millimeter zurückweichen


Ex-Stasi-Vizechef Werner Großmann beharrt auf seiner Sicht der Dinge. Denn am Ende geht es darum, Geschichte zu schreiben.


Geschehen ist sie schon längst, unverrückbar stehen die Ereignisse in der Historie. Aber wie sie zu deuten sind, das wird gerade festgelegt, von heute aus für immer, das weiß auch Werner Großmann, bis 1989 der Vize-Chef des Ministeriums für Staatssicherheit der DDR. Und aus genau dem Grund lässt der 88-Jährige auch nicht nach: Mit "Der Überzeugungstäter" (edition ost) hat der einstige Generaloberst gerade noch einmal ein Buch vorgelegt, in dem er seine Sicht auf die Staatssicherheit vor dem Hintergrund seiner Biografie schildert.

Nicht der erste Versuch des aus der Nähe von Pirna stammenden Sohnes eines Zimmermanns, aber vielleicht der letzte. Großmann gehört wie sein Vorgänger als Chef der Auslandsspionage Markus Wolf, wie Günter Schabowski und der letzte NVA-Vize Fritz Streletz zur Zwischengeneration der DDR-Führungsriege. Im Dritten Reich zur Schule gegangen, landet Großmann noch beim Volkssturm, von dem er umgehend abhaut, als sich die Gelegenheit ergibt. Großmanns sind eine Handwerkerfamilie, aber als der Vater aus der Gefangenschaft zurückkehrt, schließt er sich der KPD an. Am selben Tag tritt auch Sohn Werner bei, er ist gerade 17, aber auf der Suche nach einem Neuanfang für Deutschland und für sich selbst. Über die SED-Jugendorganisation FDJ landet er in einer Funktionärslaufbahn, die Führung entdeckt ihn als vielversprechenden „Kader“ und wählt ihn schließlich aus, die im Aufbau befindlichen „bewaffneten Organe“ zu verstärken.

Für Großmann, bis Oktober 1990 einer der ganz großen Unbekannten des ostdeutschen Geheimdienstes, ein Lebensweg, den er bis heute mit aller Überzeugung vertritt. Bei der FDJ verkehrten nicht nur Gleichaltrige, sondern auch Gleichgesinnte, begründet er seine Begeisterung für den Aufbruch in eine neue Zeit. Bauingenieur oder Lehrer habe er werden wollen, doch als dann jemand aus der Zentrale in Berlin auftaucht und ihn für eine nicht näher bezeichnete Schule werben will, lockt die Hauptstadt.

Großmann sagt Ja und ist auf einmal Mitarbeiter des „Außenpolitischen Nachrichtendienstes“ wie die spätere Hauptverwaltung Aufklärung (HVA) anfangs noch heißt. Aus der Sicht des Mannes, der der letzte Chef des vor allem in den 70er und 80er Jahren weltweit gefürchteten Spionagedienstes von Markus Wolf sein wird, ist das ein Job wie viele andere auch. Großmann, alten Fotos zufolge schon in seinen jungen Jahren ein fleischiger, robust wirkender Typ, hat nie etwas mitbekommen von illegalen Methoden, von der Erpressung von Zuträgern, von Machtkämpfen im Parteiapparat oder Mordplänen, die gegen Abtrünnige wie den MfS-Oberleutnant Werner Stiller oder den Fußballer Lutz Eigendorf geschmiedet worden sein sollen. „Gerüchte, mehr nicht“, sagt er. Es habe weder ein Mordkommando aus Offizieren gegeben, noch Pläne, den „Verräter“ Stiller mit Gewalt zurück in die DDR zu holen.

Überhaupt stellt Werner Großmann das MfS als ziemlich normale Behörde dar, etwas neurotisch, weil unentwegt in Angst, unterwandert zu werden. Aber selbst die Auslandsabenteuer seiner HVA erklärt der gebürtige Sachse mit der großen Systemauseinandersetzung. Die andere Seite sei nie besser gewesen, man selbst aber immer in besserer Absicht. Warum sich also Asche aufs Haupt streuen? Es geht schließlich darum Geschichte zu schreiben.