Samstag, 17. Juni 2017

17. Juni 1953: Der Tag X in Halle

Szenen aus Halle, die der Schriftsteller Titus Müller in seinem Buch über den "Tag X" fast dokumentarisch beschreibt.Fotos: Archiv Zeit-Geschichte(n), unten rechts: Albert Ammer, 

Der Leipziger Schriftsteller Titus Müller führt mit seinem spannenden Geschichtsdrama „Tag X“ in die Zeit des Arbeiteraufstandes vom Sommer 1953. Im Mittelpunkt seines Buches steht das, was damals in Halle geschah.


Auf einmal stehen alle Räder im Waggonbau Ammendorf still. Die Arbeiter sammeln sich auf dem Hof und brüllen den Parteisekretär nieder, der sie zurück an die Werkbänke reden will. Dann marschieren sie Richtung Innenstadt, ohne Befehl und ohne Anführer. Immer neue Arbeitskollektive schließen sich an. Ein schweigsamer Strom, der mehr und mehr Menschen aus den umliegenden Betrieben ansaugt. Die Staatsmacht sieht es geschockt, unfähig zur Reaktion.

Ausnahmezustand im „Maschinenraum der DDR“, wie der Leipziger Schriftsteller Titus Müller den damaligen Bezirk Halle in seinem neuen Buch "Der Tag X"  nennt. In jenem Juni 1953 ist das Volk auf der Straße, die Einheitspartei verbarrikadiert sich. Als einige Demonstranten versuchen, die Stadtleitung der SED zu stürmen, fallen Schüsse. Später am Tag wird Blut fließen, ehe sowjetische Panzer rollen und den Aufstand rücksichtslos niederschlagen.

Doch es ist nicht nur die einzige große Rebellion der DDR-Bevölkerung gegen das System, die Titus Müller beschäftigt. Ihm geht es auch in seinem zwölften Roman wieder um ein Zeitbild, das Geschichte in mehreren Ebenen lebendig werden lässt. Wie zuletzt bei „Berlin Feuerland“, einer Geschichte vor dem Hintergrund der Märzunruhen des Jahres 1848, stellt der 39-Jährige seine erfundenen Figuren in echte historische Kulissen, in denen sie stellvertretend für ihre wirklichen Zeitgenossen agieren.

Der Waliser Ken Follett hat diese Methode der Geschichtsdramastisierung zuletzt mit der auch den 17. Juni berührenden „Jahrhundertsaga“ perfektioniert. Titus Müller hält die Perspektive mehr am Boden, er schildert in „Tag X“ nur ein Jahr. Es gelingt ihm aber ebenso gut wie dem britischen Auflagenmillionär, glaubhafte Charaktere auf die historische Bühne zu stellen.

Seine Hauptheldin hier ist die Schülerin Nelly, die sich in einem Land zurechtfinden muss, das nicht einfach zu verstehen ist. Jahre zuvor haben sowjetische Soldaten ihren Vater mit nach Russland genommen, wo er für Stalin forschen muss. Nelly hat Fragen dazu, die ihr niemand beantworten will. So landet sie in der Jungen Gemeinde - und das in einer Zeit, in der die DDR gegen die Kirchen mobil macht.

Während in Moskau Stalin stirbt und das Machtgefüge im Sozialismus ins Rutschen gerät, wird Nelly zur Staatsfeindin erklärt. Sie fliegt von der Schule, verliebt sich in den Uhrmacher Wolf, der wiederum versucht, ihr über seinen Funktionärsvater zu helfen und dabei in die Fänge der Stasi gerät. In Halle hat die alleinerziehende Arbeiterin Lotte ähnliche Probleme - der Alltag ist hart, die Zukunft düster. Hoffnung könnte nur noch eine Veränderung von allem geben.

Parallel blendet Müller nach Bonn, wo ein Sowjet-Spion für seinen ambitionierten Chef Lawrenti Beria ein Tauschgeschäft über die DDR anbahnt, und nach Moskau, wo Funktionäre um das Erbe Stalins rangeln. In Berlin wird derweil eine konsternierte SED-Führung zwischen dem eigenen Volk und den Weltmacht-Interessen der Schutzmacht im Osten zerrieben.

Titus Müllers Geschichte ist ein Komprimat von vielem, was damals gewesen sein könnte, und anderem, das wirklich war. Adenauer tritt auf, Globke, Churchill und Chruschtschow intrigieren, Ulbricht bettelt, und der von seiner guten Sache überzeugte Minister Fritz Selbmann tritt den Demonstranten ungeschützt gegenüber. In echt wird Ulbricht ihn später wegen „abweichender Meinungen“ kaltstellen lassen.

Müllers temporeiches, spannendes Spiel mit der Wirklichkeit bleibt nah an der tragischen Wahrheit. Im richtigen Leben hieß der vor dem Roten Ochsen erschossene Student nicht Marc König, sondern Gerhard Schmidt (hier die wahre Geschichte), aber er war wirklich 27 und nur zufällig in die versuchte Stürmung des Gefängnisses geraten. Auch dass die DDR-Führung seinen Tod später instrumentalisierte, um mit einem Opfer „westdeutscher Provokateure“ von der eigenen Verantwortung abzulenken, ist wahr. Ebenso wie der Versuch der SED-Spitze, die erhöhten Arbeitsnormen nach den ersten Protesten zurückzunehmen.

Doch der Zug der Zeit war da schon auf den Schienen, die Machtprobe unausweichlich. Am 17. Juni rollen die Panzer, am Abend wird das Kriegsrecht verhängt. Am 18. Juni ist Halle eine belagerte Stadt, die Proteste sind erstickt. Am 26. wird Beria in Moskau verhaftet, der Kampf um Deutschland ist beendet. Der Massenmörder, der sich als Reformer sah, wird im Dezember als britischer Spion verurteilt und sofort erschossen. Zurück bleiben Lotte, Nelly und Wolf, die nichts davon verstehen und noch viel DDR vor sich haben.

Titus Müller: „Tag X“, Blessing,
400 Seiten, 19,99 Euro

Freitag, 16. Juni 2017

Roger Waters: Der Mann, der Pink Floyd bleibt


Fast ein Vierteljahrhundert nach seinem letzten Großwerk spielt Roger Waters auf "Is this the life we really want? noch einmal den großen Ball als großer, trauriger Bedenkenträger. Kein Zweifel: Waters ist immer noch und mehr denn je der alte zornige Mann, nur jetzt nicht mehr jung.

Mehr als drei Jahrzehnte ist sein Ausstieg bei Pink Floyd her, aber wenn Roger Waters ein Album macht, ist der 73-Jährige locker in der Lage, den Sound eines Floyd-Albums zu reanimieren. Auch auf "Is this the life we really want?", seinem erst dritten Werk seit der Trennung von Gilmour, Mason und Wright, ist das so. 

"When we were young" startet das Album mit Drums und Klavier, Waters gibt den Weisen vom Berge, der zurückschaut und verspricht, man könne heute noch mal den Sound von damals hören.

 Und wirklich. Die zwölf Songs, die Waters irgendwann in den 20 Jahren seit "Amused to Death" geschrieben hat, zitieren Pink Floyd in der Darkside-Phase, zeigen aber inhaltlich den zornigen alten Mann, der so ganz und gar nicht mit der Welt zufrieden ist, in der er und sein Publikum leben. 

Das macht aus dem geborenen Melancholiker, der inzwischen mit leicht gebrochener Stimme singt, noch keinen ekstatischen Rocker, aber in seinen Texten ist der Israel-Gegner, Trump-Hasser und Medienkritiker deutlich wie immer. "The Last Refugee" schildert das tragische Ende einer Flucht über das Mittelmeer und "Broken Bones" betrauert die vergebene Chance, nach dem II. Weltkrieg Freiheit statt des "american dream" zu wählen. 

Roger Waters´ Weltbild war schon immer kompliziert und einfach zugleich, seine Musik sanft wie enervierend, mehr Hörspiel als Songzyklus. "Life" ist genauso, bis zum finalen "Part of me died", das pathetisch Unversöhnlichkeit beschwört. Roger Waters wird sich nicht entschuldigen. Nie, singt er. Dazu klingt Musik, als stamme sie von der dunklen Seite des Mondes.

Samstag, 10. Juni 2017

Kap Verde: Geheimnisvolle Inseln

Nur sechs Stunden Flug entfernt liegt ein völlig unbekanntes Ganzjahres-Feriengebiet.

All der weiße Sand, die glattgeputzten Boards, die Schussfahrt von der Düne, sie sind Arbeit für Frank Hennicke. Der Morro d’Areia - Hügel des Sandes - ist die drittletzte Station der Inseltour, die der Chef von Boavista-Tours mit Besuchern fährt. Eine Wüste direkt am Meer, rechts endlos weite karibisch blaue Wellen, links die karge Steinlandschaft von Boa Vista, der drittgrößten der kapverdischen Inseln, die nur zwei Flugstunden hinter den Kanaren liegen. Die aber, niemand weiß das besser als Frank Hennicke, der Boa Vista vor sechs Jahren zu seiner neuen Heimat gemacht hat, „genausogut auf einem anderen Planeten liegen könnten“.

Endlose Strände


Denn trotz der überschaubaren Entfernung, der endlos langen, unberührten Strände und der abwechslungsreichen Natur auf den insgesamt neun bewohnten Inseln kennt kaum jemand die vor rund 570 Jahren entdeckte Inselgruppe 600 Kilometer vor der Küste des Senegal. Wie alle anderen Inseln des Archipels war auch Boa Vista vor der Entdeckung durch die Portugiesen vor rund 550 Jahren unbewohnt.

Erst der ein halbes Jahrhundert später beginnende Sklavenhandel machte aus den Inseln, die bis dahin nur von einer kleinen Militäreinheit eher symbolisch besetzt worden waren, einen wichtigen Vorposten des portugiesischen Weltreiches. Später aber verlor die Kolonialmacht das Interesse, die Briten trieben noch ein wenig Salzhandel und nutzen den Hafen von Mindelo auf São Vicente, um ihre stets kohlehungrigen Dampfschiffe zu versorgen. Dann versank Kap Verde, so benannt nach dem Cabo Verde (Grünes Kap) an der Westküste Afrikas, bei dem Schiffe nach Westen abbiegen mussten, um die Inseln zu finden, wieder in der Vergessenheit.

Dort leben die rund 550 000 Kap Verdianer heute noch. Erst Mitte der 90er eröffnete ein Italiener das erste Hotel auf Boa Vista, erst vor einem Jahrzehnt begann die sozialdemokratische Regierung, den Tourismus als größtes Wachstumsfeld der Zukunft zu entwickeln.

Eine unglückliche Entscheidung, von der heute noch zahlreiche Bauruinen künden. Wo kurz vor der weltweiten Finanzkrise riesige Hotelkomplexe und Appartmentsiedlungen aus dem Boden schossen, stemmen sich heute kahle Betongerippe in den Wind. Vielen Investoren ist das Geld ausgegangen, klamme Hotelgruppen haben ihre Pläne wegen des Zusammenbruchs der Finanzmärkte ändern müssen. Der erhoffte Aufschwung des Tourismus wurde um eine Jahrzehnt zurückgeworfen.
Was der Atmosphäre auf Boa Vista heute gut tut. Außer einem großen Hotel, das an vergleichbare Mega-Anlagen in der Türkei oder Tunesien erinnert, verteilen sich Urlauber in ein paar wenige eher familiäre Häuser wie den immer noch vom italienischen Gründer betriebenen Marine Club Beach Resort nahe der Inselhauptstadt Sal Rei.


Infrastruktur fehlt


Eine Situation, die Auswanderer Frank Hennicke wohltuend findet, auch wenn er weiß, dass mit jedem zusätzlichen Touristen zusätzliches Geld in das Land strömt. Kap Verde rangiert in der Uno-Liste der ärmsten Länder derzeit auf Platz 122 von 187, direkt zwischen dem Irak und Marokko. Es fehlt an medizinischer Versorgung für die Einheimischen, manche Orte haben nur stundenweise Strom, Wasser muss in viele Dörfer per Wasserwagen gebracht werden. 90 Prozent aller Lebensmittel, aus denen zahlreiche Bars und Restaurants typisch kreolische Greichte zaubern, werden importiert, der Löwenanteil des Bruttoinlandsproduktes stammt aus den Überweisungen der Kap Verdianer, die im Ausland leben und arbeiten. „So lange die Infrastruktur nicht da ist, reicht es nicht, einfach mehr Bettenburgen zu bauen.“

Der Flughafen von Boa Vista etwa gleicht derzeit noch einem niedlichen Kiosk mit Landebahn, das Dach der Empfangshalle ist komplett offen. Warum auch nicht, es regnet ja ohnehin nie auf dieser Insel, die zwölf Monate im Jahr Sonne, Temperaturen um die 25 Grad, immer aber auch leichten bis mäßigen Wind vom Meer her haben. Das Rätsel, warum ganz Boa Vista dennoch nur drei Windkraftanlagen besitzt und keinen Solarpark, löst sich mit Blick auf die derzeitige Energieversorgung: Vor Jahren setzte die Regierung auf Dieselgeneratoren und gab den Erbauern der Anlagen eine Abnahmegarantie für den Strom. Der Bau von Windrädern ist auf Kap Verde deshalb dreimal teurer als in Deutschland, Solarpanele hingegen rechnen sich trotz des ewigen Sonnenscheins nicht, weil Salz, Wind und Sand ihre Oberflächen in kürzester Zeit zerstören.

Ideale Bedingungen aber gibt es nicht nur für Surfer und Taucher, sondern auch für ganz normale Strandurlauber, die von der eher dörflich wirkenden Hauptstadt Sal Rei im Nordwesten bis hinunter nach Curral Velho im Süden unendlich lange Sandstrände finden, an die sich stundenlang niemand verirrt.

Menschen finden sich eher am Mercearia Elvis ein, dem Kaufmannsladen des ältesten Ortes Bofareira, hinter dem es ins schroffe Gebirge der Ostseite geht. Hier treffen sich die Ausflügler, die vom Wrack der 1968 in einem Sturm vor der Nordküste gestrandeten Santa Maria kommen. Das Schiff, heute nur noch ein malerisch zerfallener Rostberg, liegt am Ende einer halsbrecherisch zu befahrenden Straße, bewacht von wilden Eseln, Ziegen und Kapuzineraffen, die als Haustiere auf die Insel kamen, mittlerweile aber einen festen Platz in der überschaubaren Fauna des Archipels haben.

www.boavista-tours.com


Montag, 5. Juni 2017

Big Brother im Bundestag: Erich Mielkes feuchter Traum


"Der Bundesrat hat in seiner 958. Sitzung am 2. Juni 2017 beschlossen, dem vom Deutschen Bundestag am 18. Mai 2017 verabschiedeten Gesetz zur Förderung des elektronischen Identitätsnachweises gemäß Artikel 84 Absatz 1 Satz 5 und 6 des Grundgesetzes zuzustimmen", heißt es auf der offiziellen Seite des Ländergremiums lapidar. Im Bundestag hatte die Mehrheit von Schwarz-Rot zuvor für das Gesetz votiert, wie die grün mitregierten Länder sich in der Abstimmung im Bundesrat verhalten haben, ist nirgends vermerkt. Klar ist jedoch: Das neue Gesetz öffnet die Türen weit zu einem Überwachungsstaat ganz neuer Qualität. Erich Mielke, der Chef der Staatssicherheit der DDR, hat vom Ausmaß dessen, was das als "Drucksache 391/17" öffentlich kaum wahrgenommene Gesetz möglich machen wird, nicht einmal feucht geträumt.

Denn die neue Bestimmung sorgt nicht nur dafür, dass die bisher von 90 Prozent der Deutschen verschmähte und ignorierte Möglichkeit, die elektronischen Komponenten des Personalausweises freischalten zu lassen und zu nutzen, künftig von Amts wegen freigeschaltet werden. Sondern sie gestattet es "Polizeibehörden des Bundes und der Länder, dem Militärischen Abschirmdienst, dem Bundesnachrichtendienst, den Verfassungsschutzbehörden, Steuerfahndungsdienststellen, dem Zollfahndungsdienst und den Hauptzollämtern“ nebenher aus, die Datenbanken, in denen die Personalausweis-Passbilder der Deutschen gespeichert sind, automatisch zu Fahnungszwecken zu nutzen.

Dazu braucht es keinen richterlichen Beschluss, nicht einmal ein staatsanwaltschaftliches Ersuchen. Die befugten Behörden bekommen -bis Mai kommendes Jahres einfach einen eigenen Zugang zu den Lichtbild-Archiven, in denen sie dann abprüfen können, was immer sie wollen, sobald es ihnen nötig scheint. Was und warum das ist, bleibt Geheimnis der jeweiligen Behörde. Weder Bürger, die Gegenstand einer Recherche geworden sind, noch Datenschützer erhalten Informationen darüber.

Ein mächtiges Werkzeug, das künftig noch mächtiger werden wird, wenn Gesichtserkennungprogramme, wie sie Google und Apple bereits entwickelt und - zumindest außerhalb Deutschlands - eingeführt haben, immer treffsicherer werden. Da der Personalausweis nicht nur ein elektronisches Passbild enthält, sondern auch die Fingerabdrücke des Inhabers, ist die Identifizierung eines Menschen nach einem Abgleich eines Fotos, das zum Beispiel mit einer Überwachungskamera gemacht wurde, ein Kinderspiel. Der Abgleich könnte automatisch erfolgen, zugegriffen werden könnte, befürchten Datenschützer, eines Tages auch auf die Kameras des Maut-System, die derzeit noch nur benutzt werden dürfen, um Fotos von Lkw-Kennzeichen zu machen.

Im Augenblick schließt die Politik eine solche flächendeckende Überwachung noch aus. Doch die Geschichte der Vorratsdatenspeicherung (VDS) lehrt, dass die Betonung immer auf "noch" liegt: Als die zuvor als verfassungswidrig abgeschaffte VDS zum zweiten Mal eingeführt wurde, wurde festgelegt, dass die von Providern zu speichernden Verbindungsdaten und GPS-Positionen ausschließlich bei der Verfolgung schwerer und schwerster Straftaten genutzt werden dürfen, also etwa bei Mord wie im Fall der 2015 in Halle ermordeten Studentin Mariya Nakovska.

Der Vorsatz hielt nicht lange. Eben erst hat die Bundesregierung die Liste der Delikte verlängert, bei denen Kommunikations- und Standortdaten abgefragt werden dürfen: Neben Delikten wie Völkermord, Hochverrat, Mord und Totschlag oder Verbreitung von Kinderpornografie sollen Ermittler künftig auch bei einfachem Einbruchdiebstahl auf die Daten zugreifen können. Die Bundesregierung ließ sich dabei auch nicht von einem Urteils des EuGH irritieren, der die Vorratsdatenspeicherung zwischenzeitlich als "rechtswidrig" verworfen hatte.

Keine zwei Jahre waren seit der Wiedereinführung der VDS vergangen und schon war sie vom Werkzeug der letzten Not zum polizeilichen Alltagsinstrument gegen Trivialkriminalität geworden. Ebenso schnell könnte es bei der Nutzung der Lichtbildarchive der Personalausweisregister und ihrer Verknüpfung mit den biometrischen Datenbanken der Fingerabdrücke und hochintelligenten Gesichtserkennungsalgorhitmen gehen. Big Brother wird es dann einfach wie nie: Sobald das Bild eines Verdächtigen vorliegt, reicht ein Tastendruck, um seinen Namen und seine Daten zu ermitteln.


Samstag, 3. Juni 2017

Little Steven: Der kleine Boss mit dem Kopftuch


Er spielte schon mit Bruce Springsteen zusammen in einer Band, als den allenfalls ein paar Leute rund um Ashbury Park/New Jersey kannten. Als der spätere "Boss" sich an die Arbeit zu seinem dritten Album "Born to run" machte, holte er seinen alten Gitarren-Kumpel Steven Van Zandt dann in seine E-Street-Band - der Rest ist Rockgeschichte. 

Springsteen feierte Welterfolge, van Zandt, genannt "Little Steven", stand mit Gitarre und Kopftuch neben ihm, bis er sich Mitte der 80er entschloss, eine Solokarriere zu starten. Die führte den heute 67-Jährigen in große Hallen und kleine Säle, Little Steven trat als politischer Aktivist auf und versammelte neben Springsteen auch Lou Reed, Bono, Bob Dylan und Peter Gabriel als "Artists United Against Apartheid" um sich.

Musik aber machte er weiter, seit Mitte der 90er sogar wieder mit Springsteens E-Street-Band. Kein Wunder, dass "Soulfire", das eben erschienene siebte Solo-Album des zuletzt als Schauspieler in "Sopranos" und "Lilyhammer" erfolgreichen Mannes aus Massachusetts klingt, als hätte der Boss selbst Hand angelegt. 

Das kommt allerdings nicht davon, dass Little Steven Springsteen nachäfft, sondern eher daher, dass er den Sound seines alten Freundes über Jahre geprägt hat wie kein anderer Musiker. 

Wenn hier nun van Zandts "I'm coming back" klingt wie ein verschollenes Stück des Megastars, wenn die Bläser in "Soulfire" schwitzen und das schon 1977 mit dem Boss zusammen geschriebene "Love on the wrong side" vom Klavier eingeleitet wird, dann ist das großer, klassischer Stadionrock im Springsteen-Stil. 

Little Steven spielt mit seiner Band The Disciples Of Soul am 14. Juni auf der Parkbühne im Leipziger Clara-Zetkin-Park. Karten für das Konzert gibt es hier: mawi-concert.de

Mittwoch, 31. Mai 2017

Oldham singt Haggart: Ver­nei­gung vor einem Riesen



Country, wie er früher war. Der einmal zum Bonnie Prince Billy rückverwandelte Will Oldham wandert auf Merle Haggarts Spuren.

Neben Johnny Cash und Willie Nelson war Merle Haggard immer der leise, angenehme Typ, der ohne Schlagzeilen auskam und manchmal den Eindruck erweckte, er meine seine Dorftrottel-Hymne "Okie from Muskogee" ernst.

Das hat er nie getan. Viele andere Lieder hingegen schon - und die sind es, die sich Bonnie Prince Billy, der bürgerlich Will Oldham heißt und 33 Jahre jünger als der im vergangenen Jahr verstorbene Haggard ist, herausgesucht hat, um sie neu einzuspielen. Ein Vorhaben, mit dem sich nicht viel gewinnen lässt. Oldham ist zwar geadelt, seit Johnny Cash einen seiner Songs neu einspielte. Aber insgesamt blieb der Mann aus Kentucky stets zu eigensinnig in seinem musikalischen Ausdruck, als dass ihn das Mainstream-Country-Publikum wirklich hätte als einen der seinen adoptieren können. 

Insofern: Ein bisschen wie Haggard, der "Working man's poet", der im Gegensatz zu Cash Jahre im Gefängnis zugebracht hatte und wusste, wovon er sang. Oldham verzichtet hier darauf, Haggards Lieder zu modernisieren oder ihnen seinen Stempel aufzudrücken. Die 16 Songs werden respektvoll gespielt, sparsam instrumentiert und von Oldham beseelt gesungen.

All das Verstaubte, das Haggards Klassikern wegen ihrer Entstehungszeit bisweilen anhängt, bläst der stille Star des alternativen Country vorsichtig beiseite. Und unter der Patina der frühen Jahre, als Countrysänger Cowboyhut tragen mussten, dafür aber zur besten Sendezeit im Fernsehen liefen, kommen kleine, feine Kuschellieder zum Vorschein.

Mittwoch, 24. Mai 2017

Spammer: Danke für den Fisch


Es ist eine Chance, die jeder nur einmal im Leben bekommt. 23 Millionen Euro liegen auf einem Konto in Nigeria bereit, hinterlassen von einem Zentralbankmitarbeiter, der gerade erst bei einem Autounfall gestorben ist. Seine Tochter sucht nun verzweifelt nach einem Weg, das Geld ins sichere Ausland zu schaffen. „Werte Herr“, schreibt sie in einer Mail, „bitte könne helfe mich bei dies Transaktion und geben Deine Kontonummer?“

Kein Mensch würde das tun, oder doch keiner, der noch einigermaßen bei Verstand ist. Zu viele Rechtschreibfehler, zu hanebüchen die Geschichte, die die vermeintliche Millionenerbin aus Afrika erzählt. Dennoch klingen Millionen sogenannter Scam-Mails, die sich unter hundert Billionen Spam-Mails finden, die alljährlich unverlangt in Milliarden E-Mail-Postfächern landen, ähnlich: Krude ist die Grammatik, absurd die Rechtschreibung, egal ob auf Englisch oder Deutsch.

Die Botschaft der Mails, die entweder Millionengewinne versprechen oder zur Kontoprüfung auffordern, wird von den meisten Empfängern gar nicht mehr wahrgenommen - misstrauisch geworden durch die verräterische Form, wird der Inhalt in den Papierkorb geschoben. Ja, wenn die Spammer etwas schlauer wären, sagen sich viele Nutzer. Dann würde man vielleicht auf ihre Betrugsversuche hereinfallen. Aber so? Niemals! Bei der Rechtschreibung, dieser Grammatik und den durchsichtigen Tarngeschichten merkt doch jeder sofort, dass hier Kriminelle unterwegs sind, die nach Opfern suchen.

Genau das aber ist die Absicht der Absender von betrügerischen E-Mails, wie Cormac Herley aus der Research-Abteilung des Software-Riesen Microsoft in einer Studie nachgewiesen hat. „Warum sagen nigerianische Betrüger, dass sie aus Nigeria kommen?“, hat er das Papier überschrieben, in dem das Rätsel der offenkundig stets von völlig unfähigen Betrügern abgefassten Scam-Mails gelöst wird.

Eine mathematische Frage, wie Herley nachweist: Für den höchsten Profit müsse der Betrüger nicht versuchen, möglichst viele potentielle Opfer zu finden. Sondern anstreben, die zu erwischen, die die höchste Wahrscheinlichkeit versprechen, dass sie am Ende wirklich auf den Betrug hereinfallen. Die atemberaubend schlechte Rechtschreibung, zwischengemischte russische oder Thai-Schriftzeichen und eine Grammatik, bei der alles durcheinandergeht, funktionieren im milliardenschweren weltweiten Scam-Geschäft wie ein Idiotenfilter.

Denn schwierig am Verschicken von betrügerischen Mails ist nicht die erste Aussendung, die darauf spezialisierte Programme automatisch und millionenfach vornehmen. Sondern die Fortführung der Kommunikation mit den Angeschriebenen, die tatsächlich auf obskure Millionenangebote aller Art antworten.

Scammer kalkulieren knallhart: Würden auf 500 Millionen verschickte seriös wirkende Mails 100 Millionen Menschen antworten, bräuchte der Versender der Scam-Mails rund 200.000 Mitarbeiter, von denen jeder am Tag 500 Mails beantworten müsste. Hier lässt sich nichts mehr automatisieren, weil jede Antwort individuell ausfällt und deshalb auch individuell beantwortet werden müsste.

Die Wahrscheinlichkeit, dass im weiteren Mailwechsel vielen auffallen würde, dass es hier letztlich um Betrug geht, wäre dennoch hoch - ein Großteil der teuren, weil nicht von Computerprogrammen zu erledigenden Arbeit wäre vergeblich. Anders, wenn von Anfang an so plumpe Anschreiben verschickt werden, dass die meisten Adressaten sie sofort löschen. Wenn dann auf 500 Millionen Mails nur 200 Leute antworten, sind darunter, so die eiskalte Rechnung, bestimmt fünf oder zehn, die sich am Ende betrügen lassen.


Mittwoch, 3. Mai 2017

TV-Start: Sieg über den Klassenfeind


Als die DDR mal ganz vorn war: Vor 65 Jahren siegte die Arbeiter- und Bauernrepublik im Rennen um den Fernseh-Sendestart in Deutschland.

Eine Kiste, groß wie ein Schrank, links mit Stoff abgespannt und rechts für ein Glasfensterchen in Postkartengröße geöffnet: Heute vor 60 Jahren brachte der "Leningrad T2" aus sowjetischer Produktion das Fernsehen nach Deutschland. In der ersten Sendung kurz vor dem Weihnachtsfest 1952 durfte Stalin zuerst auf den Bildschirm - rein zufällig fiel der Start des offiziellen Betriebes des DDR-Fernsehens auf den Geburtstag des Führers der internationalen Arbeiterklasse. 

Was für ein Triumph über den Klassenfeind! Der Nordwestdeutsche Rundfunk (NWDR) im Westen hatte zwar schon im November zwei Jahre zuvor mit der Ausstrahlung eines Versuchsprogrammes begonnen. Doch beim regelmäßigen Sendebetrieb hatte der Deutsche Fernsehfunk der DDR die Nase vorn. Erst vier Tage nach den Berlinern zog die Konkurrenz vom NWDR nach, die aus einem Bunker auf dem Heiligengeistfeld in Hamburg zuerst einen Film über die Entstehungsgeschichte des Weihnachtsliedes "Stille Nacht" sendete. 

Kalter Krieg im Äther, allerdings weitgehend unter Ausschluss der Öffentlichkeit. In ganz Ostdeutschland gab es nicht mehr als 80 Fernsehgeräte. Obwohl einige davon in sogenannten Fernsehstuben standen, in denen Sendungen kollektiv angeschaut werden konnten, konnten nicht mehr als ein paar hundert Zuschauer die Nachrichtensendung "Aktuelle Kamera" mit Sprecher Herbert Köfer oder sowjetische Dokumentationen verfolgen. Dennoch war sich die Führung der SED offenbar schon sehr früh darüber im Klaren, dass im Äther eine unsichtbare Front entstand, die von eigenen Truppen gehalten werden musste. 

Im Januar 1952 hatten sich DDR-Präsident Pieck, Ministerpräsident Grotewohl und der kommende starke Mann Walter Ulbricht im Sendezentrum in einer Baracke in Adlershof gemeinsam von der Wirksamkeit der neuen Propagandawaffe überzeugt. Vor allem die Aussicht, neben 2,3 Millionen <>-Bürgern auch rund 2,2 Millionen Menschen im Westen mit eigenen Sendungen erreichen zu können, führte wohl zur Beschleunigung der Umsetzung der Fernseh-Pläne, deren Ausarbeitung die Sowjetische Militäradministration bereits 1949 in Auftrag gegeben hatte. 

Nachdem der NWDR sein Testprogramm auf einer Messe öffentlich vorgestellt hatte, geriet die <> zudem unter Druck. Die Europäische Wellenkonferenz hatte der DDR Sendefrequenzen zugewiesen, die an den Klassenfeind im Westen verloren zu gehen drohten, wenn sie nicht benutzt würden. Kurt Heiß, damals Generalintendant des DDR-Rundfunks, warnte im Sommer 1952: "Wir müssen jetzt jeden Tag mit mehr als einer Stunde draußen sein, zu einer feststehenden Zeit, um die Frequenz zu belegen." 

Das gelang zwar, doch viel problematischer war im Osten der eklatante Mangel an Empfangsgeräten. Von der staatlichen Weisung an die volkseigene Industrie, "diese in ihrem Aufbau unerhört komplizierten Apparate zu einem möglichst geringen Preis herauszubringen, um Fernsehen für jeden erschwinglich zu machen", wie es in einer Veröffentlichung hieß, war im Laden nichts zu sehen. Im VEB Sachsenwerk Radeberg wurden nach sowjetischen Bauplänen zwar Leningrad-Fernseher hergestellt. Doch die meisten mussten als Teil der Reparationszahlungen in die UdSSR geliefert werden. Der Rest ging für stolze 3 500 Mark über den Ladentisch - das durchschnittliche Jahresgehalt eines DDR-Bürgers. Es ging folglich weniger um echte Erfolge an der Fernsehfront als vielmehr um Prestige. 

Zumal eine wirkliche Konkurrenz der Sender in Ost und West anfangs schon technisch ausgeschlossen war: Adlershof sendete Bild und Ton in der OIR-Norm, Hamburg verwendete die ICCR-Norm. Wer es schaffte, die auf Einkanal-Betrieb ausgelegten "Leningrad"-Geräte auf den Empfang des Westsenders umzustellen, sah entweder das Bild. Oder er konnte den Ton hören. Der Erfolg im Wettlauf um den Starttermin blieb dann auch der einzige Sieg des DDR-Fernsehens über den technisch und finanziell überlegenen Westen. 

Während die regelmäßigen Sendungen im Osten bis Ende 1955 als "Versuchsprogramm" firmierten, lief "drüben" schon seit Weihnachten 1952 der reguläre Sendebetrieb mit Übertragungen wie vom Fußballspiel Deutschland gegen Jugoslawien, Shows und Fernsehspielen. Dahin kam das nun Deutscher Fernsehfunk (DFF) genannte Fernsehen der DDR erst zum 2. Januar 1956, rein zufällig der 80. Geburtstag von DDR-Präsident Wilhelm Pieck. 

Jetzt standen schon ein paar Tausend Fernseher vom im Funkwerk Halle hergestellten Typ Sonata FT 55 in den Wohnzimmern zwischen Rügen und Riesa. Zehn Jahre nach dem Fernsehstart hatten zwei Millionen DDR-Haushalte einen Fernseher, 1969 startete das zweite Programm - sechs Jahre nach dem Zweiten Deutschen Fernsehen in der Bundesrepublik. 

Samstag, 22. April 2017

Fischer-Z: Widerstand gegen den Wohlstand


Alles in allem sind es kaum elf Jahre gewesen, in denen John Watts den Namen Fischer-Z abgelegt und versucht hatte, unter seinem eigenen Namen an die großen Erfolge der 80er Jahre anzuknüpfen. Das gelang nicht, vielleicht auch, weil der studierte Psychologe sich nie dümmer stellte, als er ist.

Watts verband Liedermacherei und Rock, Pop und Multimedia, er reiste um die Welt und sang mit Musikern aller Kontinente, und bald schien es, als komme es ihm gar nicht mehr auf das Ergebnis seiner Bemühungen um neue Musik an, sondern nur noch um den Weg dorthin.

Aber natürlich ist der inzwischen 62-Jährige auch eitel. Wer mit Mitte 20 in Welthits wie "Marliese" und "Berlin" gezeigt hat, dass schwerer Inhalt und leichte Form bis an die Spitze der Charts klettern können, mag im Herbst seiner Karriere nur ungern dauerhaft in kleinen Klubs vor zwei Handvoll alten Fans auftreten. John Watts hat also den alten Bandnamen Fischer-Z aus dem Archiv geholt und eine neue Ära für die einstige New-Wave-Combo ausgerufen.

40 Jahre nach Bandgründung ist zwar außer ihm keines der Ursprungsmitglieder mehr dabei, aber Fischer-Z war schon immer ganz allein Watts' Baby, sein Sprachrohr, seine Stimme. "Building Bridges", bei ganz penibler Zählung wohl Album Nummer zwölf mit dem Schriftzug Fischer-Z auf dem Cover, unterstreicht den virtuellen Charakter dieser Formation durch den intimen Kreis, der es eingespielt hat. Neben Watts selbst ist da der Schlagzeuger und Percussionist James Bush, dazu Tochter Leila Watts und Mitproduzent Nick Brine als Backgroundsänger.

Ein Solowerk also, das in elf Songs hundert Prozent Watts bietet. Die zickige Gitarre ist hier, die Stimme wie eine überspannte Klaviersaite, die Bläsersektion aus dem Keyboard. Dazu kommen die Melodien, die immer an die großen Momente von "Cruise Missiles" und "The Worker" erinnern. Damals hatte Watts Politik und Beziehungskrisen in luftigen Pop gegossen, der dennoch wie ernsthafte Rockmusik gehört werden durfte.

Das versucht er hier wieder. "Building Bridges" startet mit abgeschlagenen Köpfen in Damaskus, blendet über auf Szenen aus der Finanzkrise, schimpft über den Mindestlohn und ruft die Besitzlosen zum Widerstand gegen den Wohlstand: "Die, die nichts haben, brauchen eine lautere Stimme!" Der weitgereiste Pop-Philosoph, allen Ehrgeizes ledig, sinniert öffentlich über die Leiden der Welt, über die Flüchtlingskrise und die alles zermalmende Kraft des Internets.

Gallig ist er dabei, die Stimme quengelt bei "Barbara Sunlight" ein höhnisches "heirate mich" und bei "Umbrella" verwandelt Watts "Paint it black" von den Rolling Stones in die Liebeserklärung eines alternden Mannes an ein junges Mädchen. "Shrink" ist dann ein Zwiegespräch des Sängers mit einem Alter Ego diesen Namens, in dem die verrückten Zeiten zu verrückter Musik beklagt werden. Watts darf das, denn er kann es, auch ganz allein.


Donnerstag, 20. April 2017

Deep Purple: Abschied der Dinosaurier


Im 50. Jahr ihres Bestehens reitet die britische Band Deep Purple mit dem Album "Infinite" in die Unendlichkeit der Rockgeschichte.

Die Rebellion dieser Männer hier war von anderer Art als die ihrer Kollegen von den Stones, den Kinks oder Jethro Tull. Während die im Kern personell stabil waren, überlebte Deep Purple bis heute acht Verpuppungen, bei denen nur der Mann hinter dem Schlagzeug derselbe blieb. Und, das ist das Erstaunliche, die Musik. 

Vier Sänger, vier Gitarristen, drei Bassleute und zwei Keyboarder haben Deep Purple seit der fantasiereichen Rock-Suite "April" betrieben. 45 Jahre sind seit dem größten Purple-Hit "Smoke on the water" vergangen. Und nun vereint das neue Album "Infinite" die klassischen mit den Dampfhammer-Genen des Band-Erbes zu einem letzten Ausritt der alten Garde um Drummer Ian Pace, Sänger Ian Gillan und Bassist Roger Glover, denen mit Steve Morse (seit 1994) und Don Airey (seit 2002) zwei jüngere Kräfte zur Seite stehen. 

Stilsicher, wie die zehn neuen Songs belegen, produziert wie schon das letzte Werk "Now What?" erneut von Bob Ezrin. Deep Purple rufen noch einmal alle Tricks und Kniffe, alles Handwerk und alle Schablonen der letzten fünf Jahrzehnte ab und zelebrieren ihren Abschied mit der großen Geste echter Dinosaurier. Natürlich klingt Ian Gillan, inzwischen 71 Jahre alt, nicht mehr wie damals mit Ende 20, als er "Highway Star" mit einer Stimme sang, die in manchen Momenten aus einer anderen Welt zu kommen schien. 

Doch er klingt gut, voll und nie überfordert. "Johnny's Band" ist das Lied zu diesen alten Zeiten, eine Hommage an die Tage, als alle Musik machten und es manche sogar zu "Top of the Pops" schafften. Ehe der Traum im Drogenrausch, in Geldgier und privatem Größenwahn verglühte. Alle Mitglieder von Deep Purple, auch der 2012 verstorbene Keyboarder Jon Lord und Gründungsgitarrist Ritchie Blackmore, der seit 1993 endgültig auf folkloristischen Solo-Pfaden wandelt, könnten Geschichten davon erzählen, wie es wirklich war, in den ganz großen Tagen des Rock "on top of the world" zu sein, wie hier ein Lied heißt. 

Umso verwunderlicher, dass das sensible Konstrukt aus teilweise über Jahrzehnte zerstrittenen Genies nicht nur diese Zeiten, sondern auch die Phasen von Belächeltwerden und Vergessensein überstanden hat. Nun stehen sie hier, im Gepäck die alte Musik aus wilden Gitarren, manchmal minutenlang vor sich hintüdelnden Orgeln und wuchtigen Beats aus Ian Pace' wummernden Trommeln. "Infinite" hat viele Momente, in denen improvisiert wird wie damals bei "April", nur ohne Orchester. 

Ziellos und ohne Zeitbegrenzung erwecken Morse und Airey die rauschhaften Tage zum Leben, als in jeden großen Song ein großes Solo gehörte. Das ist heute so erfolgreich wie seit Ende der 80er Jahre nicht. Auf einmal kaufen die Leute ihre Alben wieder. Auf einmal führt sie Metallica-Drummer Lars Ulrich in die Rock'n'Roll-Hall-of-Fame ein. Deep Purple haben in Wacken gespielt, beim Jazzfestival in Montreux und beim Bluesfest im kanadischen Ottawa. Sie hatten ausverkaufte Konzerte in aller Welt und schafften es sogar in den USA wieder in die Albumcharts.

An der Musik allein kann es nicht liegen, denn die liefern jüngere Bands wie Arena oder IQ auch, obwohl sie sicherlich nie auf die Idee kämen, nach dem elektrischen Soundinferno über neun Songs ans Ende einen fast akustisch klingenden Klassiker wie den "Roadhouse Blues" von den Doors zu stellen. Wohl eher ist es der Nimbus, das Gefühl, langsam verklingender Geschichte zuzuhören.

Deep Purple live in Leipzig am 9. Juni, Arena

Tickets sind erhältlich bei: www.mawi-concert.de



Donnerstag, 13. April 2017

Reisebuchung: Immer wieder sonntags

Immer wieder sonntags wird es günstig. Das Internet verändert die Kultur der Reisebuchung. Und wer Bescheid weiß, spart.


Steigende Preise gehören eigentlich zu einer gesunden Wirtschaft, doch seit einiger Zeit schon wirkt das Internet kostendämpfend auch bei Urlaubsangeboten. Nicht nur die Krisen ringsum sorgen für Angebote auf dem Niveau von Notverkäufen, sondern auch die größeren Vergleichsmöglichkeiten, die Urlauber haben. Ein Trend, der nach einer neue Studie anhalten wird, die unter anderem im Auftrag des Internet-Reiseriesen Expedia angefertigt wurde. „Neue Höhen für Flugreisen“ wagt eine Prognose der Entwicklung der Flugpreise in diesem Jahr. Und kommt zum Schluss, dass Flugtickets eher billiger als teuer zu werden versprechen.

Und das, obwohl Reisende heute durchschnittlich schon weniger für einen Sitz in der Economy-Klasse zahlen müssen als 2014. In Europa sanken die Preise seitdem um durchschnittlich vier Prozent, global aber ist das noch wenig: Südamerikaner etwa sparen bei Flügen nach Südostasien im Moment im Durchschnitt sogar ein Drittel des Preises, den sie noch vor zwei Jahren bezahlen mussten.

Ganz so viel können Frühbucher nicht herausholen, aber die Studie bestätigt, dass der Januar der beste Monat ist, um günstig zu buchen. Dies betrifft vor allem Ziele innerhalb Europas, in Südamerika und Asien. Eine Ausnahme machen die USA: Hier ist der September der günstigste Buchungsmonat.

Für alle, die es früher im Jahr in die USA zieht, empfiehlt sich nach Ansicht der Experten allerdings auch der Januar, um billiger zu fliegen. Der Sonntag ist dabei im Schnitt betrachtet der beste Tag, Flüge und Hotels zu buchen. Besonders empfehlenswert sei der Sonntag für alle, die in Europas reisen: Der durchschnittliche Ticketpreis ist an diesem Tag gut 30 Prozent niedriger als an den anderen Tagen.


Viel hängt auch davon ab, wie weit im Voraus man seine Ferien genau planen und damit buchen kann. Viel ist gut, zu viel nicht: Bei einer Reise innerhalb Europas legt Expedia nahe, mindestens 85 Tage vor Abflug zu buchen. Das spare bis zu 30 Prozent. Plant man hingegen, von Europa in die USA zu fliegen, seien 180 Tage zu empfehlen. Solche Vorausschau könne dann sogar zu einer Ersparnis von bis zu 34 Prozent führen.

Sonntag, 9. April 2017

Heiko Maas gegen den Hass: Internet unter Aufsicht


Nicht mehr nur strafbare, sondern auch rechtswidrige Inhalte möchte Bundesjustizminister Heiko Maas künftig aus dem Internet heraushalten. Was aber ist eigentlich der Unterschied? Abgesehen davon, dass das eine bestraft wird und das andere im deutschen Verwaltungsrecht nicht nur straffrei bleibt, sondern sogar Bestandskraft erlangen kann?

Das ist schnell erklärt. Neulich etwa hätte die deutsche Medienaufsicht einer sportbegeisterten Bank beinahe verboten, die Handball-WM im Internet zu übertragen. Eigentlich wäre das nämlich Rundfunk und der braucht in Deutschland immer eine Lizenz. Besaß die Bank nicht. Hat auch der Youtube-Star Piet Smiet nicht, der im Netz Videos sendet, in denen er sich durch Computerspiele kämpft. Die Kommission für Zulassung und Aufsicht der Landesmedienanstalten droht ihm deshalb nun damit, seinen Kanal zu schließen.

Der ist, so einfach ist das, zwar nicht strafbar, aber rechtswidrig.

Mittwoch, 5. April 2017

Wir Sklaven des Belohnungszentrums

Schön und schlau soll der digitale Zwilling sein - vor allem Männer riskieren dafür viel. Von wegen sozial! Beeindrucken, begeistern und von sich selbst überzeugen, das ist es, was Internetnutzer in sozialen Netzwerken wirklich wollen. 

Schön und schlau soll er sein, der digitale Zwilling, weitgereist, empfindsam und sympathisch rüberkommen. Denn wichtigstes Ziel, das zeigt jetzt eine Studie im Auftrag des russischen Antiviren-Spezialisten Kaspersky Lab, ist es, viele Like-Klicks zu sammeln.

Dabei stellen viele Nutzer ihr Leben häufig aufregender dar als es ist. Vor allem Männer agieren offener und geben mehr von sich preis als Frauen. So würden in Deutschland 5,6 Prozent der Männer, aber nur 3,2 Prozent der Frauen vertrauliche Informationen über Kollegen im Netz öffentlich machen, um zu punkten. Peinliche Details über Freunde würden 6,6 Prozent der Männer verraten, aber nur 2,4 Prozent der Frauen.

Dass Männer eher bereit sind, Grenzen zu überschreiten, erklärt die Medienpsychologin Astrid Carolus damit, dass „Männer weniger auf soziale Harmonie fokussiert sind und höhere Risiken eingehen“. Dabei schonen sie auch ihre eigene Privatsphäre nicht. So gaben 14,2 Prozent der befragten Männer in Deutschland an, sie würden auch Fotos posten, auf denen sie nur leicht oder sogar gar nicht bekleidet sind. Bei den Frauen sind dazu laut Umfrage nur sechs Prozent bereit.

Enthemmung, die um Aufmerksamkeit buhlt. „Auf der Suche nach sozialer Akzeptanz werden die Grenzen des Privaten weit gedehnt“, glaubt Holger Suhl von Kaspersky Lab. Nutzer setzten sich und andere damit Risiken aus, die im Ernstfall zu gestörten Beziehungen im richtigen Leben führen können. In Deutschland wollen 42,6 Prozent aller Befragten nicht, dass Freunde Fotos von ihnen veröffentlichen.

„Wir sollten daher mehr darauf achten, welche Informationen über soziale Netzwerke geteilt werden“, empfiehlt Sicherheitsexperte Suhl. Verglichen mit dem weltweiten Durchschnitt sind deutsche Nutzer hier aber schon ein Stück sicherheitsbewusster. Nur 7,1 Prozent (weltweit zwölf Prozent) würden für mehr Likes beim Posten die Wahrheit verdrehen. Auch hier sind mehr Männer (8,4 Prozent) als Frauen (5,8 Prozent) dazu bereit.

Der Unterschied liegt nach der Studie namens „Have we created unsocial media?“ darin, dass Männer in sozialen Netzwerken stärker nach Anerkennung suchen. So sind in Deutschland 16 Prozent der männlichen, aber nur 11,8 Prozent der weiblichen Nutzer der Meinung, dass mit fehlenden Likes auch ihr Ansehen bei Freunden abnimmt. Beide Geschlechter sind etwa gleich stark beunruhigt (etwa 17 Prozent), wenn nahestehende Menschen keine Reaktionen auf ihre Posts zeigen.

Montag, 27. März 2017

Stefan Diestelmann: Blues-Gott mit Gitarre



Immer noch beeindruckend, welche Präsenz dieser Mann selbst auf dieser seiner letzten Bühne gehabt hat, die nur ein kleines Boot auf dem Ammersee in Bayern war. Stefan Diestelmann spielte noch einmal sein ganzes Leben - und nicht nur den Blues. Den aber konnte er besonders gut - heute vor zehn Jahren ist der erfolgreichste und wichtigste Bluesmusiker der DDR.

Die genauen Umstände sind immer noch unbekannt, vermutlich werden sie auch nie offenbar werden, weil die einzigen Freunde, die der Gottkönig des DDR-Blues am Ende seines bewegten Lebens noch hatte, auf seine Bitten hin schweigen.

Fast wäre sogar der Tod des Ost-West-Wanderers unbekannt geblieben, weil der gebürtige Bayer Diestelmann es vorzog, nach seiner Rückkehr in die alte Heimat und dem künstlerischen Scheitern dort langsam und dann immer schneller aus der Öffentlichkeit und den Konzertsälen zu verschwinden.

Diestelmann, ein Leben lang ein begnadeter Geschichtenerzähler, der jede seiner verrückten Storys auch selbst zu glauben schien, pflegte den Nimbus des Total-Aussteigers. Kein Blues mehr, kein Applaus und keinerlei Kontakte. „Er hat sich der Familie entzogen", erinnert sich sein Onkel Jürgen Diestelmann. Wenn Touristen aus dem Osten ihn erkennen und fragen, warum er denn nicht mehr spiele, lässt er sie wissen, dass die Musik ihm zu wichtig sei, "dass ich sie als Broterwerb betreiben will". Aus dem wichtigsten Blues-Mann der DDR wird ein Freizeitkapitän, der sein Boot über den Ammersee steuert und behauptet, die Musik gar nicht zu vermissen.

Dabei war er für die wie geschaffen. Zu Hause geschlagen von einem Vater, der ein Leben lang wütend auf seine eigene Entscheidung war, zugunsten der Karriere von West nach Ost zu ziehen und in der Schule als Wessi gemobbt, flüchtete Stefan Diestelmann früh in den Blues. "Es war der Rhythmus im Blues, der mich angemacht hat", sagt er später, "das Primitive, in dem alles steckt."

Mit der Gitarre ist er wer, wenn er singt, empfängt er Bewunderung. Es ist dies das Hochgefühl, dem Stefan Diestelmann nun stets nachjagen wird: im Mittelpunkt stehen, der sein, zu dem alle aufschauen. Er wird tatsächlich zum Star, er verdient viel Geld, er wird gefeiert und mit Preisen bedacht. Er bekommt einen Berufsausweis, obwohl er nie eine musikalische Ausbildung genossen hat, sondern stattdessen - zumindest nach eigenen Angaben - nach einem Fluchtversuch in der Besserungsanstalt landet.

Der Blues allein reicht ihm bald nicht mehr, sich in andere Welten zu versetzen. Stefan Diestelmann will es größer. Alexander Blume, sein Pianist, sieht ihn damals "immer bereit, zu übertreiben". So wird der Autodidakt zum Superstar in seiner eigenen Realität. Er spielt wirklich Konzerte mit Weltstars wie Phil Everly und mit Harmonica Phil Wiggins, aber es reicht nicht. Er  will in den USA mit BB King auftreten. Den Blues zurückbringen,. dorthin, wo er herkommt.

1984 nutzt Diestelmann einen Auftritt im Westen, um der DDR den Rücken zu kehren. Drüben taucht der König des Blues ab. Er dreht jetzt Werbefilme für Hotels und behauptet, sehr glücklich zu sein. Er ist immer noch ein großer Geschichtenerzähler, ein Mann, der abendliche Runden ganz allein unterhalten kann. Er spricht viel von früher. Er macht Witze. Er macht keine Musik mehr.

Er starb dann, wie er am Ende lebte: Umgeben von zwei, drei Menschen, zu denen er noch Kontakt hatte. Und vergessen von den Hunderttausenden, die einst seine Platte "Hofmusik" gekauft hatten.



Freitag, 24. März 2017

Hochwasser: Jemand hat die Absicht, eine Mauer zu bauen

So ähnlich wird die neue Mauer aussehen, die ab 2018 den Gimritzer Damm flankiert. 
Nach dem Hochwasser vom Sommer 2013 kam der Streit darum, wie es weitergehen soll. Dammbau hier oder dort, eine neue Eissporthalle oder die alte, alle Wege im Naturschutzgebiet asphaltieren oder doch nur ein paar? So schnell das Rathaus am Anfang vorgeprescht war, um gemeinsam mit bewährten Partnern vollendete Tatsachen zu schaffen, so zäh wurde die Geschichte schließlich vor Gericht.

Erst nach dreieinhalb Jahren wird nun langsam deutlich, wohin die Reise geht: Es wird kein neuer Damm gebaut, nicht an neuer Stelle wie ursprünglich vom Oberbürgermeister angestrebt, und nicht an alter, wie immer schon von der Verwaltung abgelehnt. Stattdessen entsteht ab 2018 neben dem alten Deich eine sogenannte Spundwand, wie sie heute schon in der Nähe von Barby an der Elbe zu bewundern ist (Bild oben).

Der Landesbetrieb für Hochwasserschutz hat die Absicht, eine 1.240 Meter lange Mauer zu bauen, immer entlang des alten Dammes - und höher als dessen Krone heute.

Benutzt werden für eine solche „tragende und dichtende Wand auf einer aufgelösten Bohrpfahlgründung“, wie es offiziell heißt, in der Regel Spundwandsegmente aus Stahl, die mehrere Meter tief in die Erde reichen. Nach oben überragt die künftige Stahlmauer zwischen Neustadt und der Peißnitz nach Fertigstellung jeden Menschen, sie zerschneidet die Verbindung zwischen Neustadt und Altstadt, sie verleiht der Naturidylle am Rande der Peißnitzinsel die Atmosphäre einer Industriebrache.

Sprayer werden sich freuen, Spaziergänger erschüttert sein. Für das Bauwerk weichen muss der komplette Bewuchs auf der Saaleseite des Dammes vom Sandanger bis zur Heideallee, geschätzte 500 Bäume, teilweise 30 bis 50 Jahre alt.

An ihrer Stelle wächst ein Stahlriegel im Vorfeld des Dammes, der in Zukunft  als "unüberwindliche Barriere für Tiere und Baumwurzeln" (Eigenwerbung) wirkt.

Sonntag, 5. März 2017

Zwei Jahre lang im Dschun­gel­camp

Der amerikanische Bestsellerautor T.C. Boyle lässt seine "Terranauten" scheitern.

Ein Käfig voller Narren, die sich im Namen der Wissenschaft für zwei Jahre einsperren lassen. Vier Frauen, vier Männer. So war es damals wirklich, Anfang der 90er Jahre, als das "Biosphere"-Projekt ausloten wollte, ob und wie eine kleine Gemeinschaft von Menschen in einem geschlossenen Wirtschaftskreislauf existieren kann.

T.C. Boyle hat aus Motiven der wahren Geschichte um den Garten Eden in der Wüste von Nevada den Roman "Terranauten" gestrickt - einen über 600 Seiten wuchernden Hybriden aus Kammerspiel, Wissenschaftsthriller und Psychokrimi. Es hängt was in der immer wieder aufbereiteten Luft, die die beiden Erzähler Dawn und Ramsay drinnen atmen, während die ausgebootete Linda von draußen eifersüchtig durch die Glasfenster zuschaut.

Wie die echte Biosphäre, die nach einem Jahr nur noch überleben konnte, weil Sauerstoff von außen zugeführt wurde, kämpft auch die literarische Neuauflage mit technischen wie menschlichen Problemen. So sehr sich zumindest einige Akteure auch schwören, in der Kuppel zu handeln als flögen sie zum Mars, so nah bleibt doch die Überwachungsmaschine draußen. Und mit ihr die Gewissheit, wenn etwas Ernstes passieren würde, ginge die Schleuse auf.

Dieses Wissen verändert das Zusammenleben und es verändert die Gruppendynamik. Abwechselnd aus der Perspektive von Dawn, Ramsay und Linda erzählt, kommt die Höllenfahrt ohne Ortswechsel fast ohne dramatische Momente aus: Kakerlaken und Spatzen bedrohen das Öko-Gleichgewicht, wie im Dschungelcamp geht es irgendwann darum, wer mit wem ins Bett geht. Und als Dawn schwanger wird, ist die Versorgungslage ohnehin schon angespannt und das große Experiment steht vor dem Scheitern.

T.C. Boyle, eigentlich ein Meister der packenden Schilderung überschaubarer Konflikte, hat an dieser Stelle leider schon das Interesse an seiner Story verloren. Er lässt sie irgendwie zu Ende gehen.

Für die einen so. Für andere so.


Mittwoch, 22. Februar 2017

Science Fiction: Irgendwo ist immer jetzt


Überall sind Bildschirme, Kameras, Sensoren, elektronische Spione. Alles muss sicher sein, vorhersagbar, kontrolliert, denn die große, kluge Maschine, der die Menschheit ihr Überleben anvertraut hat, kann schlecht mit Variablen rechnen. In einem gigantischen, gewalttätigen Akt hat sie deshalb alles vernichtet, was störenden Einfluss nehmen könnte. Milliarden Menschen sind tot, die Natur wurde begradigt, Menschsein ist zur Erfüllung einer Aufgabe geworden.

Und doch sind da immer noch Störenfriede in Stephan R. Meiers Debütroman „Now“. Stark zum Beispiel ist eigentlich der Erbe des totalitären Gebildes namens „Now“, eines Supercomputernetzwerkes, in dem unschwer reale Vorbilder wie Google, Facebook oder Apple zu erkennen sind. Stark, der Sohn eines der gutwilligen, mit allerbesten Absichten gestarteten Gründer des allwissenden Algorithmus, kippt angesichts einer ungeplanten Liebe zu einer „Wilden“ aus der Restwelt aus der Matrix.

Er wird zum Feind der Maschine, die 99 Prozent der Menschheit geopfert hat, damit das restliche Prozent endlich in nachhaltigem Gleichgewicht mit der geschundenen Natur leben kann.

Ein Konflikt, an dem Stephan R. Meier scheitert. Zwar beschreibt der Sohn des früheren Verfassungsschutzchefs Richard Meier, der zuvor nur Sachbücher über seinen Vater und über den Terroristen Carlos geschrieben hat, die Entstehungsgeschichte des Now-Computers mit filigranem Strich. Doch die Personen drumherum bleiben so blass wie ihre Motive.

Dasselbe gilt für die Handlung, die mehrfach dazu ansetzt, Fahrt aufzunehmen, etwa als Now den Strom abschaltet und die Zivilisation binnen kurzem außer Rand und Band gerät. Doch Meier wollte wohl keinen temposcharfen Thriller schreiben, sondern eine teilweise als philosophische Belehrung verkleidete Abhandlung über Moral und die Verführbarkeit des Menschen durch Macht.

Das immerhin wäre ihm dann sehr gut gelungen.

Sonntag, 5. Februar 2017

Schulrechner SR1: Als die DDR den Einstieg in die Hightech-Zukunft probte

Schultaschenrechner sind nicht auf dem neuesten Stand der Technik, sie sind hässlich und sie sind teuer. Zeit, den Innovationsbremsern Dampf zu machen, Nur zwei Hersteller teilen sich den Markt und sahnen dabei kräftig ab, hat heise.de herausgefunden. Ein Klassiker aus DDR-Zeiten erinnert daran, wie es war, als es noch ganz anders war: Der SR1 dominierte den Taschenrechner-Markt der Arbeiter- und Bauernrepublik ohne jede Konkurrenz.


Zwei Schalter und 34 Tasten, eine LED-Anzeige und ein Gehäuse, das Plastik und gebürstetes Aluminium kombinierte – so sah sie aus, die mikroelektronische Revolution, die 1985 über die DDR kam. Der Schulrechner SR1 – wobei SR1 die Abkürzung für Schulrechner 1 war – verdrängte den bis dahin benutzten Rechenschieber und wurde zum Bestandteil des Regelunterrichts in den 7. Klassen. „So kann der Unterricht lebensverbundener gestaltet und die Schüler besser auf jene Anforderungen vorbereitet werden, die die wissenschaftlich-technische Entwicklung ihnen künftig stellt“, argumentierten die DDR-Medien, die den bereits 1981 von Gerhard Bieber und Hartmut Vogt entworfenen Rechner zu einer Art High-Tech-Gerät verklärten.


Das war nicht einfach so in den Schulen eingeführt worden, sondern erst nach ausgiebigen Tests. Sechs Jahre lang hatten 40 ausgewählte Schulklassen zuvor schon mit dem Taschenrechner gearbeitet, darunter auch an einige Merseburger Oberschulen. In derselben Zeit baute der VEB Mikroelektronik „Wilhelm Pieck“ in Mühlhausen die Produktionskapazitäten aus, um jährlich rund 150.000 SR1 an Schülerinnen und Schüler ausliefern zu können.

Der Staat griff dafür tief in die Tasche: Während der baugleiche Rechner MR 609, der als MR 609 mit der Herstellerangabe MBO Schmidt & Niederleitner GmbH & Co. KG auch im Westen angeboten wurde, im Handel stolze 460 Mark kostete, konnten Eltern von schulpflichtigen Kindern den SR1 in den RFT- und Kontaktring-Verkaufsstellen gegen Vorlage eines von den Schulen verteilten Bezugsscheines für 123 Mark kaufen. Darüber hinaus verfügte jede Schule für den Fall, dass der Kauf eines eigenen Rechners nicht möglich war oder der eigene Rechner eines Schülers einer Reparatur wegen vorübergehend nicht nutzbar war, über mehrere SR1, die als Ausleihexemplare zur Verfügung standen.

Das bis zum Ende der DDR mehr als eine Million Mal hergestellte robuste Gerät hielt der Beanspruchung im Schulunterricht tatsächlich stand, wie spätere Untersuchungen ergaben. Die zwei langlebigen Knopfzellen zur Energieversorgung reichten etwa 2000 Stunden, die automatische Abschaltung der Stromversorgung nach sechs Minuten sparte Energie.

Da weitgehend gesichert war, das Schulrechner in den entsprechenden Dienstleistungseinrichtungen innerhalb von 14 Tagen repariert wurden, seien „günstigere Bedingungen für eine vertiefte mathematische Bildung der Schüler“ entstanden, beruhigten Forscher die Bedenken von Eltern, dass Kinder das Kopfrechnen verlernen und ohne Taschenrechner hilflos sein könnten.

Eigentlich aber ging es den DDR-Verantwortlichen um noch viel mehr: „Der Taschenrechner ist der Einstieg in die informationsverarbeitende Technik“, hieß es, „durch den frühzeitigen Umgang mit solchen Geräten wird das Entstehen großer Hemmschwellen verhindert.“ Die Schüler würden an Denk- und Arbeitsweisen herangeführt, die für den Umgang mit informationsverarbeitenden Einrichtungen von großer Bedeutung seien, glaubte man.


Donnerstag, 2. Februar 2017

Carsten Mohren: Bis zum Ende leben


Im November vergangenen Jahres wusste Carsten Mohren, den seine Kollegen nur „Beathoven“ nannten, dass ihm nur noch kurze Zeit zu leben blieb. Mund- und Rachenkrebs im Endstadium, die Ärzte gaben dem Musiker mit den flinken Klavierfingern kein halbes Jahr mehr zu leben. Doch Carsten Mohren, aufgewachsen im Haus des Puhdys-Gitarristen Dieter Hertrampf, wollte trotzdem noch einmal raus, noch einmal auf die Bühne, noch einmal diese wilden, ekstatischen Konzerte spielen, für die seine Band Rockhaus bekannt war.

Also zogen sie los, die fünf Männer um Sänger Mike Kilian, die 1978 beschlossen hatten, erfolgreicher als die Puhdys zu werden. Carsten Mohren, schmal geworden und geschwächt von seiner Krankheit, stand mit dicker Brille auf der Bühne, er schmunzelte oft und spielte doch, als ob nichts gewesen sei: Ein Klavier bei „Parties“, das Schifferklavier bei „Blutrot“ und die Kirchenorgel bei „I.L.D.“. Rockhaus waren, knapp 40 Jahre nach der Gründung, 30 nach ihrem größten Erfolg mit dem Album „I.L.D.“, 20 Jahre nach der Auflösung und zehn nach dem Comeback zurück im Glück, mit vollen Hallen und Zusatzkonzerten.

Für Carsten Mohren, der immer auch als Komponist, Produzent und Toningenieur etwa für die Puhdys, Karat, Dirk Michaelis und Regina Thoss gearbeitet hatte, das Ziel aller Wünsche. Mit acht Jahren hatte er begonnen, Klavierunterricht zu nehmen. Mit 18 spielte er neben dem späteren Pankow-Frontmann André Herzberg in der Gauckler-Rockband, mit Mitte 20 wechselte er genau in dem Moment zu Rockhaus, als aus der Teenie-Truppe eine Band wurde, die ernsthafte Fragen in großen Rockhymnen wie „Mich zu lieben“ abhandelte. Woher kommt diese Einsamkeit? Was stellt diese Gesellschaft mit denen an, die in ihr leben?

Die Antwort ist offen, auch nach dem letzten Rockhaus-Album „Therapie“, das im Titel schon auf Mohrens schwere Erkrankung anspielte. Der Keyboarder, der auf seiner letzten Tour noch half, das erste Rockhaus-Live-Album einzuspielen, starb am Dienstag in einer Berliner Klinik.

Carsten Mohren wurde nur 54 Jahre alt.

Dienstag, 31. Januar 2017

Katrin kandidiert: Flügelschlag einer lahmen Ende

Ende und Anfang: Die letzte Schlagzeile mit Katrin Budde - und ihr Comeback.
Als Wahlkampf war es kaum zu bezeichnen, was SPD-Landeschefin Katrin Budde vor einem Jahr ablieferte. Null Öffentlichkeitsarbeit, kein Internetwahlkampf, dazu vor allem fehlende Inhalte und falsche Schwerpunkte.

Für die SPD führte die Landtagswahl erwartungsgemäß ins komplette Desaster. Nie zuvor wurde die sozialdemokratische Partei so abgestraft. Mit unter zehn Prozent der Stimmen lag die Partei, die noch vor einigen Jahren den Ministerpräsidenten stellte, in einem Bereich, in dem der nächste Schub nach unten die Existenz bedroht.

Katrin Budde, vorher noch siegesgewisse Spitzenkandidatin, hielt trotzdem noch ein paar Tage tapfer an ihrem Posten fest. Warum, das lässt sich inzwischen vermuten: Die Diplom-Ingenieurin aus Magdeburg handelte als Abfindung das Versprechen ein, einen der mutmaßlich nur zwei sicheren Listenplätze der SPD für den nächsten Bundestag zugesprochen zu bekommen.

Den hat Katrin Budde jetzt mit Platz 2 der Landesliste überreicht bekommen. Dazu muss man wissen: Karamba Diaby aus Halle hatte es bei der letzten Bundestagswahl nur mit Ach und Krach ins Parlament geschafft, weil wegen des schlechten Wahlergebnisses nur vier Abgeordnete aus Sachsen-Anhalt über die Landesliste in den Bundestag einzogen.

Schneidet die SPD im Herbst nun  so ähnlich ab wie im März letzten Jahres bei der Landtagswahl, wäre die Bundestagskarriere von Diaby, der hinter Budde Platz 3 der Landesliste belegt, nach einer Legislaturperiode schon wieder zu Ende. Im Bundestag säße dann für die Sachsen-Anhalt-SPD neben Landeschef Lischka allenfalls noch jene Katrin Budde, deren politisches Wirken seit ihrem Rücktritt vom Landesvorsitz und vom Chefposten der Landtagsfraktion an das eines Ruheständlers erinnert.

Budde lässt auf ihrer Homepage schweigen und sie schweigt bei Twitter, sie hat ihre Facebook-Seite gelöscht und auf dem verbliebenen privaten Rest nie wieder etwas geschrieben. Budde, die Magdeburgerin, die in ihrem neuen Wahlkreis Mansfelder Land - 80 Kilometer entfernt - von nicht einmal vier Dutzend SPD-Mitgliedern nominiert wurde, hat öffentlich nie mehr von sich hören gemacht. Sie ist im Landtag mit einer einzigen Kleinen Anfrage aufgefallen und auch ihr letztes Lebenszeichen auf der Landtagshomepage stammt von irgendwann vor der verlorenen Landtagswahl.

Wie kann das gehen? Wie kann eine Partei, die sich anschickt, mit Martin Schulz große Ansprüche anzumelden, jemanden zum Spitzenkandidaten machen, der offenkundig längst seinen Abschied aus der aktiven Politik genommen hat? Gibt es eine Rückkehr? Mit welcher Botschaft?

Noch hat der Wahlkampf nicht begonnen, da hat die SPD schon ein ernstes Kandidatenproblem.

Die SPD im Archiv: Das System Magdeburg




Samstag, 28. Januar 2017

Als der Punk nach Deutschland kam


Als der Punk in Deutschland vor 40 Jahren aus den Probekellern kroch, war der Berliner Gerrit Meijer mit seiner Band PVC dabei.

Am Anfang sind Eddie Cochran, Elvis und Chuck Berry. Da ist Gerrit Meijer 14 Jahre alt und in Ami-Musik verliebt. So sehr, dass den Jungen aus Berlin die Empörungswellen in den Medien nach einem außer Rand und Band geratenen Bill Haley-Konzert im Sportpalast nur von einem überzeugen: Das ist es, das ist die Musik für mein Leben.

Ein halbes Jahrhundert später schaut Meijer, unterdessen knapp vor der 70, in einem Buch auf „die unzensierte Geschichte“ (Untertitel) von „Berlin. Punk. PVC“ (Titel) zurück. Die hat er, der staatenlose Sohn eines holländischen Zwangsarbeiters und dessen deutscher Frau, als Akteur erlebt. Meijer, der mit sechzehn seine erste akustische Framus-Gitarre bekommt, wird in den siebziger Jahren zu einem der Pioniere des Punk in Deutschland, ohne es jemals zu einer Berühmtheit zu schaffen, die es ihm erlaubt hätte, sorgenfrei von seiner Musik zu leben.

Meijers Band PVC ist ihrer Zeit zu weit voraus. Nur ein paar Monate nach den ersten aufsehenerregenden Berichten über die Sex Pistols und The Clash in Großbritannien begegnen sich Meijer und seine späteren Bandkollegen Jürgen Dobroszcsyk, Raymond Ebert und Knut Schaller bei einem Konzert den englischen Punkband The Vibrators im Berliner Kant-Kino.

Gerrit Meijer hat zu dieser Zeit schon knappe zehn Jahre in allerlei Gruppen hinter sich. Während er Maschinenschlosser lernt und als Gartenbauer und Lagerarbeiter jobbt, macht er immer irgendwo mit irgendwem Musik.

Allerdings braucht es den Do-it-yourself-Gedanken des Punk, der dem frühen Fan der Punkpioniere von den New York Dolls das Selbstbewusstsein verlieht, in Deutschland selbst eine Art Pionier zu werden. Gerrit Meijer, ein Lebenskünstler, der von seinen großen Träumen nicht lassen will, findet mit PVC erstmals die Möglichkeit, auch ohne alles überstrahlende Virtuosität auf seinem Instrument auszudrücken, was ihm auf der Seele brennt. Reisen nach London und Platten der Ramones, von Iggy Pops Stooges und Television zeigen dem kurz vor seinem 30. Geburtstag stehenden Hobby-Musikanten, dass der Abstand nach oben nicht mehr so groß ist wie noch zu Zeiten der Superbands und Megagitarristen mit ihren abendfüllenden Soli.

PVC spielen simplen, auf drei Akkorden hüpfenden Rock mit überschaubarem Melodiengehalt und knappen Botschaften. „Wall City Rock“ ist ihr erster Hit, eine Botschaft aus Berlin an die Welt, die zum Kultsong wird.

Nur hilft das wenig, um Geld damit zu verdienen. Gerrit Meijers Buch, das zuallererst eine Autobiografie ist, beschreibt die endlosen Versuche, aus dem Anfangserfolg etwas Dauerhaftes, Nachhaltiges zu machen. Doch Musiker sind Diven, Drogen liegen auf jedem Tisch und die Vorstellungen sind immer verschieden, selbst wenn alte Bandkollegen gehen und neue an ihren Platz rücken.

Die Berliner Punk-Pioniere PVC mühen sich. Vergeblich. Es dauert Jahre bis zu ersten Platte. Als sie dann erscheint, ist Punk heiß wie eine Tiefkühltruhe und Gerrit Meijer eine Art Betriebsnudel der Szene. Er hat Größen wie Iggy Pop kennengelernt, mit dem späteren Ideal-Gitarristen Eff Jott Krüger zusammengespielt und die Ärzte inspiriert, die all das erreichen werden, wovon er immer geträumt hat.

Zum eigenen großen Ruhm hat es dagegen nie gereicht, zum großen Geld ebensowenig. Aber immerhin lobt Oberarzt Bela B., der 1979 sein erstes Punkkonzert besuchte und dabei Gerrit Meijers Band PVC erlebte, den deutschen Punk-Senior heute in höchsten Tönen: „Diese Haltung - konsequenter als jede Tätowierung.“


Donnerstag, 19. Januar 2017

Reinhard Heydrich: Die blonde Bestie aus der Gütchenstraße


Reinhard Heydrich war Himmlers rechte Hand und Hitlers Hirn bei der Planung des Holocausts. Geboren in Halle und aufgewachsen in der Gütchenstraße, machte der Sohn eines Opernsängers und Musikschulgründers nach seinem Rausschmiß aus der Marine schnell Karriere in der SS. Doch Gerüchte um eine angebliche jüdische Abstammung begleiteten die "blonde Bestie" ein Leben lang.


Es war das mehrbändige Riemannsche Musiklexikon, das den strammen Antisemiten Reinhard Heydrich in Verlegenheit brachte, noch ehe sein ganz großer Aufstieg in der Nomenklartura des Dritten Reiches begonnen hatte. In jenem Lexikon, seinerzeit ein Klassiker, wurde Heydrichs Vater Bruno, ein in der halleschen Gütchenstraße ansässiger Opernsänger, Komponist und Musikschul-Betreiber, mit dem Hinweis erwähnt, er heiße standesamtlich eigentlich „Isidor Süß“. Süß war ein weitverbreiteter Nachname unter jüdischen Familien - Heydrich sah sich plötzlich einer von Hitlers Ziehvater Gregor Strasser angeordneten Untersuchung durch Rudolf Jordan, den Gauleiter von Halle-Merseburg ausgesetzt, deren Ziel es war, seine vermeintlichen jüdischen Wurzel offenzulegen.

Stein ohne Vornamen


Ein Vorhaben, das auf der These beruhte, Reinhard Heydrich sei quasi aus Hass auf seine eigene Abstammung Nationalsozialist und Judenfeind geworden. Gerüchte gingen um, nach denen der Chef des Reichssicherheitsdienstes Vertraute veranlasst habe, Kirchenbücher entwendet und dafür zu sorgen, dass das Grab seiner jüdischen Großmutter auf einem Leipziger Friedhof mit einem neuen Stein ohne deren Vornamen Sarah versehen wird. Einer anderen Variante der Geschichte zufolge sollte Heydrich die Großmutter gar exhumieren  und in Dänemark neu bestattet lassen haben.

Fake News in einem Zeitalter, als es den Begriff noch nicht gab. Erfunden hatte sie in diesem Fall offenbar ein Schüler von Heydrichs Vater, von Beruf Bäckermeister in Halle und familiär mit dem Herausgeber der Enzyklopädie verbunden. Bruno Heydrich hatte den Mann aus seinem "1. halleschen Konservatorium für Musik und Theater" geworfen. Der Geschasste rächte sich, indem er behauptete, es bestehe eine Blutsverwandschaft Heydrichs zu einem jüdischen Vorfahren.

Der Kern des Vorwurfs, der aufgrund der Fixierung der Nazis auf "Rasse" und "Abstammung" gehalten war, jede Karriere zu zerstören, lag im frühen Tod von Heydrichs Großvater. Die Großmutter des späteren Massenmörders hatte daraufhin, alleingelassen mit insgesamt sechs Kindern, einen Mann namens Süß geheiratet, der ihr half, die Kinder ihres ersten Ehemanns großzuziehen.

Heydrich klagte gegen den Verlag wegen Verleumdung und gewann den Prozess, der, so heißt es später in einem Buch des SS-Mannes Wilhelm Höttl, "dank der Presselenkung keinerlei Aufsehen erregte". Doch das Gerücht wurde er nicht los. So hoch der Hallenser in der Nomenklatur der Nazis stieg, so stetig hielt sich die Geschichte über die jüdischen Wurzeln des Mannes, der die Wannsee-Konferenz organisierte und dort zum obersten Planer des Vernichtungsfeldzuges gegen die europäischen Juden wurde. Heydrich habe seine "jüdischen Wurzeln" überwunden, soll Himmler über seinen wichtigsten Mann gesagt haben - offenbar lebte selbst der Herrscher des SS-Schreckensreiches im Glauben, irgendetwas müsse an der  Geschichte schon dransein.


Lückenhafte Ahnentafel


Auch lange nach dem Tod Heydrichs, auf den tschechische Widerstandskämpfer im Sommer 1942 in Prag  einen Anschlag verübten, hielten sich die Erzählungen über den antisemitischen Juden nicht nur, sie schienen auch immer mehr Begründungen zu finden. Als nach dem Krieg entdeckt wurde, dass in seiner bei der SS amtlich geführten Ahnentafel Name, Herkunft und Geburtsort der Großmutter fehlten, kam selbst Robert Kempner, einer der Anwälte im Nürnberger Kriegsverbrecherprozess und der Entdecker des Wannsee-Protokolls über die Beschlüsse zur Ermordung von Millionen Juden zum Schluss, dass Heydrich seine Biografie gefälscht habe.

Erst Mitte der 60er Jahre gelang es dem israelischen Historiker Schlomo Aronson dann, den Beweis zu führen, dass der Organisator des Holocaust kein Jude war, sondern ein Mann aus den deutsch-konservativen, bürgerlichen Kreisen Halles.



Dienstag, 10. Januar 2017

Unity Mitford: Adolfs It-Girl

Sie ist blutjung, wunderhübsch, reich und aus bestem Hause. Dann aber  verliebt sich die englische Adelstochter Unity Mitford in Deutschland, den Führerstaat und vor allem in Adolf Hitler, den sie liebt, vergöttert und über Jahre begleitet. Der Anfang eines tragischen Endes für eine Frau, deren Rebellentum bis heute ein Rätsel ist. 


Die Frau mit den strahlenden Augen, dem dunkelblonden Haar und den rot angemalten Lippen wartet vergebens im Münchner Café „Osteria Bavaria“. Doch immer wieder findet sie sich ein, liest in der „Vogue“, schaut aus dem Fenster und trinkt Tee. Unity Valkyrie Mitford ist geduldig, denn sie ist auf der Jagd. Auf der Jagd nach ihrem Idol, ihrer großen Liebe. Auf der Jagd nach Adolf Hitler.
Der geht in jenem Jahr 1935 ein und aus im In-Restaurant der Münchner Schickeria. Nur erwischen muss man ihn. Unity Mitford, eines der sieben Kinder von David Bertram Ogilvy Freeman-Mitford, 2. Baron Redesdale, und seiner Ehefrau Sydney Bowles, ist zudem die Cousine von Clementine Churchill, der Ehefrau von Winston Churchill, und die Tante des späteren Formel-1-Funktionärs Max Mosley. Sie wartet wochenlang.

Manchmal sieht sie ihren geliebten Führer vorübergehen. Gelegentlich nickt er ihr sogar erkennend zu. Doch erst am 9. Februar 1935 gegen 15 Uhr bittet Hitler Unity Mitford an seinen Tisch. Am nächsten Morgen schreibt die 21-Jährige übersprudelnd vor Gefühl an ihre Schwester Diana: „Gestern war der wundervollste und schönste Tag in meinem Leben.“


Sonderbare Affäre


Es ist der Beginn einer sonderbaren Affäre zwischen der jungen Engländerin aus bestem Hause und dem verhinderten Kunstmaler aus Österreich, der es bis zum deutschen Reichskanzler bringt und die Welt anschließend in die tiefsten Abgründe stürzt, die die Straubinger Schriftstellerin Michaela Karl in ihrem Buch „Ich blätterte gerade in der Vogue, da sprach mich der Führer an“ beschreibt.

Unity Mitford, die bis zum Ausbruch des Zweiten Weltkrieges zu Hitlers Girl werden wird, vereint zwei Welten in sich. Hier ist die wohlerzogene Adlige aus gutem Haus, die sich zu benehmen weiß. Und dort die Rebellin, die sich nicht benehmen will, wie es ihre Umgebung von ihr erwartet. Unity ist ebenso schön wie romantisch veranlagt, sie kennt keinen Respekt vor Traditionen und glaubt mit großer Selbstverständlichkeit an übernatürliche Erscheinungen. Mehr als zu Menschen fühlt sie sich zu Tieren hingezogen. Mehr als nach einer Lebensaufgabe für sich selbst sucht sie nach dem künftigen Weg für die Gesellschaft.

Als ihre Schwester Diana den englischen Faschistenführer Oswald Mosley kennenlernt und seine Geliebte wird, fühlt sich Unity Mitford angesprochen von dessen Parolen. Ihr gefallen die Uniformen, das Strenge, Disziplinierte, die Märsche, Stiefel und Ledergürtel. Zwischen ihren Besuchen bei den großen Bällen der Londoner Gesellschaft ist Unity Mitford bald vor allem damit beschäftigt, Hitler anzuhimmeln. Seit dessen früher Förderer Ernst „Putzi“ Hanfstaengel sie zum ersten Mal nach Deutschland eingeladen hat, ist Unity vom Führerstaat fasziniert. Ein Besuch beim Reichsparteitag in Nürnberg macht die britische Adlige endgültig zum Führer-Girl.
Auch die Nazis sind beeindruckt, selbst wenn Göring und Goebbels das offensive Make Up von Unity und ihrer Schwester Diana kritisieren. Hitlers Rassehetzer Julius Streicher zeigt sich begeistert von den „Mustern nordischer Schönheiten“. Und Unity vom Nazi-Chic: Mit 304 Führerpostkarten im Gepäck tritt sie die Heimreise an. Nach Hause ins alte England aber gelangt sie nie wieder.

Unity Mitford ist jetzt mehr Nationalsozialistin als Britin. Lässt sie sich von Hitler anfangs noch beglückt Autogramme geben, hat sie den Führer bald so weit, sie in seinen innersten Kreis vorzulassen. Unity Mitford ist 1,80 groß, kräftig und ihr zweiter Vorname ist Valkyrie, also Walküre, der Titel einer Oper des von Hitler so geschätzten Richard Wagner, mit dem Unitys Großvater Bertie persönlich befreundet war. Adolf Hitler ist hingerissen, er sieht in Unity den Vorboten eines Siegeszuges des Nationalsozialismus auf der Insel. Danach werde sein Wunsch, mit Großbritannien auf Augenhöhe über eine Aufteilung der Welt zu verhandeln - Deutschland bekommt Europa, England den Rest -, nur noch Formsache sein, glaubt er.

Dank ihres britischen Passes lebt Unity Mitford das globalisierte Leben des Jet Set. Im schnittigen Kleinwagen braust sie durch Europa. Hitler nimmt sie mit zur Hochzeitsfeier von Göring und sie ist zum Diner mit Ribbentrop und Goebbels verabredet. Sie gibt dem Nazi-Regime Weltläufigkeit und internationalen Anschein. Sie selbst sei wohl „irgendwie hingerissen von dem Glanz und dem Auftreten der nationalsozialistischen Bewegung und der Massenbewunderung für Hitler“, notiert der britische Nazi-Führer Mosley nach einem Abendessen in Hitlers Münchner Wohnung, an dem neben Winifred Wagner auch Unity teilnehmen darf.

Die 21-Jährige ist jetzt das It-Girl des Dritten Reiches. Während die Nazis ihre ersten Feinde in Lager bringen, wirft sie Knallerbsen aus ihrem Fenster in der Kaulbachstraße. Sie macht nackt Frühsport und liegt ebenso nackt im Englischen Garten. „Good Girl“, nennt sie eine Mitbewohnerin ironisch. Daheim auf der Insel kann darüber niemand lachen. Unity Mitford gilt in den späteren 30er Jahren nicht mehr nur als Oberklassenmädchen mit verschrobenen Vorlieben, sondern als Staatsfeindin.

Doch Unity lässt sich nicht beeindrucken. Viel zu sehr ist sie eingenommen von der Hingabe, die der Mann, den sie in Briefen als „den süßen Führer“ bezeichnet, ihr widmet. Selbst Eva Braun wirkt ungehalten über beider Nähe, wie ein Tagebucheintrag verrät. „Er“ habe jetzt einen Ersatz für sie, schreibt Hitlers Geliebte: „Sie heißt Walküre und sieht so aus, die Beine miteingeschlossen.“
Dass Hitler mit der jungen Britin Gespräche über Politik führt und ihr sogar gestattet, ihm zu widersprechen, erstaunt unter anderem Hitlers Architekten Albert Speer. Dass sie 1936 als Hitlers Ehrengast bei den Olympischen Spielen weilt, überrascht niemanden mehr. Das Mädchen von der Insel gehört zum festen Nazi-Inventar.


Kugel in den Kopf


Eine Stellung, die Mitford mit Kriegsausbruch in eine Zwangslage bringt. Unter nie geklärten Umständen trifft eine Kugel sie am 3. September 1939 mitten in München in den Kopf. Es ist der Tag der britischen Kriegserklärung an Deutschland - und Unity hat wohl selbst abgedrückt. Von den Hirnschäden, die die 25-Jährige durch das Geschoss erleidet, erholt sie sich nie wieder. Unity Mitford wird schwer verletzt nach England zurückgeholt, hier lebt sie halb gelähmt und angefeindet bis zum Mai 1948, als sie an den Folgen einer Meningitis stirbt. Sie ist gerade 33 Jahre alt. Und hat Hitler nie abgeschworen.

„Ich blätterte gerade in der Vogue, da sprach mich der Führer an“, Hoffmann und Campe, 400 Seiten, 22 Euro