Montag, 21. Juli 2014

Cro: Rap fürs Reihenhaus


Der schwäbische Hip-Hopper Carlo Waibel legt mit seinem zweiten Album eine Sammlung von Popsongs für die ganze Familie vor.

Von wegen Rap! Zwar steht das Werk von Carlo Waibel, der sich im Dienst kurz Cro nennt, in den großen Elektromärkten in der Ecke mit dem Sprechgesang. Doch schon auf Cros Debütalbum "Raop" war der Mann, der sein Gesicht stets hinter einer Panda-Maske verbirgt, mehr Fanta Vier als Public Enemy. Mit "Melodie", dem zweiten professionell eingespielten Album, setzt der 24-Jährige nun noch einen drauf. Die 14 Stücke sind rund und knackig, fett produziert und mit ordentlichen Melodien versehen, die Rap-Passagen flutschen und die gesungenen Teile bleiben im Ohr.

Rap aus dem Reihenhaus, auch inhaltlich. Waibel, der mit seinem Debüt zum neuen deutschen Hip-Hop-Wunder wurde und abräumte, was es an Preisen zu gewinnen gab, beschäftigt sich hier mit dem Lieblingsthema aller Rapper: sich selbst, seinen Homies und den erstaunlichen Folgen von Ruhm und Erfolg für die jugendliche Psyche.

"Könnt ich durch die Zeit fahren mit 'nem schnellen Auto / würd ich alles noch mal tun und zwar genauso", genießt der Bambi-Preisträger und Chartstürmer die frühen Früchte einer Karriere, die er im zarten Alter von zehn Jahren im heimischen Kinderzimmer in Mutlangen anschob. Hier fummelte er damals erste Aufnahmen zusammen, später brachte er sich Klavier und Gitarre bei, mit 16 startete er unter dem Namen Lyr1c auf einer Internetplattform für Online-Reimbattles mit anderen Rappern.

Mit "Raop" erfand er dann seine ganz eigene Mischung aus Rap und Pop, die die Ghettomusik der amerikanischen Großstädte für das deutsche Formatradio übersetzte. Spartenüblich ohne Angst vor großen Namen: In seinem ersten Hit "Easy" verglich sich Cro mit US-Großmeister Jay-Z, der damals schon auf neun Nummer-1-Alben verweisen konnte, mit Beyoncé Knowles verheiratet war und seine eigene Modefirma Rocawear besaß.

Cros Modelabel heißt Vio Vio und bestand schon vor dem ersten Erfolg auf dem Musikmarkt. Carlo Waibel ist ausgebildeter Mediengestalter, er hatte ursprünglich eigentlich vor, in Mode zu machen.
Muss er nun nicht mehr, denn auch "Melodie" schoss sofort nach Veröffentlichung auf Platz 1 in der Hitparade - wohl nicht eben zur völligen Überraschung des Herstellers, der im Opener "I can feel it" vorhersagt "direkt auf die 1 gechartet / letztes Album zweimal Platin". Das Patentrezept für Ohrwürmer wirkt: kleine Heimorgelmelodie, verschleppter Beat, fetter Bass und flinke Zunge, fertig ist eine schmissige Nummer, die auf jeder Party bestehen kann.

Cro dosiert dabei geschickt. "Cop Love" ist die Morgenballade, leicht angejazzt und mit Schlaf in den Augen, "Bad Chick" dagegen die fröhliche Beziehungskiste mit heruntergepumpten Abzählreimen und einem Augenzwinkern in Richtung Michael Jackson als Refrain.

Musik, die zu Holzparkett und Latte-Kaffee passt, zum neuen Samsung-Handy und einem Paar weißer Beats-Kopfhörer, die sich aber auch bedenkenlos zum Geburtstag verschenken lässt, ziemlich egal sogar an wen. Denn Cro hat keine Botschaft außer der, nicht alles so hoch zu hängen und dabei möglichst locker zu bleiben. Bei "Meine Gang" schlurft er im Reggae-Rhythmus vorbei, bei "Erinnerung" leitet schweres Orchestergesülze in ein cinemascopisches Werk, in dem der Künstler auf sein Leben zurückschaut und feststellt, dass es ihm ganz gut geglückt ist, aus einer zunächst abgebrochenen Schullaufbahn und keiner Ahnung von einem Ziel so etwas Großes wie diesen Pop-Panda zu bauen. Die Beats sind hier schlurfig, die aus Bandwurmsätzen gebastelten Melodielinien voller Widerhaken. Die aber sind doch so gut versteckt, dass sie runtergehen wie Öl.

Dienstag, 15. Juli 2014

Training für den Jihad: Hitlers Inder in Sachsen-Anhalt

Amin Ullah hatte einen kurzen Anreiseweg. Aus Hamburg kam der gebürtige Inder nach Annaburg im heutigen Sachsen-Anhalt, um sein Leben der allergrößten Aufgabe zu widmen. Ullah, der eigentlich wohl Amin Chand Chowdhury hieß, war entschlossen, an der Befreiung seines Heimatlandes von der Kolonialmacht Großbritannien mitzuhelfen. Der beste Ort dafür war in jenem Sommer 1941 die ehemalige Unteroffiziersschule in dem kleinen Städtchen Annaburg in der Nähe von Wittenberg. Als StaLag 4 DZ wurde das Gelände um das 1881 errichtete Schulgebäude zu einem Ort der besonderen Verwendung: In den vier Jahren bis Kriegsende internierte die Wehrmacht hier Inder, die als Angehörige britischer Truppenverbände in Gefangenschaft geraten waren.

Amin Chand Chowdhury war ein anderer Fall. Der Mann, der in Annaburg bei einem Fleischermeister außerhalb des Lagers unterkam, hatte schon im Ersten Weltkrieg die Seiten gewechselt. Statt als Untertan Ihrer Majestät gegen das Deutsche Reich zu kämpfen, kam das Mitglied der im US-Exil gegründeten indischen Freiheitspartei Ghadar eigens nach Deutschland, um hier unter kriegsgefangenen Indern nach Männern zu suchen, die bereit waren, ihre Kanonen herumzudrehen und an der Seite der Deutschen gegen das britische Empire ins Feld zu ziehen.

Das führte im Ersten Weltkrieg immerhin rund eine Million Inder als Soldaten. Indische Sepoy- und Sikh-Soldaten kämpften nicht nur in Asien, sondern auch an der Westfront in Frankreich. Rund eintausend von ihnen gerieten in deutsche Gefangenschaft oder desertierten. Für die Deutschen schon bald nach Kriegsbeginn Grund für eine neue Strategie: In einem sogenannten "Inderlager" im brandenburgischen Zossen wurde versucht, indische Sikh- und Hindu-Soldaten mit Hilfe von Exilanten wie Amin Chowdhury und dem in Berlin residierenden Indischen Unabhängigkeitskomitee zum Kampf gegen das Vereinigte Königreich zu mobilisieren. Der deutsche Vordenker Max von Oppenheim redete Klartext, als er das eine" Jihad-Strategie" nannte.

Der Feind meines Feindes ist mein Freund, nach diesem Motto verbündeten sich die beim Kampf um ein Kolonialreich zu spät gekommenen Deutschen mit den Indern, die ihre Kolonialmacht gern abgeschüttelt hätten. Doch während die indische Seite von einer Indischen Legion träumte, die über die Türkei, den Iran und Afghanistan nach Indien marschieren könnte, ging es der Reichswehr eher um die Gewinnung von Freiwilligen, die mit den normalen Truppen an die Front ziehen sollten.
Bei den gefangenen Indern, die in Zossen mit indischem Essen versorgt und zum Leben nach ihren Glaubensgrundsätzen ermutigt wurden, kam beides nicht gut an. Nur wenige Inder wechselten die Seiten. Die "Jihad"-Strategie scheiterte auch daran, dass die deutsche Seite in den Indern letztlich keine Partner, sondern nur nützliche Hilfstruppen und Propagandawerkzeuge gegen die Briten sah.

Dennoch fand dieselbe Koalition auch ein knappes Vierteljahrhundert später wieder zusammen, diesmal in Annaburg. Bereits seit Anfang der 30er Jahre hatte Subhash Chandra Bose, Ex-Oberbürgermeister von Kalkutta, Vorsitzender des Indischen Nationalkongresses und wegen seines Engagements für die Unabhängigkeit mehrfach zu Haftstrafen verurteilt, in Europa nach Verbündeten im Kampf gegen die Briten gesucht. 1941 traf der inzwischen aus seiner Heimat geflüchtete Netaji (zu deutsch "Führer") aus Moskau kommend in Berlin ein, wo seine Idee der Gründung einer "Indischen Legion" nach Monaten der Bettelei schließlich von Hitler persönlich genehmigt wurde. "Indien ist der Kern des englischen Empire", befand der, "wenn England Indien verliert, stürzt die Welt ein."

In Annaburg und später auf dem Truppenübungsplatz Königsbrück in Sachsen versuchte Bose mit seiner Zentrale Freies Indien, eine Kerntruppe für die erträumte Indische Legion zu gründen. Dabei paktierte der mit einer Österreicherin verheiratete Unabhängigkeitskämpfer mit allen, die seiner Sache hilfreich zu sein schienen. Die Soldaten der Legion trugen Wehrmachtsuniform plus Turban, unterstanden aber der Waffen-SS, sie schworen Bose die Treue, aber auch Adolf Hitler. "Gebt mir Blut und ich gebe Euch die Freiheit", versprach Bose seinen Männern.

Die Erfolge der Bündnistaktik blieben überschaubar. Den indischen Kriegsgefangenen ging es nach Zeitzeugenberichten gut, sie bekamen zusätzliche Verpflegung vom Roten Kreuz und mussten bei örtlichen Bauern und in regionalen Fabriken nur leichte Arbeiten verrichten. Niemand wurde zur Arbeit gezwungen, alles war freiwillig, teilweise schliefen die Arbeitstrupps sogar unbewacht außerhalb des Lagers.

Der Wille der Sepoys, das ruhige Leben in Annaburg gegen die ungewisse Zukunft eines Soldaten der Indischen Befreiungsarmee einzutauschen, war wenig ausgeprägt. Nur mühsam erreichte die Legion bis zum Januar 1943 Regimentsstärke, bis 1944 konnten die bis dahin von Deutschen eingenommenen Offiziers- und Unteroffiziersstellen weitgehend mit Indern besetzt werden.

Allerdings waren die ursprünglichen Pläne Boses da schon Makulatur. Obwohl der Netaji stets darauf gedrungen hatte, dass die Indische Legion nur beim Kampf um Indien eingesetzt werden dürfe, kam es jetzt anders. Kaum war Bose nach Japan abgereist, um die dort aus Indern in japanischer Kriegsgefangenschaft gebildeten Einheiten zum Vormarsch auf die Heimat zu führen, verlegte das deutsche Oberkommando einen Teil der Legion nach Holland, einen anderen nach Frankreich. Es kam zu Befehlsverweigerungen und Protesten, aus Fernost musste Bose seine Männer auffordern, den Kampf gegen die Briten "an jedem Ort" zu führen - auch in Europa.
Dazu aber kam es nicht mehr. Nach der Landung der Alliierten in der Normandie geriet die Indische Legion in den Strudel des Rückzuges. Bei Straßenkämpfen in Sancoin starb der Leutnant Ali Khan, ein Obergefreiter namens Mohammed Rashid schoss zwei US-Panzer in Brand. Die geplante Flucht bis in die Schweiz endete im Allgäu - und sie brachte das Ende der Indischen Legion. Deren Angehörige wurden an die Briten übergeben, die sie zurück nach Indien brachten, um ihnen den Prozess zu machen.

Subhash Chandra Bose war bereits im August 1945 bei einem Flugzeugabsturz gestorben - unter rätselhaften Umständen und ohne dass je ein Leichnam gefunden wurde. Der Indische Nationalkongress bezog dennoch klar Stellung. Man stellte den wegen "Kriegführung gegen den König" angeklagten Ex-Legionären mit Jawaharlal Nehru den Privatsekretär Mahatma Gandhis zur Seite. In Indien galten die Deserteure damit als Märtyrer der nationalen Sache und Helden im Befreiungskampf, trotz ihres Bündnisses mit der falschen Seite. Nur drei Soldaten der Indischen Legion wurden wirklich angeklagt und verurteilt, auch sie kamen bereits 1947 wieder frei, als Indien seine Unabhängigkeit von Großbritannien erzwingen konnte.


Vergessener Held
Mahatma Gandhi und Jawaharlal Nehru kennt jeder, Subhash Chandra Bose dagegen niemand, zumindest in Deutschland. In Indien dagegen gilt der Mann, der den bewaffneten Kampf gegen die britische Kolonialmacht predigte, bis heute als Nationalheiliger. 70 Jahre nach seinem Tod wird das Leben des Gründers der Indischen National-Armee und deren Schicksal jetzt in mehreren Büchern beleuchtet.STKLiteratur zum Thema: Franziska Roy ( Hrg.), Soldat Ram Singh und der Kaiser, Draupadi, 24,90 Euro;

Mittwoch, 25. Juni 2014

Fifa gegen Fußballfans: Spiel ohne Seele


In der Achtelfinal-Runde der WM ist der Kampf der Fifa gegen Fan-Fahnen zu einem Kampf gegen die Fans insgesamt geworden

Halle/MZ. Als sie die Hymnen spielten im Estadio Beira-Rio, war die Fußballwelt noch halbwegs in Ordnung. Die Fans der deutschen Mannschaft freuten sich auf ein spannendes Spiel, an die Zäune im Stadion an den Ausläufern des Rio Guiba hatten sie wie immer zahlreiche Fahnen gehängt – ein Gruß in die Heimat, eine Botschaft an die Mannschaft von Trainer Jogi Löw: Wir sind hier, wir stehen hinter Euch, wir drücken Euch die Daumen. Unter den Fahnenträgern, die sich selbst die „Fahnenmafia“ nennen, sind mit Steffen Melzer und Tobias Möhring auch zwei ehemalige Hallenser, die seit Ende der 90er Jahre kaum ein Spiel der deutschen Nationalelf verpasst haben. Die Fans zuhause konnten die große Reise der beiden Allesfahrer stets verfolgen, denn die Fahne mit dem Aufdruck „Halle/S.“ war in jedem Spiel irgendwo zu sehen.

Dann begannen die Hymnen, die Kameras der zentralen Fifa-Regie fuhren die Reihen der Spieler ab. Und im Hintergrund, dort, wo niemand außerhalb des Stadions hinsehen konnte, begannen Trupps von Ordnern, die Fanfahnen abzuhängen. Beim Kurznachrichtenportal Twitter empörten sich die ersten Zuschauer unter dem Hashtag #GERALG. Tobi S. twitterte „im Hintergrund hängen die Ordner während den Hymnen die Zaunfahnen ab“, der Hertha-Fans BroetchenBond ‏@BBond030 ätzte: „Unfassbar, wie die Ordner angeschissen kommen, um die Zaunfahnen abzuhängen - pro Fankultur - #FIFA shame on you“. In einer speziell der Halle/S.-Fahne gewidmeten Facebook-Gruppe facebook.com/groups/Hallefahne/ notiert Jens Vogt „Fahnen werden schon wieder entfernt“ und Marcel Scharnow kommentiert: „Einfach nur peinlich die Fifa“.

Bereits bei den letzten Spielen der deutschen Mannschaft hatte es harte Auseinandersetzungen um die vor allem bei Deutschen, Argentiniern, Engländern und Spaniern beliebte Tradition der Zaunfahnen gegeben. Ordner und Militärangehörige gingen gegen den seit Jahrzehnten geduldeten Brauch vor. Fahnen mussten abgehängt werden, später im Spiel waren sie nur gelegentlich zu sehen, wenn die Fahnenträger sie per Hand ins Bild hielten.

Fans vermuteten damals schon, dass die Organisatoren der Fifa Angst davor haben, dass die Plakate der sogenannten „Fahnenmafia“ die Sicht auf die Werbebanden der zahlenden Sponsoren beeinträchtigen oder doch zumindest von ihnen ablenken. Der Fußball-Weltverband aber dementierte, nachdem auch der Deutsche Fußballbund das Vorgehen gegen seine Anhänger offiziell kritisiert hatte: DFB-Generalsekretär Helmut Sandrock beschwerte sich mit einem Schreiben bei der Fifa. „Tausende deutscher Fans nehmen große Strapazen auf sich, um unsere Mannschaft bei diesem Turnier zu unterstützen. Wir wünschen uns, dass sie im Rahmen der geltenden Regeln möglichst viele Freiheiten bekommen, um ihre friedlichen und stimmungsvollen Aktionen in den Stadien zeigen zu können.“

Danach ruderte die Fifa zurück, wenigstens verbal. Das Vorgehen habe auf einem "Fehler der lokalen Organisatoren" beruht, schuld sei eine "Fehlinterpretation" der Ordner gewesen, die geglaubt hätten, dass die Transparente die zulässige Größe überschritten hätten. Dies sei aber nicht der Fall gewesen. Die Fifa versicherte, dass die Fahnen aus Halle, Großblie, Spenge und zahlreichen anderen deutschen Orten in den nächsten Spielen wieder hängen dürften.

Die Bilder, Tweets und Facebook-Statuseinträge aus dem Estadio Beira-Rio aber straften die offiziellen Erklärungen Lügen. Zuschauer zu Hause bekamen die Abhängaktion meist nicht mit, wunderten sich aber wie der Twitternutzer Amateurefan ‏@NaptoFCB über „traurige und trostlose“ Tribünen sind. „Die @fifacom_de hat scheinbar sämtliche Zaunfahnen verboten“, folgerte der Fan.
Während die deutsche Mannschaft unten auf dem Rasen um das sportliche Überleben im Wettbewerb kämpfte, starb oben auf den Rängen eine „Insignie lebendiger Fankultur“, wie es das Fußballmagazin „11Freunde“ nennt. Die traditionellen Fan-Banner würden unter Protest der Anhänger zunehmend aus den Stadien verbannt, analysiert das Fachblatt in einem Nachruf, die „eine beeindruckende Farbenpracht und Vielfalt auf den Rängen“ weicht damit der Tristesse der amtlichen blauen Banden, die flankiert werden von den Werbebotschaften einer Handvoll Großsponsoren.

Ein bezeichnender Akt, denn mit dem Turnier in Brasilien erreicht der Kampf des Fußball-Weltverbandes gegen die wahren Anhänger des Sport eine neue Dimension. Als übersetze die Führungsgruppe um Fifa-Präsident Sepp Blatter das eigene Motto „All in one Rhythm“ mit „alles im Gleichschritt“, sorgte die Organisation dafür, dass die authentische Fußball-Atmosphäre früherer Weltmeisterschaften der eines Reinstraumes ohne störende Nebengeräusche. Kaum ein Spiel wird noch von echten Fangesängen begleitet, die La Ola-Welle hat die authentischen Fanchöre ersetzt, es gibt keine Fan-Choreografien mehr und statt Leidenschaft regiert die Regie einer hochtechnisierten Inszenierung, bei der störende Flitzer für die Fernsehzuschauer in aller Welt von einer zentralen Regie bei Bedarf einfach ausradiert werden, als habe es sie nie gegeben.

Der Riesenkonzern Fifa handelt mit dem Weltturnier wie mit einem Produkt, er beutet sein Monopol auf die beliebteste Sportart der Welt aus, ohne dabei von Kartellbehörden oder Wettbewerbshütern behelligt zu werden. Gewinnmaximierung ist das Ziel, dafür verzichtet Weltverbandschef Blatter sogar auf das, was Fußball größer gemacht hat als alle anderen Sportarten: Das anarchische Moment, der unkontrollierbare Effekt, wenn die Stimmung vom Platz auf die Ränge überschwappt oder die leidenschaftliche Anfeuerung der wahren Fans eines schon geschlagene Mannschaft dazu treibt, ein Spiel zu drehen.

In Brasilien muten die Ränge manchmal an wie eine tote Zone. Außer einem Geraune und ein wenig Getrommel, wenn afrikanische Mannschaften auf dem Platz stehen, kommt nicht viel Stimmung auf. Kein Wunder, sitzen doch auf den Tribünen nicht die Menschen, die das Spiel am meisten lieben, sondern die, denen der Kartenkauf am wenigstens wehtut.

Eine Umfrage des brasilianischen Instituts Datafolha hat gezeigt, dass die Stadionbesucher bei der WM überdurchschnittlich reich und überdurchschnittlich weiß sind, die Bevölkerungsgruppe mit einem Monatseinkommen zwischen 500 und 2000 Dollar stellt zwar fast 50 Prozent der Gesamtbevölkerung, ist aber nur mit neun Prozent unter den Stadionbesuchern vertreten. Es sind Menschen, das wird bei jeder Nahaufnahme des Publikums deutlich, die im Stadion vor allem unterhalten werden wollen: Ihre Vorstellung von Fußball-Fantum ist es, sich wie ein Clown bunt anzumalen, groteske Brillen zu tragen und das aktuelle Mannschaftstrikot anzuziehen. Sie jubeln am lautesten, sobald sie ihr eigenes Bild auf der großen Stadionleinwand entdecken – selbst wenn ihre eigene Mannschaft zurückliegt.

Die Fifa hat schon vor ihrem harschen Vorgehen gegen die Zaunfahnen alles getan, dem Fußball seine ursprüngliche Unkalkulierbarkeit zu nehmen. Mit hohen Eintrittspreise - Brasilianer zahlten für das Achtelfinalspiel gegen Chile bis zu 200 Dollar pro Ticket – und strengen Benimm-Regeln, mit Verboten und Auflagen. Die gehen bis zur absurden Forderung, dass die beteiligten Fußballspielern ihre eigenen Kopfhörer einer beliebten In-Marke nicht benutzen dürfen, weil ein großer Elektronikhersteller, der ein Konkurrenzprodukt herstellt, Werbepartner des Turniers ist. Öffentlich weißt die Fifa Kritik zurück. So seien in Brasilien günstigste Eintrittskarten für nur 25 Dollar werden an Studenten, Senioren und Wohlfahrtsempfänger verkauft worden, hieß es stolz. Pro Partie waren es etwa 3000, in Stadien, die das Zehn- oder gar Zwanzigfache fassen.

Die Zaunfahnen sind so nur das jüngste Opfer einer seit Jahren andauernden Eventisierung des Fußballspiels. Die Fifa zielt auf noch mehr Hochglanz, noch mehr Oberfläche, die sich für noch mehr Vermarktung eignet. Auf der Strecke bleibt dabei die Seele des Spiels – was den Fans inzwischen auch nicht mehr entgeht: „Zaunfahnen würden dem Deutschen Spiel jetzt gut tun“, twitterte @ISDT kurz vor Ende des deutschen Spiel gegen Algerien. Zwei einsame hingen da wieder, ganz oben im obersten Oberrang.

Dort, wo sie niemand sehen konnte.



Sonntag, 22. Juni 2014

Fifa und der Kampf um die Fahnen

Kampf des Weltverbandes gegen die Halle/S.-Fahne: Die Fifa hat zu Beginn der Partie der DFB-Elf gegen Ghana erneut für Unmut bei den deutschen Fans gesorgt. Grund waren Ordner im deutschen Block, die während der Begegnung in Fortaleza Fan-Plakate und Fahnen abgehängt hatten - nicht zum ersten Mal, wie es im Fanboard ultras.ws heißt. Dazu wurde beim deutschen Spiel gegen Ghana sogar Militär eingesetzt.

Doch diesmal antworteten die Anhänger der DFB-Elf darauf mit Pfiffen und skandierten "Fifa raus". Während Reporter Tom Bartels behauptete, die Banner seien abgehängt geblieben, sahen Zuschauer daheim das Transparent mit der Aufschrift Halle/S. auch nach Kloses Ausgleichstor präsent im Bild - der neue Rekord-WM-Schütze lief beim Jubel direkt an der Fahne vorüber.

Der Grund für das Vorgehen der Fifa gegen die vor allem bei Deutschen, Argentiniern und Engländern beliebten Zaunfahnen ist nach wie vor unklar. Vermutlich haben die Organisatoren Angst, dass die Plakate die Sicht auf die Werbebanden der zahlenden Sponsoren beeinträchtigen oder doch zumindest von ihnen ablenken. Der Riesenkonzern Fifa hat sich ein Monopol auf die beliebteste Sportart der Welt aufgebaut, dabei wird er von keiner Kartellbehörde überwacht, von keinem Wettbewerbshüter verfolgt und von keinem Steuerfahnder beargwöhnt. Auch wenn die Fifa in Brasilien, Deutschland oder Italien Milliarden einnimmt, wird sie in der Schweiz behandelt wie ein Kegelklub mit 15 Mitgliedern: Ihren Reingewinn versteuert die Fifa in der Schweiz mit 4,25 Prozent.

Eifersüchtig wacht sie über ihre Pfründe. Einträgen bei Twitter zufolge sollen ordner auch angegeben haben, dass dass man auf den Fahnen Parolen vermutet würden, die rassistisch oder politisch sind. Die Fifa ist hier sehr empfindlich - bereits in der Eröffnungszeremonie hatte sie ein Protestplakat, das ein Indio-Junge auf dem Rasen entrollt hatte, von der zentralen Regie zensieren lassen.
Im Fall der Zaunfahnen hat die Fifa später allerdings behauptet, das Vorgehen beruhe auf einem "Fehler der lokalen Organisatoren". Schuld sei eine "Fehlinterpretation" der Ordner gewesen, die geglaubt hätten, dass die Transparente die zulässige Größe überschritten hätten. Dies sei aber nicht der Fall gewesen.

Tröstlich für alle Follower der Halle/S.-Fahne: Im nächsten Spiel gegen die USA dürften die Plakate wieder aufgehängt werden, versicherte der Weltverband.

Ein Augenzeuge aus der Fahnenmafia berichtet direkt aus Brasilien

Freitag, 13. Juni 2014

Imperium der Bälle: Die Weltmacht hinter der WM

Vor der Halbzeit noch da, nach der Halbzeit auf Fifa-Anweisung abgehängt: Die Halle/S.-Fahne kollidiert mit dem Anspruch des Weltverbandes auf exklusive Sichtbarkeit für zahlende Sponsoren.
Zahlt kaum Steuern, beherrscht ihren Markt weltweit monopolistisch, agiert verdeckt und bekommt aller vier Jahre dennoch die Aufwartung von Regierungschefs und Staatsoberhäuptern gemacht - die Fédération Internationale de Football Association ist eine Supermacht, die ihr Hauptprodukt Weltmeisterschaft für Milliarden vermarktet.

Alles hat im Hinterhaus der Rue Saint Honoré 229 angefangen, damals, am 21. Mai vor 110 Jahren. Die Franzosen waren natürlich da, auch die Belgier, die Dänen, Schweden, Holländer und Schweizer. Aus Spanien kamen nur die Männer von Real Madrid, die Deutschen schickten am Nachmittag ein Telegramm, in dem sie ihren Beitritt erklärten. Die Fédération Internationale de Football Association, kurz Fifa, war gegründet, ein eingetragener Verein, der als Dachverband der nationalen Fußballorganisationen den internationalen Spielbetrieb koordinieren sollte.

So schlicht die Idee, so mühsam war die Umsetzung. Die Engländer, immerhin Erfinder des Fußballspiels, wollten sich nicht unterordnen. Große Turniere fanden allenfalls im Schatten der Olympischen Spiele statt. Der 1. Weltkrieg unterbrach alles. Erst nach dem Tod des Gründungspräsidenten Daniel Burley Woolfall gelang es dessen Nachfolger Jules Rimet, mit finanzieller Hilfe des uruguayischen Rinderzüchters Enrique Buero, eine erste Weltmeisterschaft auszurichten.

Ein Geschäft war mit dem Treffen der weltbesten Kicker auch in den folgenden Jahrzehnten nicht zu machen. 1974, als die Weltmeisterschaft in Deutschland gastierte, blieben am Ende nicht einmal fünf Millionen Mark Gewinn für den Weltverband hängen.

Eine Summe, die Fifa-Chef Joseph Blatter heute in der Woche einnimmt, ohne dass ein WM-Turnier stattfindet. Denn so bettelarm der Weltverband in seiner Frühzeit war, so vermögend ist er heute. 1990, als Deutschland zum dritten Mal Weltmeister wurde, verzeichnete der im Schweizer Zürich residierende Dachverband von 204 nationalen Verbänden einen Jahresumsatz von rund elf Millionen Dollar. 2009 überschritt der Umsatz erstmals die Milliarden-Dollar-Grenze und der Gewinn kratzte an der Marke von 200 Millionen Dollar.

Rund um die WM in Südafrika ging es weiter rasant nach oben: Allein der Verkauf der Fernsehrechte und der Sponsorenpakete spülten dem Verband 3,2 Milliarden Euro in die Kassen. Aus dem Turnier in Brasilien nun erwartet die Fifa nach Angaben ihres Generalsekretärs Jérôme Valcke eine weitere Steigerung: Einnahmen in Höhe von vier Milliarden US-Dollar stehen im Plan. Nach Schätzungen der Beraterfirma BDO könnte die Fußballweltmeisterschaft der Fifa sogar bis zu fünf Milliarden US-Dollar einbringen - eine satte Steigerung von rund 36 Prozent in vier Jahren seit der letzten Weltmeisterschaft in Südafrika. Und mehr als eine Verdopplung gegenüber den 2,3 Milliarden US-Dollar, die 2006 in Deutschland heraussprangen.

Eine Erfolgsgeschichte, die sich nicht nur der in Zeiten wachsender Freizeit natürlich zunehmenden Popularität des Fußballsports bei immer größeren Bevölkerungsgruppen verdankt, sondern vor allem der konsequenten Vermarktungsstrategie, die die Fifa in eigenem Auftrag betreibt.

Aus dem Hauptsitz des Weltverbandes in Zürich-Hottingen gesehen, an dem derzeit rund 400 Mitarbeiter aus über 40 Ländern beschäftigt sind, ist der Fußball, wie ihn Milliarden Menschen lieben, kein Sport, sondern ein Milliardengeschäft. Und eine Finalrunde der WM ist kein Fußballturnier, sondern ein einzigartiges Produkt, das sich auf tausenderlei Arten vermarkten, lizensieren und monetarisieren lässt. Nichts hier passiert zufällig, nirgendwo sind Lücken und Hintertürchen. Die Fußballweltmeisterschaft ist nicht nur ein riesiges Volksfest, sondern ein Markenprodukt, dessen Nutzung sich die Fifa bezahlen lässt. Der Weltverband ist Inhaber vom Namen „Fifa-World-Cup“, vom offiziellen Emblem, dem offiziellen Maskottchen Fuleco und dem Pokal, selbst der Slogan „All in one rhythm“ genießt Markenschutz. Zudem hat die Fifa-Zentrale sich eine Vielzahl von Einzelbegriffen und Wortkombinationen markenrechtlich schützen lassen, darunter „Football World Cup“, „Fan-Fest“ , „Brazil 2014“ und „WM 2014“.

Wer immer diese Logos und Marken nutzen möchte, benötigt eine Erlaubnis der Fifa. Die es nur gegen Zahlung von Lizenzgebühren gibt. Der Versuch, diese harten Regelungen zu umgehen, kann teuer werden: Einerseits ist es verboten, mit offiziellen Fifa-Artikeln und Logos zu werben. Andererseits ist es ebenso verboten, eigene ähnliche Artikel herzustellen oder zu vertreiben, warnt Svenja Harmann von der Industrie- und Handelskammer in München, die eigens einen WM-Ratgeber erarbeitet hat. Ein Bäcker darf kein „WM-Brot“ backen, eine Modeboutique keine echten Fifa-Fußbälle als Deko ins Schaufenster legen.

Wer Spiele der WM öffentlich zeigen will, muss dem „Fifa-Reglement für Public-Viewing-Veranstaltungen“ zustimmen, selbst wenn er nur ein paar Freunde in seinen Garten geladen hat. Dazu gehört dann zum Beispiel, dass er sich bereiterklärt, darauf zu achten, dass „Werbesendungselemente, die in der Übertragung des Wettbewerbs enthalten sind, in keiner Phase der Übertragung verdeckt werden“.

Eifersüchtig wacht das Imperium der Bälle über sein Premiumprodukt. Die Fifa-Division TV organisiert die Vergabe der Übertragungsrechte. Die Fifa Marketing AG besorgt die „kreative Entwicklung und effiziente Umsetzung innovativer Sponsoring-Formen“. Die Fifa-Tochter Match besorgt den Kartenverkauf für das Turnier, eine Spezialabteilung der Tochter den Weiterverkauf von zurückgegebenen Karten. Das Fifa-Unternehmen Early Warning System überwacht Sportwettenanbieter und die Fifa-Tochterfirma Transfer Matching System registriert weltweit Spielerwechsel und Transferzahlungen.

Der Riesenkonzern, der sich so ein Monopol auf die beliebteste Sportart der Welt aufgebaut hat, wird dabei von keiner Kartellbehörde überwacht, von keinem Wettbewerbshüter verfolgt und von keinem Steuerfahnder beargwöhnt. Auch wenn die Fifa in Brasilien, Deutschland oder Italien Milliarden einnimmt, wird sie in der Schweiz behandelt wie ein Kegelklub mit 15 Mitgliedern: Ihren Reingewinn versteuert die Fifa mit 4,25 Prozent. Die Steuersumme lag in den vergangenen Jahren bei rund 17 Millionen Dollar. Knapp doppelt soviel gab die Fifa für ihre Unternehmungsführung aus.

Kritik aber prallt ab. Das Imperium der Bälle hat sich ein eigenes Recht geschaffen, das hilft, seine Privilegien zu verteidigen. Einfluss auf die Führungsspitze, an der der heute 78-jährige Joseph Blatter seit 1998 unumschränkt regiert, könnten nur die Landesverbände nehmen. Die aber müssen mit Sanktionen des Weltverbandes rechnen, geben sie politischem Druck in ihren Heimatländern nach, um Licht in fragwürdige Vorgänge wie etwa die Vergabe der übernächsten WM an das Scheichtum Katar, Bestechungsvorwürfe und Korruptionsaffären zu bringen. Der schöne Schein überstrahlt alles, die Politik gibt ihren Segen durch Anwesenheit, direkt neben den Potentaten der totalen Vermarktung nehmen sie dann Platz, die Merkel und Hollande, Cameron und Gauck. 

Samstag, 7. Juni 2014

Halle/S.: Die Rückkehr der Halle-Fahne

Sie ist immer dort, wo Jogis Jungs sind, sie hängt in bester Lage, sie wirbt für Halle - kostenlos, anonym und unübersehbar. Seit mehr als zehn Jahren reisen zwei Ex-Hallenser mit einer großen Fahne mit dem Aufdruck "Halle/S." hinter der deutschen Nationalmannschaft hinterher, unerkannt und ohne Bestreben, in die Öffentlichkeit zu treten. Zu den Hintergründen hatten wir immer mal einen Text, sogar Kontakt haben wir verschiedentlich mit den beiden Fahnenträgern gehabt.

Hier mal eine Sammlung von Links zu Artikeln zum Thema aus den vergangenen Jahren, damit die bei Bedarf kompakt erreichbar sind:

EM 2012: Halle/S. für alle
EM 2012: Bildergalerie von der Fahne bei der EM
EM 2012: Harte Regeln
EM 2012: Facebook auf der Jagd
WM 2010: Ein Land auf der Suche
WM 2010: An 80 Zäunen um die Welt - wer hinter der Halle-Fahne steckt

Dienstag, 27. Mai 2014

Bass-König ruft zum Monostock-Festival

Das Leben hat Torsten Hedel böse mitgespielt. Doch der 47-jährige Musiker hat sich aufgerappelt: In seiner kleinen Werkstatt im ostenm von Halle baut er Ostdeutschlands einzige handgemachte Gitarrenverstärker. Und am 30.5. ruft er zum ersten eigenen Rockfestival in den Rockpool in der Delitzscher Straße. Dabei ist dann natürlich auch Jonas Wahlberg mit seinem Stonewall Noise Orchestra aus Schweden – und dem Mono Amp-Verstärker, den Torsten Hedel für ihn gebaut hat, den eine Kindheit im Huttenchor zur Gitarre und schließlich zum Bass brachte.

Zum Bassbauen ist der gelernte Elektroniker durch eine schwere Erkrankung gekommen. "Eines Tages konnte ich nichts mehr hören", erinnert sich der Hallenser, Nichts mehr mit Musik. Es beginnt eine monatelange Odyssee zu Spezialisten aller Art. Dann erhält Hedel, den wegen seines Hörproblems inzwischen alle nur noch„Mono“ nennen, die niederschmetternde Diagnose: Multiple Sklerose. Das Beste daran ist, dass eine Therapie das Gehör wiederherstellen konnte. Das Schlechte: Die Krankheit selbst ist unheilbar.

Aber Hedel hat nicht aufgegeben. Mit seinem leistungsstarken und ungewöhnlich designten Verstärkern zählt er heute die Guano Apes, Uwe Hassbecker von Silly, die Kultband Pothead aus Berlin und Werner Neumann, den Jazz-Proffessor von der Musikuni Leipzig, zu seinen Fans. Beim „Monostock“, wie Halles Basskönig sein Festival nennt, treten außerdem Days of Grace, Electro Baby und die Bluesband Inutero, für interessierte Nachwuchsbasser gibt Zsolt Váradi einen Bass-Workshop mit den Verstärkern aus der Mono-Werkstatt. Zum Schluß folgt das Stonewall Noise Orchestra, mit dem Hedel inzwischen eng befreundet ist, als Headliner des Abends.

Mehr dazu: Rockpool

Das Stonewall Noise Orchestra spielt hier:

Dienstag, 20. Mai 2014

188: Sekunden sollten entscheiden



Für den Bau einer neuen Straßenbahntrasse reißt die Stadt Halle ein 120 Jahre altes Baudenkmal ab. Ein Gesetz fordert das angeblich so. Wer aber hat das gemacht? Und warum?


Anfangs hat er das alles für einen schlechten Scherz gehalten. Moritz Götze, einer der  bekanntesten Maler Sachsen-Anhalts, war sich sicher, dass niemand ein 120 Jahre altes denkmalgeschütztes Haus in bestem Bauzustand abreißen werde, nur um die danebenliegende Straße um zwei Meter zu verbreitern. „Das schien mir unvorstellbar“, sagt der 49-Jährige, der in Halle geboren wurde und aufwuchs. Schließlich lebe die Saalestadt doch von ihrer über Weltkrieg und DDR-Abrisswahn erhalten gebliebene Geschichte. „Jeder wäre verrückt“, sagt Götze, „der dieses langfristige Potenzial mit eigener Hand vernichtet.“

Allerdings soll genau das in einigen Wochen passieren. Nachdem Stadtverwaltung und Stadtrat den Plänen zum Abriss der ehemaligen Weingärtenschule im Stadtteil Glaucha befürwortet haben, steht nur noch die Zustimmung der Denkmalschützer aus. Dann kann das imposante Backsteingebäude, 1893 nach einem Entwurf des Architekten Anton Kreke gebaut, trotz aller Proteste von Prominenten wie Götze oder dem über seine Glauchaer Großmutter mit Halle verbundenen Liedermacher Wolf Biermann verschwinden. Mit dem Haus, das den am Rande des Stadtzentrum liegenden Böllberger Weg dominiert, verliert die Saalestadt ein Stück ihrer Historie: Hier wurden die Zöglinge von August Hermann Franckes Stiftungen beschult, hier ging schließlich später auch die Honecker-Ehefrau Margot Feist zur Schule.

Es ist das Ende eines Dramas, bei dem hinter geschlossenen Türen Denkmalschutzinteressen mit der Aussicht auf Millionen Euro Fördermittel gerungen haben. Dabei geht es um das Gemeindeverkehrsfinanzierungsgesetz und das EntflechtG, um vermeintliche EU-Vorgaben und aus dem Jahr 1971 stammende verkehrsplanerische Ideale, letztlich aber vor allem um um Landesfördermittel und Bundeszuschüsse.

Die stehen im sogenannten Stadtbahnprogramm in Aussicht, wenn sich eine Kommune bereiterklärt, eine Straßenbahntrasse nach bestimmten Vorgaben umzubauen. Vor allem verlangt das zugrundeliegende Gesetz die Errichtung eines sogenannten „gesonderten Bahnkörpers“, auf dem Straßenbahn fährt. Weil die Straße vor der ehemaligen Weingärtenschule, die heute ein Künstlerhaus mit Ateliers und Werkstätten beherbergt, nicht breit genug für diese Extra-Trasse ist, soll das Haus weichen.

Dass das bedauerlich ist, räumt auch der zuständige Beigeordnete Uwe Stäglin ein. Jedoch lasse die Gesetzeslage der Kommune keinen anderen Ausweg als den Abriss. „Sonst ist die Sanierung nicht förderfähig.“ Da die Stadt selbst die fast fünf Millionen Euro teure Finanzierung nicht stemmen könnte, ist die einzige Alternative zum Abriss ein Verzicht auf die Sanierung. Der stände der Stadt Halle natürlich zu, heißt es im Verkehrsministerium des Landes, wo Pressesprecher Peter Mennicke nur die Hände hebt. Das Land bekomme den größten Teil der Zuschüsse, den es an Städte weiterreiche, vom Bund. Und habe somit überhaupt keinen Spielraum, zugunsten eines alten Hauses von den Förderrichtlinien abzuweichen.

Diesen Spielraum hat auch der Bund nicht. Nach dem Gemeindeverkehrsfinanzierungsgesetz muss ein gesonderter Bahnkörper sein, diese Regelung gibt es seit 1971, in den Ländern der ehemaligen DDR seit 1990. "Die Forderung gilt für alle Vorhaben des GVFG-Bundesprogramms in allen Bundesländern und wird auch sehr streng ausgelegt", erklärt Mennicke. Ausnahmen sind möglich, etwa wenn eine Straße wie die Große Ulrichstraße insgesamt nicht breit genug ist, um einen gesonderten Bahnkörper ohne den Abriss einer kompletten Häuserzeile unterzubringen. Das wäre ja auch ein Ding! Aber Halle habe, so heißt es, schon einige solcher Ausnahmen genehmigt bekommen. Und das 188 steht allein auf weiter Flur am Straßenrand und dem großen Bauprojekt so ziemlich einsam im Wege. Und irgendwann müsse eben mal Schluss sein.

Schließlich sprechen gewichtige Argumente für die gesonderten Bahnkörper, auch wenn ihnen gelegentlich ein Denkmal weichen muss. Höhere Geschwindigkeit und mehr Sicherheit nennt das Bundesverkehrsministerium als die großen Pluspunkte. "In vergangenen Vorhaben konnten Reisegeschwindigkeitserhöhungen von bis zu 5 km/h erreicht werden", beschreibt auch das Landesministerium. Hochgerechnet auf die 2,3 Kilometer Strecke, die im Zuge des Abrisses des "188" ausgebaut werden sollen, bedeutet das eine Zeitersparnis von rund einer Minute: Statt sechs Minuten wären die Bahnen künftig nur noch fünf unterwegs.

Auch die höhere Sicherheit ist nachgewiesen, zumindest der theoretischen Annahme nach: "Schon allein durch die räumliche Trennung der Verkehrsarten" liege sie vor, heißt es im Landesministerium, denn dadurch reduziere sich das Konfliktpotential zwischen den einzelnen Verkehrsarten deutlich. Eine statistische Auswertung, die das belegt, sei allerdings nicht bekannt. Auch beim Bund gibt es keine derartige Evaluierung, ebensowenig bei Fachverbänden. Die höhere Sicherheit werde auch im Rahmen der Verwendungsnachweisprüfung nicht erfasst, bestätigt Peter Mennicke. Die Havag aber könne anhand der ähnlich gelagerten Baumaßnahme Delitzscher Straße nur Gutes berichten. Was wohl zutreffend ist, denn Autofahrer, die die wegen des gesonderten Bahnkörpers nicht nur um Dutzende Alleebäume, sondern auch um zwei Fahrbahnen erleichterte Straße befahren, fühlen sich seit dem Ende der Bauarbeiten zurückversetzt in die frühen 90er Jahre, als es hier immer Stau gab. Damals, weil so viel Verkehr war. Heute, weil jeder Linksabbieger das bisschen Verkehr für fünf Minuten komplett stoppt.

Auf der einen Seite steht hier also ein Denkmal, mehr als hundert Jahre Stadtgeschichte. Auf der anderen die feste Überzeugung, ein 43 Jahre altes Gesetz, dessen Wirksamkeit nie überprüft worden ist, sei die richtige Art und Weise, die marode Verkehrsinfrastruktur der Kommunen auf Vordermann zu bringen. Wer etwas will, muss etwas opfern, und sei es einen Teil seiner Geschichte.

Erst der Denkmalschutz des Landes setzte dem neuen Symbol für die Rückkehr des Abrisswahns der End-DDR-Zeit jetzt ein Stoppsignal.

Sonntag, 18. Mai 2014

Wie aus einem Werbebild ein Nachrichtenfoto wird

Im Auftrag von Google fotografierte die Fotografin Connie Zhou vor zwei Jahren in Google-Serverfarmen in Oregon und Iowa. Heraus kamen wunderbar äthetische Bilder, die das Internet von innen zeigten, und das nicht etwa kalt und eintönig, sondern in bunten Farben und bauhaus-artigen Strukturen. Google und die Fotografin mussten sich wenig später allerdings herber Kritik erwehren, weil das Projekt “Where the Internet lives” ganz offenkundig nicht die Realität abbildete, sondern eine am Fototisch nachbearbeitete idealisierte Variante davon.

Zwei Jahre danach ist das immerhin soweit vergessen, dass renommierte Blätter wie die Süddeutsche Zeitung sich einen Teufel darum scheren, dass Zhous Bilder so real sind wie Gemälde des eben verstorbenen H.R. Giger. Zur Illustration eines Beitrages im Rahmen der aktuellen Kampagne für mehr Datenschutz durch die Löschung von Suchergebnissen nutzt das Blatt eines der im Auftrag von Google erstellten und mit allen Kunstgriffen schicker gemachten Fotos.

Und im Unterschied zu Spiegel und Zeit, die wenigstens im Kleingedruckten noch auf den einstigen Auftraggeber verweisen, zeichnet die Süddeutsche das Bild dann auch noch mit der Quelle "dpa" aus.

Naheliegend, dass es der Redaktion lieber wäre, gäbe es keine Suchmaschinen, die verraten, wie schnell aus Propaganda Information wird.

Mittwoch, 7. Mai 2014

"Mass Customization": Individualität für die Masse

Je konformer die Menge, desto ausgeprägter ist der Hang, sich zu unterscheiden.

Noch in den 90er Jahren gehörte es zum guten Ton in Jugendszenen, sich nicht so zu kleiden und nicht dieselben Bands zu hören wie der gesamte Freundeskreis. Individualität wurde großgeschrieben: Jugendliche stylten sich als Punks, Slacker oder Grufties, jede Nische hatte ihren Sound, ihre Frisuren, ihre Kneipen, ihre Festivals und Rituale.

Zwei Jahrzehnte später ist die Welt der Nische zusammengeschnurrt auf eine einzige, die allerdings groß genug ist, um nahezu die gesamte Gesellschaft aufzunehmen. Angetrieben durch die neuen Medien sind die einst so strengen Geschmacksgrenzen gefallen, aus Individualität ist ein von wenigen Bekleidungsmarken und Technikfirmen bestimmter Konformismus geworden, der sich nur noch in Nuancen unterscheidet. Apple oder Samsung, Undercut oder Seitenscheitel, Hollister oder Camp David und Lady Gaga oder Miley Cyrus - viel mehr Unterscheidungsspielraum bleibt denen kaum noch, die sich nicht außerhalb des Angesagten stellen wollen.

Allerdings halten die Zeiten der Massenproduktion für den Massenkonsum auch für den unstillbaren Wunsch nach Individualität einen Ausweg bereit. "Mass Customization" nennt sich ein neues Phänomen, mit dem große Firmen und kleine Start-Ups versprechen, die unstillbare Sehnsucht nach etwas wirklich Eigenem inmitten der Flut aus gleichförmigen T-Shirts, Hosen, Jacken, Schuhen und sogar Nahrungsmitteln zu befrieden. Der Begriff setzt sich zusammen aus den Worten Massenproduktion und Maßfertigung und er meint nichts anderes als die Anpassung eines beliebigen Gegenstands aus einer Großfabrikation an die speziellen Wünsche eines einzigen Kunden.

Das Zurück zu den Zeiten, als sich DDR-Punks mit Wäschefarbe "Sex Pistols" auf ein geripptes Opa-Unterhemd malten oder Mädchen aus Fensterleder Miniröcke nähten, funktioniert auf höchstem technischen und logistischen Niveau.

Bei Firmen wie "Spread-shirt" aus Leipzig können individuell gestaltete T-Shirts etwa zum Nachmachen für andere Kunden hinterlegt werden. Beim Sport-schuhmulti Nike lassen sich Schuhmodelle von der Stange ebenso wie bei Puma und Converse nach eigenem Gusto umstylen und während das Portal Chokri.de das Mixen der eigenen Schokolade erlaubt, bietet palupas.de die Gestaltung von Badelatschen mit Hilfe eigener Fotos. 2 000 Anbieter tummeln sich inzwischen weltweit im Ego-Markt.

Die Massengesellschaft als Individualitätsmaschine, angetrieben von Hightech-Lösungen, deren Erfinder von den seit Jahren flexiblen großen Autoherstellern gelernt haben, das gleiche Produkt in unzähligen Abwandlungen zu verkaufen. Das ist Einzigartigkeit von der Stange, eine industriell hergestellte Individualität für die Massen des Zeitalters der Geschmackskonformität.

Dienstag, 22. April 2014

Die Hoffnung stirbt zuletzt

Eigentlich hat Gareth Hudson eine recht kurze Anreise nach Halle. Seit einigen Jahren schon lebt der gebürtige Australier mit seiner Frau Tadijana Ilicic in Berlin, einem idealen Ausgangspunkt, „um ein Land wirklich kennenzulernen, weil man schnell dorthin fährt, wo die Menschen leben“, wie er sagt. Hudson, Gründer und Sänger der Band Hudson Arc, ist von daheim anderes gewohnt: „Man fährt ewig, ehe man wieder wo ist, wo man ein Konzert spielen kann.“ In Deutschland dagegen „alles ist kürzer als bei uns daheim - du fährst anderthalb Stunden und bist da“.

Wenn man nicht gerade beinahe direkt die 16000 Kilometer vom anderen Ende der Welt anreist wie das Ehepaar Hudson, das gerade erst daheim auf dem fünften Kontinent war, um ein neues Album einzuspielen. Die Rückreise in die wahlHeimat Deutschland lief nicht ganz nach Plan, wie Gareth Hudson klagt: Obwohl er einen großen „Vorsicht, zerbrechlich“-Aufkleber auf seine geliebte Cole-Clark-Gitarre geklebt hatte, war das von einem australischen Gitarrenbauer hergestellte Instrument nach der Landung in Deutschland zerbrochen.

Allerdings lässt sich Hudson dadurch nicht bremsen, nicht umsonst heißt die neue Platte ja „The Motive of Hope“. Zur Feier der Veröffentlichung wird der Mann aus New South Wales diesmal nicht nur von der studierten Violinistin Tadijana, sondern auch von Jamie Pollock an der Viola und Rachel Pogson am Cello begleitet. In Halle ist Hudson Arc am kommenden Montag in der Goldenen Rose zu erleben - Eintritt ist frei, aber eine Spende für eine neue Gitarre nimmt Hudson sicher gern an.

Video von Hudson Arc: Hudson Arc im Video

Donnerstag, 10. April 2014

Mit dem Clown kommen die Tränen

Auch wer nichts zu sagen hat, darf das inzwischen ja alles aufschreiben. So gesehen ist die Autobiografie des früheren Trio-Trommlers Peter Behrens nur folgerichtig: Ein Mann, der von den höchsten Höhen des Popruhms hinunter in die tiefen Leidenstäler von Sozialhilfe und Hartz IV gestürzt ist, hat immerhin seine eigene Lebenstragödie zu erzählen.

Behrens, bei Trio neben Sänger Stephan Remmler und dem kürzlich verstorbenen Gitarristen Kralle Krawinkel der Komiker mit den roten Hosenträgern, der mit unbewegtem Gesicht an einem Spielzeugschlagzeug stand, enttäuscht allerdings alle, die erwarten, dass er in „Der Clown mit der Trommel“ mehr anzubieten hat als ein geschwätziges Nichts. Denn die 274 Seiten, zusammen mit dem hauptberuflich als Lehrer tätigen Klaus Marschall ausgearbeitet, ähneln dem musikalischen Schaffen seiner Ex-Band in hohem Maße: Minimalistisch ist der Inhalt, trocken die Form und schlau wird meist auch niemand daraus.

Ist es Behrens norddeutscher Humor? Ist es das - wie er selbst mehrfach eingesteht - eigene Desinteresse an jeder weitergehenden Reflexion des Erlebten? Hier schreibt, das wird sehr schnell klar, niemand, den es an die Bühnenkante drängt, und hier steht auch keiner auf, weil er in sich etwas hat, was schon lange mal raus gemusst hätte.

So wie Peter Behrens in den guten Jahren von „Dadada - ich lieb Dich nicht, Du liebst mich nicht“ und „Sabine, Sabine, Sabine“ die Trommelstöcke rührte, das Gesicht zur Faust geballt, so beichtet er hier ein Leben im Schatten von bestimmenden Figuren wie Remmler und Krawinkel. Das Problem dabei: Der Clown mit der Trommel war zwar immer da, wo etwas geschah, aber richtig zugegen war er nie. Und wenn doch mal, dann waren es die anderen, die Entscheidungen trafen, Lieder schrieben oder auf den Putz hauten.

Nur im Musikalischen hat der Rhythmuslibero der Minimal-Kapelle seine Rolle je über das hinaus verinnerlicht, was er auf der Bühne vorspielte. Ja, Peter Behrens prägte den Trio-Stil mit seinem im ersten Moment so monoton wirkenden Stil, er schuf die Basis für Remmlers Exaltiertheit, für Krawinkels akzentuiertes Spiel. Der Lohn aber, und daran scheint der inzwischen 68-jährige Peter Behrens bis heute zu leiden, war das kürzeste Streichholz, dessen Licht nicht zum Leben reichte. Eine Tragödie, verpackt als Farce. Mit dem Clown kommen die Tränen.

Montag, 31. März 2014

Seth Lakeman: Wanderer in Klangwelten


Er fängt programmatisch an: „The Wanderer“ heißt das erste Stück auf „Word of Mouth“, dem eben erschienenen siebten Solo-Album des Briten Seth Lakeman, der hier in zwölf Liedern das Kunststück schafft, immer anders zu klingen - und immer wiedererkennbar.

Lakeman, daheim in Großbritannien seit einer Nominierung für den Mercury Prize als Retter des Folkrock gehandelt, hat lange auf Anerkennung gewartet. Schon vor 20 Jahren veröffentlichte der damals gerade 17-Jährige zusammen mit seinen Brüdern ein Album, danach arbeitete er beharrlich weiter an seiner musikalischen Vision.

Die wird auf „Word of Mouth“ noch deutlicher als auf dem Vorgänger „Tales From The Barrel House“, der auch schon Anklänge an mittelalterliche Weisen mit Jethro Tull- Sound und amerikanischem Folk mischte.

Lakemans Vorteil: Er spielt nicht nur Gitarre, sondern auch Geige, Bratsche und Banjo, so dass er neue Stücke wie das balladeske „Another Long Night“ oder das hoppelnde „Last Rider“ ebenso zurückhaltend wie abwechslungsreich instrumentieren kann.

Seth Lakeman setzt damit auf seine Weise fort, was schon seine großen englischen Kollegen von Mumford & Sons weltweit erfolgreich gemacht hat. Seine Lyrics sind meist dunkel, der Akzent ist Dartmoor nicht Pennsylvania, die Melodien haben hymnische Momente, ohne durchweg zum Mitsingen aufzufordern.

Ein Konzeptalbum, das seine Spannung vom ersten Ton an hält und über zahllose weitere Höhepunkte wie „The Saddest Crowd“ und „Bal Maiden“ zum finalen „Portrait of my wife“ findet. Alles in allem: Große Musik, die sich auch live zu entdecken lohnt.Am 3. April ist Seth Lakeman live im Objekt 5 in Halle zu erleben
Kartenvorbestellungen:
Objekt 5

Donnerstag, 27. März 2014

Das große Fressen in der Internetwelt

Palmer Luckey war 18 Jahre alt, als er die Idee hatte, eine speziell für Computerspiele geeignete 3D-Brille zu bauen. Mit 19 hatte er den Prototyp fertig, mit 20 sammelte seine Firma Oculus VR im Internet mehr als 2,5 Millionen Dollar für die Weiterentwicklung ein. Inzwischen ist Luckey 21 und Milliardär: Gestern verkündete der Social-Media-Konzern Facebook, dass er die Entwicklerfirma hinter der „Oculus Rift“ genannten Computerbrille für 2,3 Milliarden Dollar (1,7 Milliarden Euro) übernehmen werde.

Es ist die jüngste Drehung einer Übernahmespirale in der virtuellen Welt, die sich vom Tiefpunkt der Finanzkrise vor fünf Jahren an unablässig beschleunigt hat. Vor einem Monat erst legte Facebook-Gründer Marc Zuckerberg für die mobile Kommunikations-App „WhatsApp“ 19 Milliarden Dollar hin. Schon vor dem Börsengang, der dem größten Sozial-Netzwerk der Welt neue Finanzierungsmöglichkeiten erschloss, wurde für eine Milliarde Dollar der Fotodienst Instagram übernommen.

Aber auch die Konkurrenz schläft nicht. Der Suchmaschinengigant Google brachte es zuletzt auf Firmenkäufe im Wert von mehr als 17 Milliarden Dollar. Neben kleineren Akquisitionen wie dem Kauf von DeepMind, einem Spezialisten für künstliche Intelligenz, machten vor allem die Übernahmen des Thermostatherstellers Nest für 3,2 Milliarden Dollar und der Roboter-Schmiede Boston Dynamics für 1,2 Milliarden Schlagzeilen. Apple stand dem kaum nach, der Mega-Konzern aus Cupertino kaufte 15 Firmen, darunter kleine Startup-Firmen, aber auch etablierte 3D-Sensor-Entwickler wie die israelische Firma „PrimeSense“. Und auch Amazon, Yahoo und Ebay, die anderen Netzgiganten, kauften Empfehlungsseiten, Foto-Apps, App-Entwickler, Forschungs-Start-Ups und mit PhiSix Fashion Labs legte sich Ebay sogar einen Anbieter von virtueller Mode zu.

Es ist ein Wettlauf um die aussichtsreichsten Ideen, der Männer wie Palmer Luckey, der noch keine einzige seiner Spiele-Brillen wirklich verkauft hat, oder WhatsApp-Mitgründer Jan Koum, dessen Firma bis heute keinen einzigen Dollar verdient hat, über Nacht unfassbar reich macht. Doch so obszön die Summen scheinen, mit denen die zumeist noch keine 20 Jahre alten Riesen dank sprudelnder Einnahmen in ihren Kerngeschäften um sich werfen, so klar ist das Kalkül, mit dem sie Hightech shoppen gehen. Besser heute unverschämt teuer kaufen, als morgen noch viel mehr bezahlen. Oder gar - noch schlimmer - zuschauen müssen, wie ein Wettbewerber mit einer App, einer neuen Smartphone-Uhr oder einer intelligenten Brille einen Verkaufshit landet.

Die Geschichte gibt denen im Silicon Valley recht, die lieber einmal mehr zuschlagen, auch wenn die meisten übernommenen Firmen die in sie gesetzten Erwartungen nicht rechtfertigen. Als Google vor acht Jahren 1,6 Milliarden Dollar für die vom ehemaligen Merseburger Jawed Karim mitentwickelte Videoplattform Youtube zahlte, waren die Zweifel am Sinn der Transaktion groß. Inzwischen spielt Youtube Google rund zwei Milliarden Werbedollar ein - pro Jahr.

Wer solch sprudelnde Geldquellen hat wie sie auch Apple mit seinem iPhone und Facebook mit seinen zuletzt explodierten Werbeeinnahmen besitzen, kann sich Experimente aller Art und zu fast jedem Preis leisten. Apples Einkaufszettel etwa umfasste im letzten Jahr Chiphersteller und Adressdatenhändler, Routenplaner und einen Auswertedienst für Twitter-Einträge. Google, in den vergangenen zwölf Monaten größter Firmenkäufer der Welt, ist gerade dabei, eine Datenbrille namens Google Glass für den Alltagsgebrauch und selbstfahrende Autos zu entwickeln. Facebook wiederum leistete sich zuletzt unter anderem Firmen, die Online-Gespräche über Sport analysieren, an Gesichtserkennung forschen oder automatische Übersetzungsdienste anbieten.

Das alles folgt keinem anderen großen Plan außer dem, vorn dabei zu bleiben, wo aus den Ideen junger Tüftler wie Palmer Luckey eine Zukunft gebaut wird, von der niemand weiß, wie sie aussehen wird.

Er habe Facebooks Angebot anfangs skeptisch gesehen, schreibt Luckey bei Facebook, dann aber sei ihm klargeworden, dass eine Partnerschaft nicht nur sinnvoll sei, sondern „der beste Weg, virtuelle Realität für jeden möglich zu machen“. Dass die Überriesen aus der Netzwelt mit jeder Mahlzeit mächtiger und ihren Nutzern damit immer unsympathischer werden, können Google, Facebook und Co. offenbar verkraften: WhatsApp zum Beispiel ist nach der Übernahme durch Facebook, die von Protesten begleitet war, im selben Tempo weitergewachsen wie zuvor.

Montag, 24. März 2014

Twix heißt wieder Raider - alles geht immer weiter

Er gehörte zum Ersten, was sich Ostdeutsche nach dem Mauerfall an westdeutscher Konsumkultur gönnten - und er gehörte auch zum Ersten, was ihnen wieder weggenommen wurde. "Raider - der Pausensnack", jedem DDR-Bürger aus dem Reklameblock im Westfernsehen bekannt, war kurz nach dem ersten Kauf plötzlich verschwunden. Raider heiße jetzt Twix, sonst aber ändere sich nix, versprach der Hersteller Mars.

Kein Marketing-Gag, sondern Vorbote der nach dem Ende des Kalten Krieges rasant an Geschwindigkeit gewinnenden Globalisierung. In Großbritannien, wo der Riegel aus Keks, Karamell und Milchschokolade bereits 1967 eingeführt worden war, trug er - inspiriert von der Bauart mit zwei Keksen - auf Englisch "twin bisquits" - von Anfang an den Namen Twix, auch in den USA blieb Mars zur Einführung 1979 bei diesem Namen. "Raider", ins Deutsche übersetzt so viel wie "Plünderer", kam nur in Deutschland und Österreich zum Zuge.

Nach der Harmonisierung des deutschen Namens blieb die Erinnerung an die frühere Benennung als geflügeltes Wort. Raider war nun zwar Twix, aber auch nach zwei Jahrzehnten weiß jeder, dass Twix früher Raider hieß. Ein Umstand, den sich die deutsche Tochter der Mars Inc. aus dem US-Bundesstaat Virginia jetzt zunutze macht: Auf einmal liegen im Süßwarenregal wieder richtige Raider-Riegel. Rote Schrift auf goldenem Papier, ein Stück 1990, das in sozialen Netzwerken für einen begeisterten Aufschrei sorgt. Raider ist zurück, feierten tausende Tweets und Facebook-Postings das vermeintliche Comeback eines Teils ihrer Kindheit und Jugend. Das nur ein Marketing-Ggag war, sonst nix: Schon wenige Tage danach wird aus Raider wieder Twix. Sonst nix.

Dienstag, 18. März 2014

Roger Willemsen über den Bundestag: Im hohlen Haus

Ein Experiment mit ungewissem Ausgang, ein Wagnis ohne Wiederkehr und ein Risiko für den eigenen Ruf - das etwa ist es, was den Schriftsteller, Fernsehmoderator und Grimme-Preisträger Roger Willemsen gereizt haben muss. Gereizt an einer Idee, die spannend klingt wie das Geräusch, das die Seiten einer eingestaubten Akte beim Umblättern machen. Wie wäre es denn, fragte sich der 59-jährige Germanist und Philosoph, würde man sich einfach mal für ein Jahr, ein ganzes Jahr, auf die Besuchertribüne des Reichstages setzen und aufschreiben, was so zu sehen und zu hören ist während der Parlamentsdebatten.

Einfacher gedacht als gemacht. Er habe unglaubliche bürokratische Hürden überwinden müssen, um die Genehmigung zu bekommen, wirklich an jedem Sitzungstag im Hohen Haus durchweg zugegen sein zu dürfen, beschreibt Willemsen, der sich in seinen Büchern zuletzt eher mit außenpolitischen Fragen wie die Lage in Afghanistan beschäftigt hatte. Komisch. "Es ist mein Parlament, dachte ich, es verhandelt meine Sache, wird von mir bezahlt", sinniert er, "warum sollte ich es nicht besuchen können, so oft und so lange ich möchte?"

Vielleicht, weil die Dinge anders sind als sie aussehen. Vielleicht, weil auch Institutionen es nicht mögen, wenn ihnen jemand permanent hinterherspitzelt wie die NSA der Kanzlerin. Nicht, dass der Bundestag etwas zu verbergen hätte. Als Roger Willemsen pünktlich zum ersten Beratungstag bereit steht, versehen mit einem Zugangsausweis, den er nun jede Woche wird erneuern müssen, breitet sich vor ihm der Alltag eines Parlamentsbetriebes aus, vor dem ein weniger begnadeter Schreiber hätte kapitulieren müssen. Das Herz der deutschen Demokratie, auf das Willemsen von der Tribüne herabschaut, entpuppt sich als ein allzuoft hohl dröhnender Baukörper, in dem sich die "Organe von Monologikern und der Chor der Jasager" auf eine Art überlagern, dass "man immer gleich weiß, wie die Erregungskurve im Saal ist".

Lau zumeist, wie der Autor bemerkt. "Ich hatte mich darauf eingestellt, eine Institution im Verblassen ihrer Bedeutung zu erleben", gesteht er. Im Krisenmodus sitzt die Exekutive am längeren Hebel: Wo Alternativlosigkeit regiert, braucht es keinen Meinungsstreit mehr, nur Handeln. Und im Erfolgsfall ist die nachträgliche Zustimmung reine Formsache.

Doch was dann im Plenarsaal auf den wortgewaltigen Protokollanten wartet, ist eine Mischung aus Rederoutine, Improvisationstheater und einigen großen wie seltenen Momenten, in denen die Parlamentarier ohne Masken voreinanderstehen und ohne Kalkül debattieren wie einst, als, so Willemsen, das Parlament noch der Raum war, in dem "Handeln durch Sprechen simuliert oder vollzogen wurde".

Lange her. Heute diene das Parlament nicht mehr dem Meinungsstreit, sondern der "Veröffentlichung von Politik", befindet er. Positionen werden gegeneinandergestellt, doch oft hört ein Redner dem nächsten nicht mal mehr zu. Doch nein, faul seien sie nicht, die Abgeordneten, denen das mit Blick auf den meist mehr leeren als vollen Sitzungssaal gern vorgeworfen wird. "Sie sind mit Verpflichtungen so befrachtet, dass sie oft bis an die Grenze der Belastbarkeit arbeiten." 1 000 Seiten zu diesem, 1 000 zu jenem. Abstimmen, Themenwechsel. Lesen. 1 000 Seiten. Abstimmen. Alles und immer aus einer Position nahe der Überforderung. Willemsen verurteilt nicht, er ordnet ein. Die Baugeschichte in die des Grundgesetzes, den Tagesschaubericht in das erlebte Plattitüdenbombardement einer Mammutsitzung. Und die eigenen, dezidiert linken Ansichten zu Armut und Rüstungsexporten in einen weiteren Blickwinkel, der nicht der eines emotionslosen Beobachters, sondern der eines Beurteilers ist.

Ein "Buch aus Bürger-Perspektive" nennt Willemsen seine 400 Seiten, wobei er zugesteht, dass er in seinem Jahr im Parlament Vorurteile in Sachen Arbeitsbelastung und Sachverstand gegenüber den Abgeordneten korrigieren musste. Dass "Das Hohe Haus" dennoch kein fröhliches, sondern ein überaus kritisches, in Teilen galliges Buch geworden ist, sieht er am Ende im Licht seiner Erfahrungen: "Keine Kritik kann härter sein als jene, mit der die Parlamentarier einander überziehen."

Montag, 17. März 2014

Rio Reiser: Königshof unter dem Hammer

Es war der Ort, an den der König von Deutschland flüchtete, als er genug von der Revolution und vom Aufstand gegen die Verhältnisse hatte. In Fresenhagen, einem Dorf an der dänischen Grenze, fand Rio Reiser vor 40 Jahren Exil. Zuvor hatte seine Band Ton Steine Scherben entschieden, die Nase voll davon zu haben, als Karnevalskapelle der Hausbesetzerszene immerzu "Keine Macht für Niemand" singen zu müssen.

Bis zu seinem frühen Tod im Jahr 1996 hat Rio Reiser dann hier gewohnt und sich vom flachen Friesenland inspirieren lassen zu Songs wie "Junimond" und "König von Deutschland", die mal traurig waren und mal witzig, aber nie zum Lachen. Rio Reiser war zwar auch als Landmann nicht gerade ein vor Humor berstender Herrscher. Aber zu Hause fühlte er sich hier so sehr, dass er sich auf seinem Grundstück begraben ließ, auf dass sein Geist andere Musiker inspirieren könne.

Allerdings reichte das Geld bald nicht mehr, das Rio-Reiser-Haus zu betreiben. Vor drei Jahren zogen die sterblichen Überreste des Musik-Monarchen nach Berlin. Haus und Hof wurden verkauft - aber Glück brachten sie auch dem neuen Besitzer nicht. Als "18-Zimmer-Bauernhaus" sucht der Königshof nun per Zwangsversteigerung wieder einen neuen Herren. Das Haus sei renovierungsbedürftig, aber naturnah, heißt es. Thronfolger kann werden, wer 299 000 Euro für das Mindestgebot übrig hat.

Zum Gebot

Donnerstag, 6. März 2014

Gute Gene: Wir sind Pharao

 Briten, Spanier und Franzosen sind ein bisschen mehr Pharao als die Deutschen - das ist das Ergebnis von Versuchen, bei denen Wissenschaftler vom Schweizer Genealogie-Center iGenea das DNA-Profil des Pharaos rekonstruierten, dessen Mumie 1922 in einer Grabkammer im ägyptischen Tal der Könige entdeckt worden war.

Über ganz Westeuropa gerechnet gehörten durchschnittlich mehr als 50 Prozent aller Männer zur Haplogruppe R1b1a2, was bedeutet, dass sie gemeinsame Vorfahren teilt. Unter heutigen Ägyptern dagegen ist nur einer von hundert Menschen mit Tutanchamun verwandt. Das liege wohl daran, dass sowohl die Vorfahren des Pharao, der Ägypten vor rund 3 200 Jahren regierte, als auch die von Spaniern, Franzosen, Briten und Deutschen gemeinsame Wurzeln haben, glaubt iGenea-Chef Roman Scholz. Die Angehörigen der Haplogruppe R1b1a2 seien wahrscheinlich rund 7 000 Jahre vor Beginn der Zeitrechnung aus dem Kaukasus nach Europa gekommen. Unklar sei, wie Tutanchamuns Familie vom rechten Weg abkam und statt in Westeuropa in Ägypten landete.

Die Forscher wollen jetzt mit DNA-Tests nach den nächsten lebenden Verwandten des Königs suchen. Für alle anderen, die gern wissen möchten, ob sie selbst auch ein bisschen Pharao-Gen haben, bieten die DNA-Spezialisten einen Heimtest an. Für knapp 150 Euro zeigt eine Speichelprobe, ob Pharao oder nicht.

Montag, 3. März 2014

"Viele von denen haben noch nichmal jekleecht"

Waldemar Schmidt ist sauer, stinksauer. „Stehen hier wie die Orgelpfeifen und wissen gar nicht, was sie treiben“, sagt der 89-Jährige und weist mit der Hand empört hinüber zum Demoblock der Rechtsradikalen, der hinter einer Absperrung Aufstellung genommen hat, um gegen eine vermeintliche „Asylflut“ durch die Domstadt zu ziehen. Schmidt, der „wegen Hitler“, wie er sagt, viereinhalb Jahre in Sibirien in Gefangenschaft saß, würde am liebsten hinübergehen und den rund 70 Neonazis „den Arsch versohlen“, wie er sagt. „Die wedeln hier mit einer Fahne, die uns schon mal ins Verderben gestürzt hat.“

Der ganze Text: steht hier

Freitag, 28. Februar 2014

Himmler: Die Banalität des Privaten

Nicht in den Briefen findet sich diese eine einzige von SS-Chef Heinrich Himmler überlieferte Aussage, die nahelegt, dass der Hauptorganisator des Holocaust sich im Klaren darüber war, welche Aufgabe er mit dem Massenmord an den Juden übernommen hatte. Nein, in "Himmler privat", dem von Katrin Himmler und Michael Wendt zusammengestellten Band mit Briefen Himmlers und Auszügen aus dem Tagebuch seiner Frau Marga ist der Satz nicht zu finden. Der Satz, der von dem "niemals zu schreibendes Ruhmesblatt unserer Geschichte" spricht und aus jener geheimen Rede zitiert, die Himmler 1943 vor SS-Angehörigen hielt, um ihnen das "moralische Recht" zu verdeutlichen, das Deutsche angeblich hätten, das jüdische Volk auszurotten.

In seinen privaten Briefen aber schwieg Hitlers willigster Helfer über dieses Recht wie über seine ganze Arbeit. Weil er selbst Zweifel hatte? Oder weil er keine kannte? Weil er fürchtete, der mörderische Charakter des Naziregimes werde dadurch allzu deutlich? Oder weil er glaubte, seine "geliebte, kleine Frau" (Himmler) könne die ganze fürchterliche Wahrheit vielleicht nicht vertragen? Die Person, die in diesem Band aus ihren hinterlassenen Selbstzeugnissen hervorsteigt, spielt die Rolle des gutherzigen, um das Wohl anderer bedachten germanischen Ritters, so weit sie es vermag. Gerade am Anfang der Beziehung zur drei Jahre älteren Marga Siegroth, die Himmler im Alter von 27 Jahren kennenlernt, scheint das größte Bemühen des künftigen "Reichsführers SS", die Angehimmelte zu erobern.

Täglich schreibt er ihr, täglich antwortet sie, so verraten es die Briefe, die bis hierher ihre eigene Odyssee hinter sich gebracht haben. Nach dem Krieg wurden sie von US-Soldaten als Trophäe mit nach Hause genommen, ein Teil landete als Mikroverfilmung in Israel. Hier entdeckte sie die Regisseurin Vanessa Lapa, kaufte sie und verarbeitete das Material zu einer Dokumentation. Zusammen mit dem Historiker Michael Wildt besorgte Himmlers Großnichte Katrin Himmler die Übersetzung der Dokumente in Buchform, durch die Auswahl der Briefe und einordnende Begleittexte.

Das seltsame daran ist, dass Heinrich Himmler so nicht zu greifen ist. Anfangs zumindest schimmert hinter der Fassade des weltläufigen Parteiredners, als der er sich inszeniert, noch ein wirklicher Mensch hervor. Das Paar umgarnt einander, sie heißt ihn "Landsknecht" und "Dickkopp", er rühmt sie als "hohe Frau" und "liebes Frauchen". Politisch kommt von seiner Seite nichts, von ihrer ein wie selbstverständlich gereichter Judenhass, der auch vor Himmlers Parteigenossen nicht halt macht: "Gott, sieht der Dr. Goebbels jüdisch aus", schreibt sie, "schon die herübergekämmten Haare..."

Himmler liest und schweigt. Er möchte so gern intellektuell wirken und schickt seiner Liebsten Lesetipps. Er ist ein steifer Romantiker mit Hang zur Algebra, er nummeriert seine Briefe durch. Später gehen ihm unübersehbar die verliebten Floskeln aus. "Ich küsse Dich und habe dich unendlich lieb" wird Standard. Ebenso wie das Schweigen über das, was er tut. Himmler sieht sich selbst in einem Kampf, für den er das Private opfern muss. Doch es wirkt, als opfere er es gern, weil er umso mehr von seinem Opfer reden kann. Nur elf Jahre, nachdem er Marga kennengelernt hat, legt die nunmehrige Nummer drei des Hitlerstaates sich eine Nebenfrau zu: Die zwölf Jahre jüngere Hedwig Potthast soll ihm weitere Kinder schenken, weil Marga das nicht mehr vermag.

Thema in den Briefen, die immer noch hin- und hergehen zwischen den Eheleuten, ist das nicht. Hier schreibt Pappa an Püppi, wie er Tochter Gudrun nennt, oder an "Mami", wie Marga sich nun nennen lassen muss. Sie spricht nun nicht mehr vom "Geliebten", sondern nur noch vom "lieben Guten".

Es ist die Banalität des Privaten, die diese Briefe so beklemmend macht. Dass der Massenmörder Magenschmerzen hatte, dass er den treusorgenden Ehemann nur spielte und seine Tochter wohl wirklich liebte, ganz im Gegensatz zu seinem Ziehsohn, führt keinen Millimeter näher an die Motive von Hitlers Vollstrecker Heinrich Himmler. Der präsentiert sich in seinen Privatbriefen spätestens ab 1943, als bastele er schon am Bild für die Nachwelt. Den letzten Brief nach Hause setzt Himmler am 17. April 1944 auf.

Es ist der erste, den er mit "Heil Hitler!" unterschreibt.

Sonntag, 16. Februar 2014

Readfy bietet Bücher werbefinanziert

Vorerst wird es nur ein Beta-Test für rund 5 000 Benutzer sein, läuft der aber wie geplant, schickt sich das Düsseldorfer Unternehmen readfy an, die Lesewelt zu revolutionieren. Kein Wunder, denn das eBook-Abo des Startups soll kostenlos sein - Lesefreunde können zum Start der eBook-App aus 15.000 Buchtiteln wählen, ohne dafür zu zahlen.

Der Trick ist die Werbefinanzierung des Dienstes, der das Google-Prinzip der kostenlosen Angebote ins Reich der Literatur holt. Die Free Version von readfy - später soll es auch werbefreie Bezahlvarianten geben - blendet Werbebanner ein, gelegentlich, wie der Anbieter beschreibt.

Wer mitlesen will, muss sich nur unter www.readfy.com registrieren und die App heruntergeladen. Die bietet ihm dann übersichtlich nach Genres sortiert die verfügbaren Buchtitel, die mit dem integrierten eBook-Reader auf Smartphones und Tablets gelesen werden können. Zum Start ist die App für Android-Greäte verfügbar, Versionen für iOS-Systeme sollen im Sommer zur Verfügung stehen.

Die Testphase, in der die readfy-App für 5 000 Testnutzer verfügbar ist, übersetzt das erfolgreiche Prinzip des kostenlosen Streamings von Musik und Filmen auf die Buchbranche. Das sei weltweit völlig neu, heißt es bei der jungen Firma, die ihr weiteres Wachstum mit einer gerade gestarteten Crowdinvesting-Kampagne finanzieren will.

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Donnerstag, 13. Februar 2014

Internetfernsehen: Video tötet Fernsehstar

Als Markus Lanz nach der letzten „Wetten, dass...“-Sendung von der Bühne ging, hatte er getan, was er konnte. Mit Prominenten geplaudert. Bei irren Wetten assistiert. Geschmunzelt und gestrahlt. Am Ende aber reichte es doch nur zu einer neuen Schrumpfquote: 6,6 Millionen schauten zu, halb so viele wie zu besten Zeiten.

Die Konkurrenz aber kommt nicht nur von den Nachbarsendern, sie kommt zunehmend auch aus dem Internet. Hier heißen die neuen Stars Watchever, Maxdome oder Lovefilm und sie versprechen personalisiertes Fernsehen zu jeder Zeit und fast jedem Ort. Niemand muss mehr in die Videothek, um seinen Lieblingsfilm zu sehen. Niemand muss mehr fünf ellenlange Werbeunterbrechungen ertragen, um einen frischen Kinohit im eigenen Wohnzimmer zu erleben. Und wer Miley Cyrus singen hören will, der muss nicht warten, bis Markus Lanz die Amerikanerin lässt. Sondern der klickt einfach auf Youtube und sucht sich einen Konzertauftritt heraus.
Eine neue Welt, die inzwischen nicht mehr zu übersehen ist. Anfang November war es in den USA soweit: Erstmals waren die beiden Videoriesen Netflix und Youtube dort im vergangenen Quartal für mehr als 50 Prozent des Datenverkehr aus dem Netz zu den Endnutzern verantwortlich. Noch einmal drei Prozent kamen durch die Nutzung des Amazon-Videodienstes und des Filmportals Hulu hinzu.

Europa hängt dieser Entwicklung zwar noch weit hinterher, weil das besonders erfolgreiche US-Portal Netflix hier erst in kleineren Märkten wie Dänemark, Schweden und Irland gestartet ist. Doch eine Tendenz ist bereits zu sehen: Zwei Jahre nach der Premiere verursacht Netflix bereits 20 Prozent des europäischen Datenverkehrs.
Die Zeichen stehen auf Veränderung, denn mit der nächsten Fernseher-Generation wird der Empfang über das Netz genauso einfach werden wie der Empfang über Satellit oder Kabel heute schon ist. Nachrüst-Sets wie Googles Chromecast oder die TV-Box von Apple werden dann überflüssig. Und gleichzeitig wachsen die bisher nur von wagemutigen Technikfans angeschalteten Websender auf Augenhöhe zu den Platzhirschen ARD, ZDF, Sat1 , RTL und Pro7. Ja, selbst der Abo-Sender Sky bekommt plötzlich Konkurrenz.
Aussichten, denen die traditionellen Sender derzeit mit Übernahmen begegnen. Bedienten sich deutsche Programmdirektoren zuletzt am liebsten bei Serienproduktionen des US-Kabelsenders HBO, denen das deutsche Publikum Serien wie „True Blood“ und „Game of Thrones“ verdankt, startete mit der Ausstrahlung von „House of Cards“ eben erst die erste Netflix-Produktion im deutschen Fernsehen.

Dagegen halten Lovefilm und Watchever mit Flatrate-Angeboten von unter zehn Euro pro Monat, für die es neben Kinofilmen aus der zweiten Reihe auch ältere Staffeln angesagter Serien zu sehen gibt. Beide Portale streamen auf fast alle Geräte und können zum Start 30 Tage kostenlos getestet werden. Der Anbieter Netzkino.de geht sogar noch darüberhinaus: Er ist werbefinanziert und völlig kostenfrei.

Montag, 10. Februar 2014

Neue Toplevel-Domains: Osten ohne Namen

Es wird noch einmal soetwas wie ein Neustart für das Internet, wenn in den kommenden Monaten mehrere hundert neue sogenannte Toplevel-Domains scharfgeschalten werden. Neben Internetadressen, die mit .de, .com oder auch .org enden, werden dann jede Menge neuer Begriffe möglich: .uno, .party, .play oder .dog – kaum ein gängiges Wort, dem die Internationale Organisation zur Namensvergabe im Netz (ICANN) die Zulassung zur Beteiligung an der Erweiterung des Namensraumes verweigert hat.

Auch deutsche Städte und Regionen mischen mit. So hat sich das Ruhrgebiet die Endung .ruhr gesichert und Berlin setzt künftig nicht mehr auf berlin.de, sondern hat sich für die Endung .berlin entschieden, die ab 18. März verfügbar sein soll. Internetnutzer können sich dann für eigene Domainnamen nach dem Muster name.berlin bewerben. Auch .bayern, .saarland und .nrw sind dann möglich, ebenso wie .hamburg und .koeln.

Nicht vertreten unter den neuen Namensmöglichkeiten sind die ostdeutschen Länder und Kommunen. Sachsen-Anhalt hat mit Blick auf das komplizierte und teure Bewerbungsverfahren ebenso wie Sachsen und Thüringen darauf verzichtet, eine werbewirksame eigene Namensendung für das Land zu beantragen. Auch die großen Städte wie Halle, Leipzig und Magdeburg bleiben künftig weiter beim bisherigen und bewährten .de, statt auf werbeträchtige neue Namen für die Eigenvermarktung im Internet zu setzen.

Samstag, 8. Februar 2014

DDR & BRD: Die bedröhnte Gesellschaft

Er war gesellschaftlich akzeptiert und selbst in der Mangelwirtschaft allgegenwärtig: Ob als "Blauer Würger", Grubenschnaps oder Whiskey-Imitat namens "Falkner" - Alkohol gehörte in der DDR so selbstverständlich zum Alltag, dass die untergegangene Arbeiter- und Bauernrepublik bis heute den Ruf hat, wenigstens beim Alkoholkonsum wirklich und wahrhaftig Weltspitze gewesen zu sein.

Stolze 16,1 Liter Schnaps habe ein DDR-Durchschnittsbürger im Jahr 1988 getrunken, heißt es auch in der Ausstellung "Trinkkultur in der DDR", die seit einigen Jahren mit großem Erfolg durch die Lande tourt und jetzt - ausgerechnet - im Thüringer Schnapsstädtchen Nordhausen zu sehen ist. 16,1 Liter Schnaps? Bei einem durchschnittlichen Alkoholgehalt von 30 Prozent macht das fast fünf Liter reinen Alkohol! Oder umgerechnet 23 Flaschen Nordhäuser Doppelkorn, Kristall-Wodka und Kaffee-Likör. Dazu kam dann noch der Bierverbrauch der DDR-Bürger, der trotz aller Zweifel, ob es sich bei Zeitzer Hell und Sternburg Pils wirklich um Bier handelte, mit 143 Litern nur knapp hinter den 150 Litern der westdeutschen Brüder und Schwestern lag.

Eine herausragende Leistung, an der jetzt aber trotz Traditionspflege per Wanderausstellung Zweifel aufkommen. Denn ein Vergleich der in der DDR erreichten Trinkleistungen mit aktuellen Daten kratzt am Nimbus der Alkohol-Weltmacht DDR: Letztes Jahr meldeten die Statistiker einen jährlichen Konsum von rund zehn Litern reinem Alkohol pro Bundesbürger. Zieht man den inzwischen bundesweit auf 107 Liter pro Kopf und Jahr gesunkenen Bierverbrauch ab, bleiben für den Verzehr in harten Getränken 5,35 Liter reiner Alkohol übrig. Nein, das sind nicht wie damals in der DDR 23, sondern sogar 24,5 Flaschen Schnaps!

Sonntag, 2. Februar 2014

Renft: Aufrecht im Sitzen

Zwar sitzend, aber aufrecht wie immer: Renft im Café Brohmers, diesmal wieder unplugged. Es gibt immer noch alle legendären Hits, dazu jede Menge spontaner Improvisationen von Thomas "Monster" Schoppe am Mikrophon und Giesbert Piatkowski an der Gitarre. Wer heute zu Konzerten der verbotgeadelten DDR-Rocklegende geht, hat meistens graue Haare, häufig einen Bart und alle in der DDR erschienenen Original-Platten zu Haus im Schrank. Von einigen Uralt-Fans abgesehen aber ist das Durchschnittspublikum doch überraschend jung. Diese zweite Generation der Renft-Fans kennt seine Idole nur von alten Amiga-Platten, liebt die Lieder und kommt derentwegen bereitwillig in Konzerte der Kapelle, in der mit Schoppe nominell nur noch ein Originalmitglied steht.

Aber was heißt schon original. Monster spielt seit 44 Jahren in dieser Band, Schlagzeuger Delle Kriese seit 23, Marcus Schloussen auch schon seit 15 und "Pitti" Piatkowski seit immerhin fünf. Für eine Kapelle, die es ihrer klassischen Besetzung nur kurze fünf Jahre gab, ist das eine ganze Menge, zumal Piatkowski mit den Klosterbrüdern damals genauso verboten wurde wie Monster mit Renft, sogar im selben Jahr und aus denselben Gründen.

Das Gemurre ist trotzdem immer da. Delle Kriese, der inzwischen fast fünfmal länger dabei ist als Ur-Trommler Jochen Hohl und zudem schon 1984 mit dem Ex-Renft-Gitarristen Peter "Cäsar" Gläser in dessen Band gespielt hat, ist wie Brian Johnson bei AC/DC bis heute einer der Neuen.

Aber wie bei den Australiern stört das nicht, weil die aktuelle Besetzung die alten Songs mit Seele und Groove spielt. Die leisere Form tut den Liedern gut, sie lässt "Als ich wie ein Vogel" strahlen und das bluesige "Ich und der Rock" mit dem Hintern wackeln. Zwei Platten nur hat diese Band damals gemacht, aber heute macht sie dank der Zusatztracks aus der Verbotsphase locker drei Stunden Konzert draus. Am Ende singt das komplette Publikum Klassiker wie "Gänselieschen" und "Wer die Rose ehrt" wieder begeistert mit - 40 Jahre haben Texten und Kompositionen nichts antun können.

Gelungene Premiere 2012: Renft erstmals unplugged

Freitag, 31. Januar 2014

"Böhse Menschen, Böhse Lieder"

Finstere Kerle sind das, die aus schmalen Augen schauen. Tätowiert, kahlrasiert. Mädchen in Militärhosen, Männer mit Stiernacken. Hunderte. Tausende. Zehntausende. Und alle in schwarzen T-Shirts, auf denen vor Gefahr knirschende Sprüche stehen wie "Ach, du willst Streit?" Nein, Türen zu und Fensterläden runter! Das Auto in die Garage und die Kinder von der Straße. Die Böhsen Onkelz sind in der Stadt!

So geht das, wenn Deutschlands gefürchtetste Rockband die Provinz bereist. Zweimal standen die Hessen mit dem patentiert schlechten Ruf am Wochenende auf der Bühne in der Baggerstadt Ferropolis, erschreckte die Invasion von 25 000 Fans aus ganz Deutschland das barocke Oranienbaum und das benachbarte Gräfenhainichen.

"Dabei sind die die Jungs eigentlich alle sehr nett", sagt Verena Felgner, die an einem fliegenden Stand Würstchen verkauft. Ein paar Betrunkene dazwischen, jaja. "Mehr als bei Grönemeyer." Aber das Schwarze, das Schwere, das Harte -eine Macho-Maske. Wie beim Anhang so auch bei der Band, die seit ihrem vor 20 Jahren erschienenen Album "Der nette Mann" als latent rechtsradikal und gewissermaßen gesellschaftsgefährdend gilt. Platten wurden verboten, im Radio laufen Onkelz-Lieder nie, das Fernsehen hält die Türen zu. Trotzdem hat es das Ex-Skinhead-Quartett um Bassist und Bandsprecher Stephan Weidner geschafft, einen Massenmarkt zu erobern, von dessen Existenz zuvor niemand wusste.

Kraftprotzenden Rock versehen die Onkelz mit Texten zwischen philosophierender Weltverachtung und muskulösem Eigensinn. Die Plattenbranche wird verachtet, die Presse ignoriert und die Öffentlichkeit genau so erschreckt, wie die das erwartet: "Böhse Menschen, Böhse Lieder" heißen dann CDs, "Gehasst, verdammt, vergöttert" steht auf Fan-Hemden wie ein religiöses Bekenntnis.
"Hier sind die Onkelz", röhrt Kevin Russell, nachdem die New Yorker Hardcore-Combo Biohazard kurz vor 22 Uhr Platz gemacht hat für die Helden der Heerscharen in Schwarz. "Fahr mit uns in den Himmel / wir ebnen dir den Weg / wir öffnen dir die Augen / zeigen dir wie es geht." Da fliegen die Arme schonmal vorab nach oben, da wird kollektive Inbrunst zum riesigen Chor: "Warum willst du laufen / wenn du fliegen kannst?" Den gebürtigen Iren, der statt Skinhead-Glatze längst Metaller-Mähne trägt, hört man fast nicht mehr. Aber Onkelz-Fans müssen nicht hören, sie können fühlen. Und kennen jede Zeile. Wenn die Band mit Vorurteilen spielt und sich selbstironisch das "Feindbild Nummer Eins" nennt, dann möchten sie auch Feind sein. Randgruppenstolz liegt auf glänzenden Gesichtern, wenn die Band große Vokabeln wie "Lüge" und "Ewigkeit" gegen eine nur diffus beschriebene kalte Karriere-Gesellschaft bemüht. Die draußen werden nie verstehen, gerade darum ist es ja so schön.

Nicht mehr Sekretärin, Bauarbeiter, Anwalt sein. Sondern "leben ohne Konventionen", wie Kevin Russell singt, ein Mann mit tätowierten Armen und einem Gesicht, das so wenig nach Rockstar aussieht wie die Ferropolis-Bagger nach Schichtbeginn. Alles echt! "Finde die Wahrheit", empfiehlt der Sänger, "hab keine Angst / finde die Wahrheit / so lange du noch kannst". Eingebettet ist die Suche in eine perfekte Live-Show aus Haley-Gitarren, Großleinwänden und Ohoho-Gesang, mit der die Onkelz sich in der Baggerstadt als letztes Identifikations-Angebot für einsame Individualisten inszenieren. Rechts? Links? Dort die, hier wir! Das große Gruppengefühl, es lebt unten im Gewühl, wo Männerkörper schwitzen und Mädchen für die Großbildschirme bereitwillig ihre Leibchen lüften. So warm kann's werden in karrierekalter Zeit.

Donnerstag, 30. Januar 2014

Seeger: Das Banjo im Anschlag


John Mellencamp, Willie Nelson, Dave Matthews und Neil Young schauen wie Schüler zu dem Mann am Mikrofon, der steiffingrig an seinem Banjo zupft, aber den Text von "This Land is Your Land" noch besser intus hat als die gesammelte Rockprominenz neben ihm. Pete <> ist sagenhafte 94 Jahre alt, als er im letzten Sommer bei Neil Young Festival "Farm Aid" auftritt. Es wird sein letzter großer öffentlicher Auftritt und er zeigt, welche Spuren der Mann aus New York bei nachfolgenden Musiker-Generationen hinterlassen hat.

Dabei war Seeger, Sohn eines Musikwissenschaftlers und einer Geigenlehrerin, sein langes Leben lang weder ein großer Virtuose noch ein besondern kreativer Liedschreiber. Seeger, der seine erste Band im Alter von 22 Jahren gemeinsam mit dem gleichgesinnten und später gleich legendär gewordenen Woody Guthrie gründet, sieht sich mehr als Musikorganisator, als einen Mann, der die Kunst nutzt, Menschen in Bewegung zu bringen, damit die Verhältnisse das Tanzen lernen. "Peoples Song" nennt Seeger seine Gesangsorganisation, mit der er als erklärter Linker mitten im Kalten Krieg Völkerfreundschaft befördern will.


Pete Seeger, zeitweise Mitglied der Kommunistischen Partei, landet vor dem Komitee für unamerikanische Umtriebe, er landete für ein Jahr hinter Gittern und für zwei Jahrzehnte auf der Schwarzen Liste der US-Radiostationen, die sich weigern, Seeger-Hits wie "Where have all the Flowers gone" ("Sag mir, wo die Blumen sind") und "If I had a Hammer" zu spielen.


Notgedrungen strickt sich Seeger eine der ersten Independent-Karrieren der Popgeschichte: Unabhängig von der Plattenindustrie und Verkaufszahlen tourt er unablässig, früh entdeckt ihn auch die DDR-Kulturbürokratie als möglichen Verbündeten im Kampf gegen den US-Kulturimperialismus. Seeger spielt hier schon in der 60er Jahren live, die staatliche Monopolfirma Amiga veröffentlicht eine Schallplatte, Seeger inspiriert damit auch die Hootenanny-Bewegung, die später wegen amerikanischer Umtriebe allerdings von Staats wegen in "Singebewegung" umbenannt wird.


Daheim hat der schmale, hinter einem schütteren Vollbart versteckte Sänger im Amerika der Vietnam-Kriegs-Gegner seine besten Jahre. Vom Außenseiter wird Seeger zum Vorbild für Bob Dylan, Bruce Springsteen und Joni Mitchell, obwohl er doch bei Dylans legendärem ersten Konzert mit E-Gitarre derjenige gewesen war, der dem vermeintlichen Verräter an den hehren Werten des Folk hatte den Strom abdrehen wollen.

Joan Baez sang damals seine Lieder, Marlene Dietrich auch. Pete Seeger lässt auch nach dem Zusammenbruch des Sozialismus nicht von seinen Idealen, störrisch, träumerisch und eisenhart zugleich. Mit 89 veröffentlicht er noch einmal ein Studioalbum, die Stimme schon wacklig, der Wille aber fest. Mit 92 ist er bei einem Geburtstagsalbum für Amnesty International dabei, er intoniert augenzwinkernd Bob Dylans Song "Forever young". Vorgestern nun ist Peter Seeger, den alle nur Pete nannten, in einem New Yorker Krankenhaus gestorben.