Dienstag, 2. Juni 2015

Kreuz­fahrt auf dem Jangtse


Kaiser haben ihn befahren, Mao Tsetung hat ihn besungen und er hat mehr Namen als jeder andere Fluss: Der Jangtse ist der größte Strom Chinas. Und dennoch weitgehend unbekannt.

Der Nebel hängt schon am Morgen wie ein feuchtes Tuch über Chongqing. Die Luft ist nass, der Himmel über der 32-Millionen-Metropole im chinesischen Hinterland grau. Smog? Industrieabgase? Lilly, die in Chinas jüngster Regionshauptstadt aufgewachsen ist, schüttelt den Kopf. "Der Dunst kommt vom Fluss", sagt die Fremdenführerin, die eigentlich einen chinesischen Namen trägt, sich aber wie alle Einheimischen einen westlichen Zweitnamen zugelegt hat, um den "lieben Gästen" aus dem Westen Kopfzerbrechen über die richtige Aussprache zu ersparen. 300 Tage im Jahr liegt Chongqing so in den Wolken. Das sei eine sehr feine Sache, freut sich die 25-Jährige. "Durch die feuchte Luft haben Frauen in Chongqing die schönste Haut von ganz China!"

Herumgesprochen hat sich das aber noch nicht weiter. Chongqing, rund 2 000 Kilometer im Inland gelegen, ist die große Unbekannte unter den chinesischen Weltstädten. Erst der Bau des umstrittenen Drei-Schluchten-Damms machte die Hochburg des chinesischen Autobaus für große Schiffe erreichbar. Er sichert auch die Befahrbarkeit des drittgrößten Flusses der Welt für eine neue Generation riesiger Kreuzfahrtschiffe.


Die starten dort, wo der kleinere Fluss Jialing in den größeren Jangtse mündet. Neben chinesischen Anbietern, die sich bei Ausstattung und Service an Bord am Geschmack der wachsenden Zahl einheimischer Touristen orientieren, zielen andere Unternehmen auf die internationale Kundschaft.

Die Kabinen sind größer, die Speisekarten westlicher, der Cruise-Director ist ein junger Amerikaner, der Komfort entspricht dem eines Fünf-Sterne-Hotels. Wie auf einem großen Kreuzfahrer gibt es für die Gäste aus Deutschland, den USA und Spanien Roomservice, Kapitänsdinner und Wäscheservice. In Musestunden läuft ein buntes Unterhaltungs- und Bildungsprogramm von Lektionen in Chinesisch und fernöstlicher Medizin bis zu Majong-Turnieren und Musicalshows. Der Unterschied zu einer Reise auf dem Meer: Diese Kreuzfahrt führt immer geradeaus.

Eine Fahrt von Chongqing bis nach Shanghai, wie sie das US-Unternehmen Victoria Cruises anbietet, ist die bequemste Art, das Reich der Mitte von innen kennen zu lernen. Denn Städte wie Peking oder Shanghai sind etwa so sehr das wahre China wie der Ku-Damm in Berlin das wahre Deutschland ist: Zu viel Chrom, zu viel Glanz, zu viel Licht und Geschwindigkeit.

Draußen auf dem Strom, der auf chinesisch Changjiang - "Langer Fluss" - heißt, wird die ganze Dimension und Komplexität des Landes deutlich. Bald hinter Chongqing schwillt der 6 380 Kilometer lange Fluss zum Stausee des Drei-Schluchten-Dammes. Der würde, auf eine Deutschland-Karte gelegt, von Berlin bis München reichen.

Doch China ist nicht nur eine der am schnellsten wachsenden Volkswirtschaften, eine der ältesten Kulturen und eines der letzten kommunistischen Länder. Sondern auch Heimat gewaltiger Naturdenkmäler, technischer Mammutprojekte und freundlicher Menschen, für die jede "Langnase" Grund ist, das Fotohandy zu zücken. Eine Reise auf der "Victoria Prince", dem modernen Flaggschiff von Victoria Cruises, führt zuerst in die Geisterstadt Fengdu, die den Chinesen seit 1 800 Jahren als Sitz des Königs der Unterwelt gilt. Auf dem Gipfel des Mingshan-Berges, den man zu Fuß oder mit der Seilbahn erreicht, steht der Tempel des Höllenkönigs, bis zu dem die anschwellenden Fluten des gestauten Jangtse nicht reichen. Die alte Stadt Fengdu hingegen, die am Fuße des Berges lag, ist verschwunden. Blinkende Lichter am anderen Ufer künden vom neuen Fengdu, einer Stadt vom Reißbrett mit vierspurigen Straßen, Hochhäusern und Leuchtreklamen.

Am nächsten Morgen wirken die drei atemberaubenden Schluchten Qutang, Wu und Shennongxi umso einsamer. Steil ragen die Felsen an Backbord und Steuerbord in den Himmel. Ein paar Jahrhunderte alte Wandmalereien und einige winzige Häuschen nur verraten, dass im kargen Bergland noch immer Menschen leben.

Die meisten aber, das zeigen die Pegeltafeln am Ufer, sind schon fort. Insgesamt hat der 17 Milliarden Euro teure Damm, den Chinas Staatsgründer Sun Yat-sen vor 80 Jahren eigenhändig entwarf, mehr als 600 Quadratkilometer mit 13 großen und 140 kleinen Städten, 1 000 Dörfern und 650 Fabriken verschluckt. 1,3 Millionen Menschen wurden umgesiedelt, zum Teil weit nach Norden, zum Teil ins Umland von Shanghai.

Kollateralschäden beim Aufbau der Zukunft, die auch Riverguide Curtis Ning sieht. Zweifel an der Notwendigkeit des Staudammes aber hat der 28-Jährige, der aus einer unter Mao verfolgten Familie stammt, nicht. "Drei Millionen Menschen sind bei Überschwemmungen im vergangenen Jahrhundert umgekommen", rechnet er vor. Allein in den letzten 15 Jahren habe es sechs Hochwasser gegeben, die Tausende töteten. "Deshalb brauchen wir den Damm."

Ganz nebenbei aber, sagt Cherry, die an der Staumauer einen endlosen Strom von chinesischen Reisegruppen in das größte Dammprojekt der Menschheit einweist, "wird der Drei-Schluchten-Damm auch die größte Stromgewinnungsanlage der Welt sein." 200 Millionen Kilowatt wird "Three Gorges" ab 2009 liefern - eine Leistung, für die China sonst 20 Kernkraftwerke hätte bauen müssen.

Die Zeugen der eigenen Geschichte aus dem Landstrich am langen Fluss bunkern Staatspartei und Verwaltung derweil in futuristischen Glaspalästen wie dem im Stil des Drei-Schluchten-Damms gebauten Museum in Chongqing. Hier wird das Erbe multimedial und mehrsprachig zelebriert. Das alte China aus der Konserve, damit das neue draußen Platz hat.

Aber auch auf dem Fluss ist die Vergangenheit noch präsent. Von Badong etwa, der Hafenstadt zwischen Schluchten und Damm, fahren Boote in die kleinen Schluchten, durch die sich der klare Shennong-Strom in den trüben Jangtse ergießt, der pro Jahr 530 Millionen Tonnen Schlick aus dem Himalaya-Gebirge ins Meer transportiert.

In Longshang, einer Siedlung, die vor der Flutung auf die andere Uferseite verlegt wurde, warten dann winzige Kähne, die von Männern der Tujia-Minderheit abwechselnd gerudert und zu Fuß an einem Seil durch das seichte Wasser geschleppt werden. Die Ufer hier sind steil aufragende Massive, in denen das Volk der Ba in grauer Vorzeit seine Toten bestattete. Hoch oben in den Felswänden hängen bis zu 2 000 Jahre alte Särge.

Wuhan und Nanjing sind dann wieder modernes China aus Stahl und Chrom, das sich Geschichte wie einen Garten leistet. Noch ein Abstecher zum Huangshan, dem "Gelben Berg", spätestens seit Maos Bastschuh-Marsch auf den Gipfel höchstes Heiligtum der Nation. Und hier ist auch der Nebel wieder, der über dem Tal hängt wie auf einem dreitausend Jahre alten Tuschgemälde. Am Lotosblütenberg, dessen bizarre Gipfel aus dem Wolkenmeer ragen, fallen Tradition und Moderne schließlich ganz unauffällig zusammen: Betreiber des Berges ist neuerdings eine Aktiengesellschaft, die an der Schweizer Börse gehandelt wird.

Freitag, 29. Mai 2015

Minecraft: Wenn Betrüger betrogen werden

Ehrlichsein ist leicht im Computerspiel. So lange sie vorwärtskommen, können Spieler es verschmerzen, dass sie auf der Nase landen oder ganz von vorn anfangen müssen. Wie beim Mensch-ärgere-Dich-nicht liegt der Spaß ja gerade darin, es trotzdem zu schaffen, gegen alle Widerstände und weil es nicht leicht ist.

Wie beim Mensch-ärgere-dich-nicht lässt sich dem Glück aber auch im Computerspiel nachhelfen. Eine ganze Industrie lebt davon, fertige Lösungen anzubieten, die Spielern beim Schummeln helfen: Statt auszuprobieren, wie sich ein Hindernis überwinden lässt, kauft der gewitzte Gamerfertige Tricks einfach ein. Zack, als würde man beim Mensch-ärgere-Dich-nicht auf einmal mit allen Männchen im Ziel stehen.

Im weltweit beliebtesten 3D-Spiel Minecraft sind nun allerdings hunderttausende solcher kleinen Schummler selbst böse betrogen worden. Helfer-Programme, die vorgaben, Ratlosen Tipps geben zu wollen, warnten stattdessen vor gefährlichen Viren auf den Handys neuer Nutzer. Die wurden damit so erschreckt, dass sie - wie von dem Programm geraten - eine SMS abschickten, die angeblich augenblicklich Abhilfe schaffen würde.

Tat sie nicht, denn in Wirklichkeit schloss der Nutzer mit der SMS nur ein Abo für fünf Euro pro Woche ab, das keinerlei Nutzen hat. Abgesehen davon natürlich, dass es Betroffene vollelektronisch an Omas Mahnung beim Mensch-ärgere-Dich-nicht erinnert: Ehrlich währt am längsten.

Dienstag, 26. Mai 2015

Schlachthof Halle: Zerbrochene Fenster, brennende Altlast

Die "Broken Windows"-Theorie von James Q. Wilson und George L. Kelling beschreibt einen Vorgang, nach dem Ansätze von Verluderung und Verslummung, eben etwa das zerbrochene Fenster in einem leer stehenden Haus, binnen kurzer Zeit dazu führen können, dass völlige Verwahrlosung und Zerstörung eintritt.

Ein Phänomen, das sich am Alten Schlachthof in Halle seit Jahren bestätigt. Seit Ende der 90er Jahre eine letzte öffentliche Veranstaltung in dem mehr als hundert Jahre alten Gemäuer stattfand, zerfallen die wunderbaren Ziegelsteingebäude auf dem ausgedehnten Gelände direkt an den Gleisanlagen der Bundesbahn ungestört. Der Schlachthof ist das Zuhause von Graffitimaler und abenteuerlustigen Kindern, Autodiebe lagern hier aussortierte Karossen, wer abzuladen hat, bringt ihn an diesen Platz, wo die Seelen gemeuchelter Schweine durch die Hallen geistern.


Es gab immer wieder ehrgeizige Pläne, das Terrain zu retten. Zuletzt wollte eine Genossenschaft um Richard Schmid, einst Mitbegründer der Grünen und des globalisierungskritischen Netzwerkes Attac, hier ihre Vision einer völlig neuen Art von Zusammenleben umsetzen. Ein mitmenschliche "Wohnmaschine“ sollte gemeinschaftliches Leben gegen sechs Stunden Gratisarbeit für jeden Bewohner im Monat in Küche und Wäscherei ermöglichen, nachhaltig und energiesparend.

Der Weg aber ist weit, zu weit vielleicht angesichts des anhaltenden Desinteresses bei der Stadtverwaltung und der inzwischen wöchentlich auflodernden Mode, Brände im Alten Schlachthof zu legen. Die Facebook-Seite der Initiative ist seit einem halben Jahr verwaist, da "der Verkauf des Gelände an eine Inkassogesellschaft das weitere Nachdenken und Gestalten des Projekts schwierig oder sogar undurchführbar" macht, wie die Initiatoren in einer Art Schlusswort schreiben.

Bis zu vier Millionen Euro Altschulden lasten auf dem Grundstück, die Stadt sitzt zudem auf Grundsteuernachforderungen in Höhe von einer halben Million Euro. Ein Gewicht, das alle hochfliegenden Pläne am Boden hält. Und die Feuerwehr beschäftigt.

Montag, 18. Mai 2015

John Grisham: Ein anderes Wort für Gerechtigkeit

Sie gehört zu den Gewinnern, das Konto ist voll und die Zukunft lässt auf noch mehr hoffen. Die junge Anwältin Samantha Kofer wird erst aus ihrem Traum von der Karriere in einer großen New Yorker Anwaltskanzlei gerissen, als die Finanzkrise ihre Firma zwingt, die Belegschaft auszudünnen. Auch Samantha muss gehen. Weil es leider gerade keine Jobs für Immobilienanwälte gibt, verschlägt es sie nach Süden, in die Appalachen, wo sie ohne Bezahlung helfen soll, einer Kleinstadtkanzlei bei deren wenig lukrativen Kleinstadtfällen zu helfen.

John Grisham liebt solche Konstellationen, das wissen Millionen Leser spätestens seit den Welterfolgen „Die Firma“ und „Die Akte“. Auch bei „Anklage“, dem 23. Justiz-Thriller aus der Feder des heute 60-Jährigen, funktioniert die Methode wieder: Samantha Kofer findet sich in einer fremden Welt wieder - und sie muss bald erkennen, dass hier, hinter sieben Bergen, das wahre Leben wütet.

Es ist mehr Umwelt- als Justiz-Thriller, den Grisham da geschrieben hat, denn im Mittelpunkt der Ereignisse steht diesmal nicht ein Streit vor Gericht oder das Ränkespiel im Hintergrund eines Verfahrens. Stattdessen schildert der studierte Anwalt, welch verheerende Auswirkungen die Kohleförderung in West-Virginia auf die Natur des sogenannten Mountain State hat.

Geschleifte Berge, ausradierte Flüsse, vergiftetes Grundwasser, Grubenkumpel mit Staublunge, gierige Konzerne und Mordanschläge - natürlich bettet Grisham seine Beschreibungen der Apokalypse vor der Haustür in eine packende Handlung ein. In der muss die von echter Anwaltsarbeit unbeleckte Samantha Kofer Farbe bekennen: Will sie zurück an die Futternäpfe der juristischen Großindustrie? Oder ist sie bereit, den aussichtslosen Kampf gegen mörderische Konzerninteressen aufzunehmen? John Grisham hat mit „Die Akte“ schon vor 20 Jahren einen Thriller mit Öko-Hintergrund geschrieben. Hier aber steht der Öko-Gedanke im Vordergrund.

Dienstag, 12. Mai 2015

Die Geldsammler im Internet

Mit der US-Seite Kickstarter gibt es bald noch eine Möglichkeit mehr, Ideen mit Hilfe von Investoren aus dem Internet zu verwirklichen.

Der US-Liedermacher Paul Basile hat es bei seinem letzten Album mit seiner Band Great Elk getan, die Erfinder der Smartwatch Pebble haben ihr weltweites Erfolgsmodell so finanziert, der Leipziger Filmemacher Mark Michel versucht es gerade bei einem neuen Dokumentarfilm namens „Sandmädchen“ über die autistische Schriftstellerin Veronika Raila und das vom Hallenser Wolfgang Aldag angestoßene Blumenprojekt „Millionen für Halle - Halle blüht auf“ steht noch ganz am Anfang.

Ob der Mann, der einst die große Händelwiese auf dem Markt der Saalestadt begrünte, die erträumten knapp 6 000 Euro für eine Narzissenbepflanzung zusammenbekommt, ist noch unklar. Aber sicher ist: Ideenfinanzierung aus dem Internet ist der große Trend der Zeit. Auf Plattformen wie Startnext, Visionbakery, 100fans oder Dreamojo können Menschen, die irgendein Projekt verwirklichen wollen, ihr Vorhaben darstellen. Und das Publikum bitten, mit mehr oder weniger großen Beträgen bei der Umsetzung zu helfen.

Dabei geht es nicht um Spenden, sondern - hier mehr, dort weniger - um Investitionen. Wer etwa Paul Basiles Album kaufte, noch ehe es existierte, bekam zusätzlich zur Zusendung der CD vorab Zugang zu Demo- und Live-Aufnahmen. Die Kultband Einstürzende Neubauten, die das sogenannte Crowdfunding bereits seit vielen Jahren betreibt, lässt zahlende Fans sogar bei der Studioarbeit zuschauen.

Je nachdem, wer wie viel geben will, schnüren Anbieter unterschiedliche Pakete. Narzissen-Fan Aldag belohnt Geldgeber mit Narzissen-Postkarten, die Macher der 3D-Brille Wearality Sky versprechen Vorabexemplare, der Regisseur Mehrdad Taheri lockt mit einer Einladung zur Premiere seines Thrillers „Dünnes Blut“.

„Soziales Business“ nennen das die einen, „Kreativität gemeinsam finanzieren“, sagen die anderen. Seit der US-Musiker Brian Camelio vor zwölf Jahren mit der Internet-Plattform ArtistShare startete, sind ähnliche Seiten wie Pilze aus dem Boden geschossen. Indiegogo und Sciencestarter, Crowdfans und Spieleschmiede - egal, ob Musik, Kunst, Technik oder die Gründung einer Gaststätte, einer Autowerkstatt oder eines Buchverlages - es gibt unzählige Möglichkeiten für Leute mit Ideen, sich von der großen Internetgemeinschaft bei der Verwirklichung helfen zu lassen. Dabei gilt das Alles-oder-nichts-Prinzip: Wird das vom Initiator gesetzte Finanzierungsziel erreicht, zahlen die Unterstützer. Wenn nicht, dann nicht.

Längst ist das Geldsammeln für dies und das ein Riesengeschäft. Der deutsche Marktführer Startnext wurde vor fünf Jahren in Dresden gegründet, später starteten hierzulande zahlreiche weitere Plattformen. Manche zielen dabei auf Fans, die kleine Summen geben, um ihre Stars zu unterstützen. Andere haben wie innovestment.de oder companisto.de eher die Absicht, echte Investoren zu werben. Das Geld, das hier gesammelt wird, fließt in eine Firmenbeteiligung: Wird das Produkt, zur Zeit etwa das E-Bike Freygeist oder die 360-Grad-Wurfkamera Panono, wirklich ein Verkaufsrenner, zahlt sich das für die Finanziers aus.

Dabei geht es nicht um kleine Summen, wie sich bei vielen Finanzierungsbitten zeigt. So haben die Entwickler des „Freygeist“-Fahrrads bereits mehr als eine Million Euro eingesammelt, die Macher eines nachhaltigen und fairen Kondoms namens „Einhorn“ kamen auf mehr als 100 000 Euro und die Erfinder von Fahrradpedalen, die zugleich als GPS-Diebstahlsicherung dienen, warben in nur zwei Tagen fast 50 000 Dollar ein.

Dabei will Kickstarter, die größte Crowdfunding-Plattform, jetzt erst richtig durchstarten. Bisher konnten deutsche Erfinder, Macher und Künstler nur die internationale Seite des Dienstes nutzen, ab 12. Mai wird es nun eine lokalisierte Plattform für Deutschland geben. „Deutschen Gründern und Kreativen stehen dabei alle 15 Kategorien von Kickstarter zur Verfügung, um eigene Projekte zu präsentieren“, kündigt Yancey Strickler an, der die Firma 2009 in New York mitgegründet hat. Seither habe sein Unternehmen 8,4 Millionen Menschen weltweit dazu motiviert, fast 1,5 Milliarden Euro auszugeben und damit mehr als 83 000 Ideen zum Leben zu erwecken.

Aber ohne Hilfe von Crowdfundingfirmen geht es auch, dachten sich Detlef Thürkow und Sven Ziegler vom halleschen Fußballverein Turbine, als es um die Frage ging, wie der kleine Klub Geld für einen Kunstrasenplatz auftreiben könnte. Statt eine der etablierten Plattformen anzusteuern, programmierte der studierte Geograf Thürkow zusammen mit einem Computerexperten aus dem Verein eine eigene technische Lösung, über die nun seit Anfang des Jahres symbolisch Rasenstücke am neuen Platz verkauft werden. Mit beinahe unfassbarem Erfolg: In nicht einmal vier Monaten brachte die Turbine-Aktion „Wir stauben den alten Schotter ab“, die aus einem historischen Schotterplatz aus den 50er Jahren einen modernen Kunstrasenplatz für den Vereinsnachwuchs machen soll, fast 30 000 Euro von Privatspendern, Firmen und Sponsoren ein.

Direkt zur Aktion:
Kunstrasen Turbine Halle

Freitag, 8. Mai 2015

Ein Tag mit den Nachtwölfen


Es ist ihre "Siegestour", eine Europarundfahrt, bei der Mitglieder des russischen Motorrad-Clubs Nachtwölfe die Toleranz des Westens austesten. Mit riesigem Erfolg, wie ein ausufernder Streit um Visagültigkeiten, Einreiseverbote und schließlich auch die vorletzte Etappe von Prag über Torgau nach Berlin bewiesen. Wie es Wladimir Putin wohl am allerbesten gefallen würde, zeigte sich Deutschland nicht als weltoffenes, gastfreundliches Land. Sondern als eine Art wiedergekehrte DDR, die mit Schikane und offener Feindlichkeit dort agiert, wo es ihr die eigenen Gesetze unmöglich machen, eine Rundfahrt von zweieinhalb Dutzend Motorradfahrern quer durchs Land zu verhindern.

Es sind rund achtzig Leute, die pünktlich zur Mittagsstunde am Torgauer „Denkmal der Begegnung“ stehen. Viele Torgauer sind darunter, einige Biker aus dem Erzgebirge und aus Leipzig, Berliner, die von hier aus mitfahren wollen, aber auch Russen, Ukrainer, Tschechen. Rechts hängt die russische Staatsflagge, links schwenkt ein Pärchen die ukrainische. Die Sonne scheint, die Elbe plätschert, gleich müssen die selbsternannten russischen Patrioten kommen.

Wenn da nicht die Grenze wäre. „Vielleicht lässt man sie gar nicht rein“, sagt Heiner, der in der DDR mal im Gefängnis saß. Wegen Republikflucht. Heiner bekommt heute Verfolgtenrente, dennoch ist der 62-jährige frühere Kraftfahrer gar nicht gut zu Sprechen auf das Land, in dem er lebt. Kriegstreiber bestimmten viel zu sehr, sagt er. Die ganze Ukrainepolitik, das in Arabien… „Vor 25 Jahren“, schwärmt Heiner, „haben wir da unten in der Elbaue noch alle zusammen beim Elbe Day gefeiert!“

Heute hängen gegenüber am Ufer zwar auch noch US-Flagge, russische Fahne und die deutschen Farben einträchtig nebeneinander. Aber auch zwei Stunden nach der geplanten Ankunft der Nachtwölfe ist keine Spur der Russen zu sehen. Mitfahrer schicken Whatsapps. Begleitung durch die Polizei, in Tschechien darf der Konvoi auf zwei Spuren fahren. An der Grenze keine Probleme. „Viele Sympathisanten hier und Kamerateams.“ Kein Wunder, sagt ein junger Mann mit St. Georgsband am T-Shirt: „Die Regierung hat ja mit ihren Einreiseverboten alles getan, damit das ein richtiger Propagandaerfolg für Putin wird.“

Bundesinnenministerium und Auswärtiges Amt hatten nach den ersten Ankündigungen der Fahrt erklärt, das Unternehmen fördere nicht die deutsch-russischen Beziehungen. Polen verweigerte den "Nachtwölfen" die Einreise. Am Flughafen Berlin-Schönefeld wurden Mitglieder abgewiesen und erteilte Visa erst anerkannt, nachdem zwei Gerichtsinstanzen die Behörden in die Schranken gewiesen hatten.

Aber es kostet keine große Mühe, Putin noch mehr zu geben. Obwohl zwei russische Diplomaten den Konvoi begleiten, wird der kurz hinter der deutschen Grenze auf einen Parkplatz dirigiert. Eine Routinekontrolle, natürlich, gleich an der ersten Haltemöglichkeit auf der Autobahn 17 Prag-Dresden auf deutschem Gebiet. Es beginnt ein Nervenkrieg, der fast sechs Stunden anhalten wird: Die Russen werden einzeln vernommen, Pässe kontrolliert, die Ausrüstung untersucht. Rein, raus, rein. "Die filzen alles", kommt es per Facebook-Messenger rein. Als alles erledigt ist, kommen die mitfahrenden mazedonischen „Wölfe“ dran: Einem wird die Einreise verweigert, ohne Begründung.

In Torgau wird das Denkmal der Begegnung, in dessen Nähe sich Russen und Amerikaner einander vor 70 Jahren über die Frontlinien hinweg die Hände schüttelten, derweil seinem Namen gerecht. Es gibt Diskussionen, laute und leise. Pegida-Anhänger diskutieren mit Linken, Russen mit Ukrainern, Rocker mit Familienvätern. Niemand weiß nichts Genaues, doch das Gefühl, dass etwas ganz entschieden nicht stimmt, wenn ein Land wie Deutschland Angst vor einer Handvoll Motorradfahrern in schwarzen Kutten hat, das ist überall. „Die haben uns befreit“, sagt Jens, der mit seinem Motorrad aus dem Erzgebirge gekommen ist, „und wir lassen sie nicht rein.“

Deutsche Dankbarkeit, höhnt einer der Russen, ein älterer Mann, der später noch erzählen wird, wie er beim Abzug der Sowjetarmee aus Deutschland beschloss, hierzubleiben. Er ist dankbar. Aber. Ein Mann aus Freital, der eben noch Pegida als „meine neue zweite Heimat“ bezeichnet hatte, nickt ernsthaft. „Weißt Du, so lange wir euch in der DDR lieben mussten, konnte ich euch nicht leiden“, sagt er, „aber jetzt mag ich euch wirklich.“

Noch mehr solche seltsamen Allianzen lässt die Wartezeit entstehen, die sich mit jeder bei irgendeinem der inzwischen weit über hundert Menschen am Denkmal eingehenden Kurznachricht weiter ausdehnt. Immer noch werden die Nachtwölfe in Grenznähe durchsucht, immer noch sind die Sieger von vor 70 Jahren keinen Meter weiter. Doch da gleicht der Sachse dem Russen wie der Russe dem Ukrainer: „Und wenn ihr die bis heute Abend aufhaltet, wir warten“, raunzt ein sportlich gekleideter Fernradfahrer in Richtung des Polizeiwagens, der pünktlich jede halbe Stunde vorbeikullert und die Anwesenden zählt.

„Jetzt funkten die bestimmt durch, dass die Zusammenrottung sich immer noch nicht aufgelöst hat“, sagt Heiner, der Ex-DDR-Flüchtling, der lange überlegt hat, ob er sich hier wirklich sehen lassen kann. „Ich meine, kann es nicht sein, dass die einen fotografieren und dann ist meine Opferrente weg?“ Kopfschütteln ringsum. Eher nicht, meinen die meisten. Putinversteher sein ist nicht verboten, sagt einer. "Noch nicht", höhnt ein anderer. Wobei sich niemand so sicher ist. „Die filmen uns ja alle und dann rufen die bei den Betrieben an und sagen, der und der, der war bei der und der Demo.“ Der Mann meint das ernst. Sei doch gewesen, in Dresden. Ehrlich!

Verschwörungstheorien haben Hochkonjunktur, allerdings ist es mit fortschreitender Zeit auch schwierig, Wahrheit und Dichtung auseinanderzuhalten. Ist man für den Frieden, wenn man dafür ist, dass die Nato sich zurückhält? Ist man für Putin, wenn man dagegen ist, dass die EU sich immer weiter ausdehnt? Und wenn es ein „üblicher Vorgang“ ist, dass Reisende fünf Stunden kontrolliert werden, wie ein Sprecher der Bundespolizei sagt, „warum schreiben sie dann nicht einfach ,Willkommen in der DDR´ über den Grenzeingang“, fragt einer.

 Alle rundherum lachen. Mehrere gehen noch mal Bier holen. Andere essen Eis. Die Russlandfahne ist von ihren Besitzern inzwischen an einen Baum geknibbert worden. Die Besitzerin der ukrainischen Flagge hält ihr Tuch tapfer in der Hand. Inzwischen kennen sich die meisten aus der Wartegemeinschaft. Inzwischen fragt man sich gegenseitig beim Rundendrehen um den Platz: „Was Neues gehört?“

Nöö, nichts. Die Kioskfrau am Elbeufer freut sich. Was für ein Tag! Kinder spielen am Denkmal, hüpfen und springen. Die Rocker aus Sachsen. Thüringen und Brandenburg, die gegenüber geparkt haben, fahren immer mal eine Runde, wenn ihnen zu langweilig wird. Ein Schiff kommt vorbei, dann noch eins. Dann rufen die Nachtwölfe nach Hilfe: Dass sie noch bis Berlin kommen an diesem Abend, der sich langsam zur Ruhe legt, glauben sie nun auch nicht mehr. Es ist nun ja schon um sieben und die Polizei schickt sich nach einer Entscheidung aus dem Bundesinnenministerium zwar an, die 25 Motorradfahrer nun doch weiterfahren zu lassen. Aber erstmal bis zur nächsten Tankstelle. „Wir brauchen Übernachtung für mindestens 20 Leute“, heißt es bei Twitter. „Ein paar könnten mit zu uns kommen“, sagt eine Frau sofort. „Ich gehe los und frage einen Kumpel, der hat eine Pension“, verabschiedet sich ein Mann.

Am Begegnungsdenkmal diskutieren sie mittlerweile die ganze Weltpolitik. Eurokrise, Griechenschulden und immer wieder die Ukraine und die NSA. Wer sagt "Schoßhündchen, wir sind Schoßhündchen", darf auf großes Nicken in der Runde hoffen.

Aber immer noch keine "Nachtwölfe", immer noch keine Harleys und Goldwings. Und immer noch geht keiner, sondern es kommen immer mehr Leute dazu. „Wäre eine schöne Geste, wenn der Bürgermeister sich herbemüht hätte“, sagt Heiner. „Da wären die auch nicht schneller hiergewesen“, entgegnet ihm der Pegida-Mann. Für ein paar Minuten ist der Pudel eines Russen ein Star, denn er trägt ein St. Georgsband am Hals, wie es die Separatisten in der Ostukraine tragen. Die Leute reden, als sei ihnen bewusst, dass das hier eine Machtprobe ist, wie Jens glaubt, der sich an den Herbst 1989 erinnert fühlt: „Es geht nur darum, ob wir eher aufgeben oder die.“ Er guckt dabei zum Streifenwagen rüber, der gerade wieder vorbeischleicht.

Ein Fernduell zwischen der Bundespolizei auf dem Parkplatz "Am Heidenholz", drei Kilometer hinter der Grenze. Und den Frauen und Männern mit den Fahnen, Fähnchen und Bändern 150 Kilometer weiter nördlich am Elbufer von Torgau. Es dauert. Die Sonne sinkt. Im Vorübergehen hört man hört Leute jetzt auf Angela Merkel schimpfen.

Kurz vor zehn treffen die Nachtwölfe schließlich in Torgau ein. Nur ein Blitzlichtgewitter und ein paar Taschenlampen erhellen noch die Kranzniederlegung. Für Friedensgesten ist Platz in der Nacht. „Drushba – Freundschaft“, rufen die Leute dann, der Rhythmus sitzt noch von damals in der DDR.

Mittwoch, 29. April 2015

Geheimdienstkrieg: Als die Stasi die NSA ins Visier nahm

Dass die NSA bundesdeutsche Politiker, Firmen und Institutionen belauschte, wusste das DDR-Ministerium für Staatssicherheit bereits in den 80er Jahren. Umso erstaunlicher scheint es, dass 30 Jahre später deutsche Spitzenpolitiker mit der Behauptung durchkommen, sie hätten nie geahnt, welches Ausmaß die Überwachung im Westen durch die Dienste des Nato-Partners erreicht habe. Nicht nur, dass mehere bundesdeutsche Geheimdienste eigentlich die Aufgabe haben, Spionage auswärtiger Dienste zu verhindern oder aber wenigstens sie zu bemerken. Nein, bereits vor längerer Zeit hat der frühere Stasi-Mann Klaus Eichner ein Buch über die Kenntnisse des MfS geschrieben, das deutlich macht: Wissen ist Macht, doch in der Welt der Politik ist manchmal Nichtwissen Voraussetzung für das Überleben im Amt.

Als Edward Snowden der Welt enthüllte, welches Ausmaß die Überwachung der elektronischen Kommunikation durch den US-Geheimdienst NSA erreicht hat, erschütterte die Nachricht das Grundvertrauen von Millionen Menschen, die bis dahin nicht ahnten, dass jede Mail, jedes Telefonat und jede SMS nicht nur mitgelesen und ausgewertet werden kann. Sondern auch mitgelesen und abgehört wird. Das ist deutschen Geheimddiensten zwar verboten, soweit es im deutsche Staatsbürger betrifft. Aber seit Jahrzehnten wird diese Vorgabe aus dem Grundgesetz ganz einfach ausgehöhlt: Der Bundesnachrichtendienst kümmert sich um Verdächtige im Ausland. Der Verfassungsschutz kümmert sich nicht um die Aktivitäten befreundeter Dienste im Inland. Und dafür liefern diese Daten über Deutsche, die deutsche Dienste selbst nicht erfassen dürfen.

Keine Neuigkeit war das für Klaus Eichner, der bis 1990 als Analyst des DDR-Ministeriums für Staatssicherheit für die Überwachung der Tätigkeit der US-Geheimdienste in Deutschland zuständig war. Eichner, zuletzt im Range eines Obersten, berichtet in seinem Buch „Imperium ohne Rätsel“ (Edition Ost, 9,99 Euro) vom US-Unteroffizier Jeffrey M. Carney, der 1985 in die DDR übergelaufen war, nachdem er zuvor zwei Jahre lang Einzelheiten über US-Spionageziele in Deutschland an die Stasi verraten hatte. Schon damals führten CIA und NSA Listen mit heute sogenannten „Selektoren“, also Telefonnummern, Adressen und Namen, zu denen die US-Behörden gern mehr und am liebsten alles gewusst hätten.

Durch Carney, der nach dem Mauerfall zwar Bundesbürger, dennoch aber in die USA abtransportiert und als Deserteur verurteilt wurde, war das MfS im Bilde über den geheimen Krieg der elektronischen Aufklärung, der sich nicht nur gegen Ziele im Osten, sondern auch gegen welche in der Bundesrepublik richtete. „Obwohl wir vorrangig ostwärts gerichtete Aktivitäten beobachteten, stellten wir fest, dass nicht wenige Ressourcen westwärts gerichtet waren“, beschreibt Eichner die Stasi-Informationen über Abhöranlagen in Berlin und Marienborn. Verwunderlich findet der Stasi-mann das nicht, schließlich hätten „große Staaten keine Freunde, sondern nur Interessen“.

Nachdem ein weiterer Überläufer der Stasi damals die Wunschlisten der NSA zur Informationsgewinnung in sämtlichen Ländern der Erde zuspielt, weiß das Mielke-Ministerium, „wie stark bereits Anfang der 80er das Interesse an der Aufklärung der westlichen Verbündeten war“. Seitenweise seien damals Informationswünsche zu verbündeten Ländern wie Frankreich, Kanada oder der BRD aufgelistet worden - ein Umstand, an dem sich bis heute offenbar nichts geändert hat.

Überwachungsstaat Deutschland: Ein Buch listet 600 Abhörstationen, Peilstellen, Ausbildungsstätten und Produktionsfirmen in der BRD und der Ex-DDR seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges auf.

Donnerstag, 9. April 2015

Stephen Kings "Revival": Alles fängt mit E an

Gitarre spielt Stephen King eigentlich nur für den Hausgebrauch. Aber mit den Rock Bottom Remainders ist der Altmeister des Horror tatsächlich schon öffentlich aufgetreten. Die Klampfe hatte er hoch unter die Achsel geschnallt, das T-Shirt verschwand im Hosenbund und die Stimme krähte auf halb acht.

So ähnlich muss Jamie Morton aussehen, der Erzähler und Held von Kings neuem Roman "Revival". Ein abgewrackter Rock-Gitarrist ohne Illusionen, dafür aber mit einem Riesenrucksack aus Traumata auf dem Buckel, so beschreibt der 67-jährige Auflagenmillionär die Figur, die den Nachfolger des hochgelobten letzten Buches "Mr. Mercedes" beinahe allein wegträgt.

Das kommt, weil Stephen King sich auf seine Stärken besinnt. Statt Monster und Gespenster zu bemühen, verlegt er sich wie zuletzt häufiger darauf, einen untergründigen, unausgesprochenen Schrecken heraufzubeschwören. Furcht kommt nicht von außen, Furcht kommt von innen, das Grauen wartet nicht in der Kanalisation wie noch bei "Es", sondern hinter der Straßenbiegung, wo der Traktor steht, den deine Frau und dein kleines Kind gleich mit voller Geschwindigkeit rammen werden.

Jamie Morton ist sechs, als das Buch beginnt und der Kleinstadtjunge dem Priester Charles Jacobs zum ersten Mal begegnet. Jamie weiß nicht, dass der begeisterte Hobby-Elektroniker sein großer Gegenspieler werden wird. Er ahnt nicht, dass er eines Tages seinetwegen vom Glauben abfallen muss. Er liebt den Mann, und er liebt ihn noch viel mehr, nachdem er seinem Bruder mit einem kleinen Trick die verlorene Sprache zurückgegeben hat.

Die großen Momente von Kings Schreiben kommen hier zusammen. "Stand by me" ist das, die mit River Phoenix und Kiefer Sutherland verfilmte Novelle, die der Mann aus Maine heute für eine seiner besten Arbeiten hält. Der "Friedhof der Kuscheltiere", der für eine Idylle mit Schatten steht. Und "Shining" natürlich, die klaustrophobische Studie eines in den Wahnsinn abgleitenden Autors. Geschütteltes Grauen, gewürzt mit Prisen aus Werken von Mary Shelley, Ray Bradbury und H.P. Lovecraft, so wird aus "Revival" ein Comeback für den Erzähler King.

Der lässt hier Zeit, er fesselt seine Leser ohne vordergründige Effekte. "Revival" ist anfangs das Porträt einer Kleinstadt in den amerikanischen Baby-Boomer-Jahren, das zum Porträt einer Kleinstadtjugend in den 70ern wird. Die Welt ist gut hier, die Zukunft offen, die Menschen mögen einander.

Das Böse schwebt wie ein Nebel durch die Straßen, während Jamie Morton erwachsen wird und die Bluesmusik für sich entdeckt. Reverend Charles Jacobs aber, nach dem Unfalltod von Frau und Kind kein Mann Gottes mehr, zieht umher und tut Gutes, auch seinem früheren Schützling Jamie, den er, inzwischen Chefscharlatan einer eigenen bizarren Kirche der Elektrizität, von seiner Heroinsucht heilt.

Es wimmelt hier von Anspielungen und Querverweisen, von Zeitsprüngen und liebenswerten Nebenfiguren. Stephen King, ein großer Zitierer schon immer, baut auf Bruce Springsteen und Edgar Allen Poe auf, doch im Grunde sucht er nach dem Sinn des Lebens, das seinem Protagonisten mit zunehmendem Alter scheint wie das Experiment mit dem Frosch im Kochtopf: Je langsamer die Temperatur steigt, desto weniger spürt der Lurch, dass er gekocht wird.

Die Geschichte atmet hier seitenlang für ihre Leser, King spielt mit der Erwartung seines auf Spuk konditionierten Publikums. Aber er erfüllt sie nicht: Trotzig dreht er ab, wechselt die Richtung, legt falsche Fährten und lässt die elektrisch aufgeladene Atmosphäre so je mehr knistern, je näher er dem unausweichlichen Finale kommt.

Das erlebt Jamie Morton als alter Mann, von einer Aufgabe nicht weniger erfüllt als sein Gegenüber. Die letzten großen Fragen stehen zur Debatte, die Rätsel des Jenseits, der Blick über den Horizont. "Revival" endet, wie Stephen King seine Bücher so gern enden lässt: Der Leser bleibt zurück mit roten Ohren und offenem Mund.

Stephen King: "Revival", Heyne Verlag, 512 Seiten, 22,99 Euro


Dienstag, 31. März 2015

Flake Lorenz: Panorama der Endjahre der DDR

FLAKE - FOTO P.R. BROWN - COPYRIGHT RAMMSTEIN GBR

Christian "Flake" Lorenz, Keyboarder der erfolgreichsten deutschen Band Rammstein, hat seine Lebenserinnerungen aufgeschrieben.

Mit 13 wagt er sich ohne Plan und Können zum ersten Mal auf eine Bühne, mit 17 spielt er in der schrägsten Punkband der DDR und mit 38 segelt er in Konzerten mit einem Schlauchboot regelmäßig über die Köpfe Zehntausender Zuschauer. Dazu dröhnt seine Band Rammstein Dampfhammerrhythmen und Flake Lorenz, der Keyboarder, der von Haus aus ein leidenschaftlicher Blues-Fan ist, lächelt meist selig.

Stürzen, fallen, auf die Nase fliegen? Der Mann, der eigentlich Christian heißt, den alle aber nur "Flake" nennen, ist ein Mensch, der keine Angst vor dem Scheitern kennt. Seit dem Konzert damals in der Schul-Aula sei die Schamgrenze irgendwie nach unten abgesteckt. "Man nimmt aus solchen Erlebnissen trotzdem so viel Positives mit", sagt Lorenz, "man sieht vielleicht für einen Moment blöd aus, aber das Gute überwiegt."
Dass der gebürtige Berliner mit nicht mal 50 seine Biografie geschrieben hat, erklärt er so ähnlich. Flake Lorenz liest gern, er liest viel, er liest sogar Musikerbiografien. "Viele sind so schlecht, dass mich das ermutigt hat, mal zu sehen, woran ich mich erinnere."

Fast 400 Seiten sind es geworden, "ohne dass ich noch mal Leute gefragt habe, ob das alles so stimmt". Flake, von Berufs wegen zu DDR-Zeiten wie alle Keyboarder "Tastenficker" genannt, weshalb auch sein Buch so heißt, kommt es nicht auf die Details seines Lebens an, sondern auf die Zusammenhänge, in denen es steht. "Ich hatte eine wunderschöne Kindheit, wir waren behütet, uns hat es an nichts gefehlt", sagt er.

Schwierigkeiten machen dem Jungen aus dem Prenzlauer Berg nicht das System, sondern der Körper, die Brille, die Unsportlichkeit. Lorenz, der gern Arzt werden möchte, ist anders. Er wird gehänselt, geärgert, in Mülltonnen gestopft. Und entwickelt so seine Strategie gegen alle Formen der Unterdrückung: Er lässt sie leer laufen, er ist wie ein hagerer, bebrillter Boxer, der Schlägen durch Mitgehen ihre Wirkung nimmt.

Flake Lorenz lernt so früh, dass Freiheit nie das ist, was einem jemand anderes gibt, sondern immer nur das, was man sich selber nimmt. "Über viele Sachen habe ich beim Schreiben zum ersten Mal nachgedacht", sagt er, der vor 20 Jahren Mitglied der Rockband Rammstein wurde, die heute als erfolgreichste deutsche Musikformation gilt. Nicht weil sie sich einem Publikumsgeschmack angepasst hat. Sondern weil sie genau das nie tat. "Wir kamen am Anfang völlig ohne Plan zusammen, wir haben einfach zusammen gespielt und das hat sich ganz toll angefühlt." Daraus sei Rammstein geworden, "weil alle das Gefühl hatten, dass etwas Außerordentliches passiert".

Für ihn selbst ist das damals, 1995, nur die logische Fortsetzung eines Weges, den er schon Anfang der 80er Jahre mit der Band Feeling B eingeschlagen hat. Das Trio, zu dem auch Rammstein-Gitarrist Paul Landers gehörte, spielt in der DDR, lebt aber in seiner eigenen Welt. In der gibt es Reisen im uralten Lkw, der als Bandbus dient. Es gibt Frauen, Schnaps und Pogotanz. Es habe ihm das gereicht, was er gehabt habe, sagt der Vater zweier Töchter, der mit der Fotokünstlerin Jenny Rosemeyer verheiratet ist. Er habe nie unerfüllbare Wünsche gehabt, auch nicht die nach Reisen in fremde Länder. "Ich fahre bis heute im Urlaub am liebsten ins Erzgebirge oder an die Ostsee."

Eine Genügsamkeit, an der die Versuchungen des Kapitalismus ebenso abprallen wie es die Drohungen des Sozialismus taten, dem bis heute Lorenz' Sympathien gelten. "Nachtrauern ist nicht das richtige Wort", erklärt er, "aber ich bin nach wie vor der Meinung, dass vieles in der DDR und auch die Grundidee des Sozialismus wirklich gut war." Beim Schreiben habe er viel nachgedacht, "auch darüber, ob ich verrückt bin, weil ich das so verteidige, aber mir tut es eben wirklich um vieles sehr, sehr leid".

Lorenz weiß, dass die Gefahr besteht, zu überziehen. Aber es ärgere ihn einfach, heute von Nachgeborenen erzählt zu bekommen, "wie mein Leben damals war".

In Wirklichkeit so wie das der meisten DDR-Bürger: Wo er Musik gemacht habe, hatten die ihre Datsche, es wurde bei der Arbeit gepfiffen und zusammen gefeiert. "Im Grunde haben die alle genau wie ich an der DDR vorbeigelebt."

Sein Buch ist so weniger Abrechnung mit der DDR als eine Beschreibung der Möglichkeit, doch ein richtiges Leben im falschen zu führen. Widerstand, das war die Sache der Künstlergeneration vor Flakes Feeling B. Die sogenannten anderen Bands der DDR aber, die Ende der 80er überall aus den Probekellern krabbeln, kümmert das kaum noch. Sie scheren sich nicht mehr darum, was der Staat meint, wo die Stasi spitzelt und wie sich Karriere und eigene Integrität miteinander vereinbaren lassen. Man ignorierte nach Kräften, sagt Flake Lorenz: "Mir taten die ganzen Typen von der Stasi leid, die mich überwacht haben und den ganzen Quatsch aufschreiben mussten, wann ich kam, wann ich ging..."

Der Erfolg heute, weltweit Millionen verkaufter Platten, ausverkaufte Tourneen und Preise, bedeutet dem Bluesfan, der Flake immer noch ist, nicht mehr als die Freiheit damals, mit Feeling B auf dem Ostseezeltplatz spielen zu können. Vom Blues hat der ausgebildete Werkzeugmacher gelernt, dass es in der Musik wichtig ist, möglichst viel wegzulassen. Bei manchen Rammstein-Songs hat er deshalb viel gespielt, um am Ende das meiste wieder zu löschen. Das sei wie bei einem Baugerüst, sagt er: Steht das Haus, können die Bauhilfen drumherum wieder weg.

Und das Haus heute ist so viel größer, bunter, beeindruckender. Rammstein ist eine Weltmarke, Deutschlands erfolgreichster Musikexport, eine Live-Sensation. "Aber wenn man die alten Bluesleute hört oder eine Band wie die White Stripes, dann denke ich manchmal, da stehen wir weit drunter", sagt er. Eine Einschätzung, die er auch im Buch niedergeschrieben hat. Ob die Rammstein-Kollegen das auch so sehen? Flake Lorenz lacht. Er wisse es nicht und glaube es nicht. Aber eigentlich sei es ihm auch egal.

"Im Grunde haben die alle wie ich an der DDR vorbeigelebt."
Flake Lorenz über seine Zeitgenossen

MILLIONENERFOLGE


Mit Rammstein verkaufte Flake Lorenz Millionen Alben, er wurde für den Grammy nominiert und gewann zehnmal den Musikpreis "Echo". Die Band pausiert derzeit, im Mai erscheint jedoch ein Album von Lindemann, bei dem Sänger Till Lindemann mit dem schwedischen Multiinstrumentalisten Peter Tägtgren zusammenarbeitet. Auch Gitarrist Richard Kruspe arbeitet derzeit an einem neuen Album seines Nebenprojektes Emigrate, das im Herbst erscheinen soll. Als Autor der eigenen Biografie ist der 48-Jährige gebürtige Berliner allerdings eher ein Mann der leisen Töne: "Der Tastenficker" ist ein nachdenkliches Buch, das ein Panorama der Endjahre der DDR zeichnet, die Christian Lorenz in der Szene der anderen Bands erlebte.

Flake: Der Tastenficker. Verlag
Schwarzkopf & Schwarzkopf,
Berlin, 392 Seiten, 19,99 Euro


Freitag, 27. März 2015

Der lange Tod des Stefan Diestelmann



Eines Tages haben sie doch noch begonnen, nach ihm zu suchen. Die Kollegen von der Band, mit der er mal gespielt hat. Ein paar Fans von früher. Ein Reporter, der einen Film drehen wollte. Sogar eine Facebook-Gruppe entstand, die alle Informationen sammelte. Nur dass es keine Informationen gab über Stefan Diestelmann, den Blues-König der DDR, der seinen letzten Hit vor 30 Jahren hatte und sich nach seiner Flucht in den Westen in einen kleinen Ort in Bayern zurückzog.

Bei seinem letzten Auftritt war ein kleines Boot die Bühne. Stefan Diestelmann, rotes T-Shirt, knappe Shorts, Basecap und Sonnenbrille, war eigentlich längst untergetaucht. „Ich brauche das alles nicht mehr“, sagt der 56-Jährige, ehe er sich hinter das Steuerrad seines Kahnes schwingt. Es ist das Jahr 2003, Stefan Diestelmann lebt im 20. Jahr seit dem großen Ruhm. Ein neues Leben, sagt er. Die CDs, die er gelegentlich noch für sich selbst einspielt, verkauft die Metzgerfrau im Ort, die ihn irgendwann gebeten hat,  doch mal ein paar von den Dingern rauszurücken. „Du machst doch gute Musik“, hat sie ihren Nachbarn gelobt, „die können wir doch dann auch verkaufen.“

Stefan Diestelmann war sich nicht sicher, ob er das wollte. Der Mann, der einmal einer der bekanntesten und originellsten deutschen Bluesmusiker gewesen war, ist nicht frei von Eitelkeiten, keineswegs. „Die CDs waren in kurzer Zeit alle weg“, freut er sich. Man muss dabei bedenken: Diestelmanns Boot schwimmt auf dem Ammersee, mitten in Bayern. Hier war Diestelmann nicht einmal berühmt, als er berühmt war. „Aber es kommen immer Touristen, die staunen, eyho, gucke mal, dor Diestelmann“, lautmalt er auf Sächsisch, „und dann nochn neues Album.“

Das kaufen sie, die alten Fans, die er hinter sich gelassen zu haben glaubte, als er alle Brücken abbrach. Das Datum lässt sich nicht genau bestimmen, es ist irgendwann nach seiner Flucht in den Westen passiert, die eigentlich ein ganz unspektakuläres Drübenbleiben war. Zuerst wohnte Diestelmann noch bei seinem langjährigen Freund und Mitmusiker, dem ehemaligen Lindenberg-Pianisten Gottfried Böttger. Dann zog er nach Unterpfaffenhofen um, ins Haus des Produzenten Ralph Siegel. Aber der habe ihn, sagt, „nicht erzählt, was ich für Scheiße schreiben sollte.“ Er ist dann nicht mher hingegangen. „Und eines Tages war er verschwunden“, erinnert sich Böttger, „und man hat nie mehr von ihm gehört.“

Für einen wie Diestelmann, der Ruhm und Aufmerksamkeit genoss, eine rätselhafte Entscheidung. Doch genau betrachtet war die ganze Karriere, ja, das ganze Leben des gebürtigen Münchners geheimnisumwittert. „Mit 13 hat mich mein Vater in den Osten verschleppt“, erzählt er, während ein Segelboot vorbeikreuzt. Sein vater Jochen Diestelmann ist Defa-Schauspieler, er spielt für Konrad Wolf und Frank Beyer, ein kleiner Star zwar, aber ein Star. Nach dem Mauerbau stellt die DDR dem Mann aus Darmstadt ein Ultimatum: Wer im Osten arbeitet, muss auch im Osten leben. "Da hieß es zack", formuliert Stefan Diestelmann scharf, "ab in den Osten."

Hier ist der kleine Stefan ein Paria, der gemobbt wird. „Ich habe gebayert, sagt er, „und ich wusste, was die uns in der Schule für einen Unsinn erzählen.“ Brot zehn Mark im Westen? Butter fünf? Wenn Lehrer versuchen, klassenkämpferisch korrekten Stoff im Unterricht unterzubringen, schlägt der Wessi dazwischen. „Unsinn“, ruft Diestelmann dann. Nicht nur die Mitschüler mögen ihn nicht, sondern auch die Lehrer.

Es sei ihm „sowas von egal“ gewesen, erinnert er sich. Es war doch sowieso alles Mist, das ganze Leben eine Qual. „Vater schlug zu, Mutter schlug zu“, sagt er, „ich musste diese blöden Lederhosen tragen und durfte nur die Musik hören, die sich mich hören ließen.“ Vater Diestelmann legt zu diesem Zweck eine Lautsprecherbox ins Zimmer des Juniors, die er von außen beschicken kann. „Da gab es Jazz und Blues“, sagt Diestelmann, der lieber Stones, Beatles und Troggs gehört hätte. „Aber das war ja Drecksmusik, Gülle, das durfte nicht sein.“

Diestelmann und der Blues, das ist so etwas wie eine arrangierte Ehe. Jazz und Blues darf er. Und er beginnt, es zu lieben. „Mich hat der Rhythmus angemacht“, beschreibt er, „das war alles so frei in die Welt gesungen, das gefiel mir.“ Diestelmann hat eine Fünf in Musik, aber er spielt BB King und Muddy Waters nach, auf einer Gitarre, die ihm die Eltern geschenkt haben. Er hat keinen Unterrichht. Aber er ist wie dafür geschaffen. "Es war Rhythmus, den ich brauchte", sagt er später, "das Primitive, in dem alles steckt." Mit der Gitarre ist er nun wer. Wenn er singt, empfängt er Bewunderung. Es ist dies das Hochgefühl, dem Stefan Diestelmann von nun an ein Leben nachjagen wird: im Mittelpunkt stehen, der sein, zu dem alle aufschauen.

Der Osten ist für so einen zu klein. Die Stars, die er anhimmelt, mit denen er entschlossen ist, eines Tages zu spielen, die stehen im Westen auf der Bühne. „Ich wollte einfach rüber, zurück nach Hause“, sagt er. Vorsichtige Erkundigungen nach Fluchtmöglichkeiten enden allerdings im Desaster. Diestelmann, so zumindest berichtet er es später gern und oft, kommt wegen versuchter Republikflucht ins Gefängnis. Drei Jahre habe er in einer Besserungsanstalt bei Regis-Breitingen abgesessen. „Ich habe dort Leute sterben sehen“, behauptete er.

Diestelmann überlebt, doch seine Rückkehr ist kein Triumphzug. Er hat Berlinverbot und darf Potsdam nicht verlassen. „Ich habe beim Obsthandel gearbeitet, erst als Unterkistenstapler, dann als Oberkistenstapler.“ Bluestime, die Welt ist schlecht, selbst der Wechsel zur Post, wo er als Telegrambote unterkommt, tröstet nicht. „Ich konnte meine paar Freunde nicht kontaktieren und die wussten nicht, wo ich bin.“

In diesen Jahren habe er begonnen, ganz für sich allein Songs aufzunehmen. Diestelmann arbeitet bei einer Fotografin im Labor, er hat den Traum von einer Karriere begraben, er spielt wieder nur für sich. Bis es an der Tür läutet und der Gitarrist Axel Stammberger vorsichtig nachfragt, ob Diestelmann nicht vielleicht Lust hätte, bei seiner neuen Band vorzuspielen, die einen Sänger und Gitarristen suche. „Die hatte noch gar keinen Namen, aber das waren alles echte Profis“, betont Diestelmann. Er selbst mit seinem „Geschrubbe“, wie er es nennt, kann da nicht mithalten, glaubt er. Er selbst sieht sich als Autodidakten ohne Anspruch. „Ich wollte mich ja immer nur begleiten können, nie ein Virtuose sein.“

Begleiten aber kann Stefan Diestelmann sich wie kaum ein anderer. Er spielt den Blues auf seine Art, wild und ursprünglich, aber auch deutsch bis ins Mark. Es kommt ihm nicht auf Perfektion an, sondern auf Gefühle. Der Herz muss schlagen in der Musik, und sei es, dass er es kitzelt, in dem er mit einer Hand Gitarre spielt und mit der anderen die Mundharmonika führt. „Das fand ich spannend, das haben die Leute gewollt.“ Auch die Kollegen lieben es. Er wird Frontmann von Vai Hu, feiert Erfolge, spürt, was er sein kann. Und geht.

Seine erste Solo-Platte schlägt alle Rekorde. Aus 2000 Exemplaren werden 20.000, aus 20.000 nochmal 75.000 Nachauflage. Die Hallen sind voll. Das Ministerium gewährt ihm „wegen seiner Popularität" den begehrten Berufsausweis. Die zweite LP, „Hofmusik“ genannt, ist dann ein Triumph. Diestelmann ist nun der König des Blues in der DDR, ein vollbärtiger, langhaariger Guru, dem an den Wochenenden hunderte hinterherreisen, wie die Staatssicherheit im Operativen Vorgang „Diestel“ feststellt.

Kein gutes Vorbild für die Jugend, zumal der von sich selbst begeisterte Entertainer längst begonnen hatte, den vermeintlichen Schutz seiner Prominenz zu nutzen, um von der Bühne Witze über die DDR zu machen. Die IMs „Wolfgang Schubert“, „Weiß“ und „Jazz“ schreiben mit. „Und jeden Montag musste ich im Ministerium erscheinen, um mich dort für irgendeinen Spruch zu rechtfertigen.“ Diestelmann ist in Wirklichkeit kein Rebell, kein Dissident. Er ist nur stur und rücksichtslos. Was er dafür hält, ist die Wahrheit. Was andere sagen, interessiert ihn nicht. Er verdient mehr Geld, als er ausgeben kann. Er spielt bis zu 370 Konzerte im Jahr, „manchmal vier an einem Tag“, sagt er. Seine Lieder "Der Alte und die Kneipe" oder der "Reichsbahn-Blues" sind keine Radiohits, aber jeder DDR-Tramper versucht, sie auf seiner Mundharmonika nachzublasen.

Nur er selbst kann sich noch stoppen. Und er tut es. Diestelmann geht ganz an die Grenze, dorthin, wo jeder weitere Schritt das Aus in der DDR bedeutet. Er schmuggelt Gottfried Böttger, den Westdeutschen, in Konzerts. Bundesdeutsche Politiker und ARD-Reporter hängen in seiner Wohnung ab. Er spielt daheim nächtliche Sessions mit dem Amerikaner Harmonica Phil Wiggins, bis die Polizei klingelt. Er diskutiert mit dem neuen Amiga-Chef darüber, ob Blues wirklich eine Musik für die DDR ist. Diestelmann spürt immer nur, was fehlt. Er will im Westen spielen. In den USA mit BB King auftreten. Stattdessen bekommt er Auftrittsverbote, weil er "Jugendliche anzieht, die die Ordnung und Sicherheit gefährden", wie die Stasi schreibt.

Die hat das Idol der herumtrampenden DDR-Jugend allerdings noch nicht ganz abgeschrieben. Während Diestelmann immer fürchtet, „dass sie mit mir die Biermann-Lösung machen“, geht es dem MfS nach Lage der OPK-Akte XV 7032/81 vor allem darum, den unangepassten Sänger auf den Pfad der sozialistischen Tugend zurückzuführen. Man zeigt ihm die Instrumente: Keine Westauftritte, so lange auf der Bühne über die DDR gelästert wird. Diestelmann gibt klein bei. „Ich dachte immer, im Westen spielen, das verdient man, weil man gut ist“, sagt er, „aber die machten einem klar, dass sie das wie einen Preis verleihen, nur an die, wo sie es wollen.“

Als es so aussieht, als hätten sie ihn wieder integriert, ist er in Gedanken schon ausgereist. Jetzt bekommt er den ersehnten Pass, jetzt bekommt er West-Engagements, die er genießt. „Ich war der Star, die Leute haben mich bejubelt“, sagt er über Auftritte in Niedersachsen und Hamburg. Im Westfernsehen trägt Diestelmann eine rote Latzhose, während er mit Gottfried Böttger seinen Boogie Woogie spielt. „An der Garderobe müssen sie noch arbeiten“, sagt danach jemand vom Sender zu ihm.

Diestelmann ist dazu bereit. Er will nicht mehr Ossi sein. „Ich wollte aber vor allem nicht mehr darum bangen müssen, wann sie mir die Genehmigung, in den Westen zu fahren, wieder wegnehmen.“ Vor einem Festival in Hildesheim sagt er niemandem Bescheid, nicht einmal in Andeutungen. 5000 Fans feiern ihn beim Open-Air-Jazz-Festival. Er ist beseelt. Und fährt einfach nicht mehr zurück. Die Stasi löst eine Fahndung nach ihm aus. Stellt sie aber wenig später wieder ein. Begründung: Es sei bekannt, dass der Gesuchte sich nicht mehr in der DDR aufhalte.

Dort, wo Stefan Diestelmann nun ist, wird er nicht glücklicher werden. Die ersten Jahre tingelt er noch, hoffnungsvoll und mit Freunden. „ich wusste, dass ich auf einem anderen Niveau weitermachen muss“, sagt er, „aber ich hatte keinen Zweifel, dass ich weitermachen kann.“ Doch nach Anfängen mit Auftritten in Köln und München hadert der begnadete Improvisationskünstler mit sich. Der Westen bietet ihm Cafés statt Konzerthallen. Er ist Vorprogramm statt Hauptperson. Der wichtigste Blues-Mann der DDR wird zum Freizeitkapitän, der sein Boot über den Ammersee steuert und behauptet, die Musik gar nicht zu vermissen.

Er habe dann lieber Werbefilme für Hotels gedreht, sagt er. Ägypten, Teneriffa, die feinsten Adressen. „Und immer das modernstes Equipment“, schwört Diestelmann, der einmal sogar von Ägyptens Diktator Mubarak berufen worden sein will, eine zweiwöchige Landbereisung zu dokumentieren. „Leider musste ich das Rohmaterial anschließend komplett abgeben.“

Diestelmann behauptet in jenen späten Tagen am Ammersee, sehr glücklich zu sein. Er ist immer noch ein großer Geschichtenerzähler, ein Mann, der abendliche Runden ganz allein unterhalten kann. Er hat ein Mündchen für Dialekte, er hat ein Ohr für Dynamik, ein Gefühl für Pointen. Er erzählt, wie er Mariah Carey und Bruce Willis kennengelernt habe, wie er für Antonio Banderas Lieder schrieb und „viel Geld“ verdiente. Die Giesing zieht vorbei, ein großer, neuer Dampfer. „Der ist dauernd kaputt“, sagt der Freizeitskipper.

Diestelmann spricht viel von früher. Er macht Witze. Er macht keine Musik mehr. Oder nur noch manchmal, so ganz klar ist das nicht. Gelegentlich, sagt er, spiele er schon noch. Aber nicht mehr als Beruf, nur noch als Berufung. Wenn Touristen aus dem Osten ihn erkennen und fragen, warum er denn nicht mehr auftrete und wo eine neue Platte bleibe, lässt er sie wissen, dass die Musik ihm zu wichtig sei, "dass ich sie als Broterwerb betreiben will".Sein Blick auf die Ex-Kollegen ist ein harscher, fast böser: Die machen immer alle immer weiter, die ahben keine Würde, abzutreten, ätzt er: „Selbst wenn es längst nötig wäre.“

Er selber ist weg, weg von der Bühne, weg aus der Öffentlichkeit. Hinter dem Dreitage-Bart, der vom einstigen Kinngestrüpp geblieben ist, pflegt Diestelmann den Nimbus des Total-Aussteigers. Kein Blues mehr, kein Applaus und keinerlei Kontakte. „Er hat sich auch der Familie entzogen", erinnert sich sein Onkel Jürgen Diestelmann später.

Eine Nachbarin, die nicht weiß, wer er ist, hört ihn in diesen Tagen manchmal Saxophon spielen. "Aber das ist auch schon lange her", wird sie später erzählen. Sein Vermieter ist der letzte Mensch, der weiß, dass da der Blues-König des Ostens zu hören ist. Stefan Diestelmann stirbt an einem Tag im März des Jahres 2007. Sein Arzt, der gleichzeitig sein Nachbar und letzter Freund war, bittet um Respekt für den Wunsch des Toten, dass weder bekannt werden soll, woran er gestorben ist, noch, wo der König des Blues begraben liegt.

Das ist fünf Jahre später, als zum ersten Mal jemand fragt.



Sonntag, 8. März 2015

Karl-Hans Janke: Der Mann aus der Zukunft


In der DDR weggesperrt, erfand das wunderliche Genie Karl-Hans Janke in der Psychiatrie im sächsischen Wermsdorf eine ganz eigene Welt aus futuristischen Maschinen. Würden sie funktionieren?

Hitler war noch nicht lange Reichskanzler, der 2. Weltkrieg noch ein dunkles Drohen hinterm Horizont. Bei Karl-Hans Janke aus Kolberg in Pommern aber, Sohn eines Bauern und als Student in Berlin und Greifswald gescheitert, hatte die Zukunft angefangen: 1936, Janke war 27 Jahre alt, reichte er beim Markenamt in München einen Patentantrag ein, der ganz genau ein Instrument beschreibt, das mehr als ein halbes Jahrhundert später unter dem Namen Navigationsgerät seinen Siegeszug rund um die Welt antreten wird.


Karl-Hans 
Janke erlebt die Wiedergeburt seines ersten Patentes aus dem Geist einer neuen Zeit nicht mehr mit. Er wird den größten Teil seines Lebens hinter den Mauern der psychiatrischen Klinik im sächsischen Wermsdorf verbringen und 1988 einen stillen, einsamen Tod sterben. 50 Jahre, nachdem ihm das Patent für das Prinzip des Navigationsgerätes erteilt wurde. Und 15 Jahre, bevor die ersten Navis für Privatanwender erschwinglich wurden.

Es ist die große Tragödie eines großen Geistes, der seiner Zeit so weit voraus ist, dass ihn zeitlebens niemand verstehen kann. 1949, als Janke mit einem selbstgemalten Plakat dagegen demonstriert, dass es nicht genug Spielzeug für Kinder gibt, fällt er den Behörden zum ersten Mal auf. Ein Amtsarzt stellt bei dem 40-jährigen Spielzeugmacher Mangelernährung und Anzeichen von Verwahrlosung fest. Janke landet in der geschlossenen Abteilung der Klinik im Schloss Hubertusburg. Die Diagnose lautet auf Schizophrenie. Diese zeige sich vor allem in "wahnhaftem Erfinden".

Doch auch hinter den Mauern der Verwahranstalt für geistig Kranke, in der eine Handvoll Ärzte mehr als 900 Patienten eher beaufsichtigt als behandelt, hört der Mann aus der Zukunft nicht auf, epochale Erfindungen und revolutionäre Technologien auf Einpackpapier und alte Pappen zu zeichnen. Seine futuristischen Raketenflugzeuge, die er "Trajekte" nennt, sehen aus wie heute das Space Shuttle. Himmelhohe Turbinen lässt er Energie aus dem Erdmagnetfeld saugen, seine "Impuls-Strahl-Triebwerke" schaffen auf dem Papier mit Hilfe von "Blitzdüsen-Elektroden" zwei Millionen Watt Leistung. Pflegern und Ärzten der Klinik gilt Janke  als "anders als die anderen". Man lässt ihn zeichnen, er darf Vorträge über seine Erfindungen vor dem Personal halten und Material aus den Werkstätten benutzen, um Modelle seiner Raketenflugzeuge zu bauen.

Janke kämpft für die Ideen, die ihm aus einer unerschöpflichen Quelle zusprudeln. Er schreibt lange Briefe an Behörden und Betriebe, meldet Patente an, korrespondiert mit dem Neuererwesen und bittet immer wieder um seine Entlassung, um sich ganz der Forschung widmen zu können. Denn so lange er in Hubertusburg eingesperrt ist, das ist ihm klar, wird niemand seine Flugzeuge testen und keiner seinen in den 50ern entworfenen Tintenkugelschreiber bauen. Der übrigens aufs Haar dem gleicht, den der Amerikaner Paul Fisher 1965 erfinden wird, als die US-Weltraumbehörde Nasa einen weltalltauglichen "Space Pen" sucht.

Denn immer, wenn es Karl-Hans 
Janke geschafft hat, in einem volkseigenen Betrieb Interesse zu wecken oder einen Termin beim Patentamt zu bekommen, fällt seine Wohnadresse auf: Eine Irrenanstalt. Termine werden abgesagt, versprochene Test abgeblasen, die Erteilung von Patenten abgelehnt.

In einer Kammer unter dem Dach, die ihm als Refugium dient, zeichnet der Visionär dennoch weiter Weltraum-Schiffe mit "Gyro-Kreisel-Aggregaten" und elegante Miniroller, wie sie heute durch die Innenstädte aller Metropolen schnurren. Der DDR-Fluggesellschaft "Interflug" macht er sein Raumschiff "Venusland" zum Geschenk, seinem "reaktiven Strahl-Kessel-Antrieb" attestierte er, "ohne radioaktive Auswurf-Stoffe" auszukommen. 
4 500 Zeichnungen produziert Janke in knapp 40 Jahren unermüdlicher Forschungsarbeit, dazu kommen zahlreiche Modelle und Aufsätze zu philosophischen Themen. Seine Planzeichnungen, deren künstlerische Ausführung an die Skizzen Da Vincis erinnern, lässt sich der Erfinder in Ermangelung anderer Möglichkeiten stets von Ärzten mit Datum gegenzeichnen und stempeln, um seine Urheberschaft so bezeugen zu lassen.

Seine letzten Jahre verbringt Janke pflegebedürftig im Bett. Mit seinem Tod gerät auch sein Name in Vergessenheit, sein Werk ist verschollen. Erst 12 Jahre später werden bei Sanierungsarbeiten 2 500 Zeichnungen in Obstkisten auf dem Dachboden des Schlosses Hubertusburg gefunden. Ein Verein kümmert sich seitdem um den Nachlass des Visionärs aus Sachsen. Dessen Ideen haben ihren Urheber überlebt. Ihre ganz große Zeit aber wird vielleicht erst noch kommen.

Alles zum einzigartigen Werk des genialen Irren steht hier

Dienstag, 24. Februar 2015

Halle: Biber auf der Peißnitzinsel

Die einzige konkrete Sichtung der letzten Jahre stammt vom Hufeisensee, eine halbe Stadt entfernt von der Peißnitzinsel in der Mitte zwischen Halle und Halle-Neustadt. Doch die Spuren an einem Baum auf der unter Naturschutz stehenden Nordspitze des früheren Erholungsparkes lassen kaum Zweifel: Auch auf dem vielbesuchten Inselchen leben Biber.

Spaziergänger staunen, wenn sie sehen, wie energisch eines der Tiere einen voluminösen Baum an einem Saale-Seitenarm bearbeitet. Der Nager ist nicht allein. Nach Aussagen von Peter Ibe vom Biosphärenreservat Mittlere Elbe in Dessau-Roßlau, das als sogenannte Landes-Referenzstelle für Biberschutz fungiert, sind in der Saalestadt insgesamt neun Biberreviere bekannt, darunter die Saale-Elster-Aue und eben der Hufeisensee. Es lebten "immer mehrere Tiere in einem Revier", sagt Ibe. Im Schnitt seien es drei.

Bei den bis zu einen Meter großen Nagern handele es sich um den Elbebiber, lateinisch Castor fiber albicus. Die Art war einst vom Aussterben bedroht, wurde aber an der Mittelelbe in den vergangenen Jahren mit Erfolg wieder angesiedelt. Von dort breiten sich die Tiere nun entlang der Saale und der Elster weiter aus. An der oberen Saale in Thüringen wurden schon vor einiger Zeit wieder Biber entdeckt - erstmals seit 400 Jahren. Jetzt scheinen die Tiere auch mitten in Halle angekommen zu sein.

Freitag, 13. Februar 2015

Gundermann: Immer wieder wächst das Gras

Matt Sweetwood hat eine Doku gedreht, während Stoppok, Konstantin Wecker, Christian Haase, Tino Eisbrenner und ein ganzen Haufen anderer sich daran gemacht haben, ein Album mit Coverversionen der Lieder von Gerhard Gundermann einzuspielen. Man muss da nicht mit jedem Ton einverstanden sein, aber die Idee ist die Umsetzung allemal wert. Das Album soll übrigens nicht käuflich zu erwerben sind, sondern an Bibliotheken verschenkt werden. Per Crowdfunding sollen Fans später Alben bekommen können.

Dienstag, 3. Februar 2015

Mit Silberjodid: Reisebüro bietet blauen Himmel auf Wunsch

Als der Autovermieter Sixt den angeblichen Ex-NVA-Piloten Sandro Wolf ausschickte, um vermeintlich viel zu häufige Regenwolken über dem Süden Sachsen-Anhalts mit Hilfe von alter sowjetischer Wettertechnologie wegzubomben, war das nur ein Witz.

Die beiden Briten Ravi Sabharwal und Oliver Bell aber meinen es nun ernst. Ihr auf Luxusurlaub spezialisiertes Reisebüro Oliver’s Travel bietet jetzt auch die Möglichkeit an, für eine Hochzeitsfeier, die Party zum 70. oder jede andere Gelegenheit zum edlen Schloss an der Loire oder dem feinen Château in der Dordogne bestes Wetter nach Wunsch hinzuzubuchen. Für schlappe 132 000 Euro geben die Traumreise-Experten eine Wunschwetter-Garantie per Cloud Bursting: Metereologen und Piloten injizieren dazu Silberjodidteilchen in die Wolken, die so veranlasst werden, abzuregnen, ehe sie die Feier stören können.

Eine Methode, die auf den US- Meteorologen Vincent Schaefer zurückgeht, aber erst am Moskauer Institut für atmosphärische Technologie praxistauglich gemacht wurde. Damit Stalin bei Mai-Paraden nicht nass wurde, sorgten Silberjodid-Flieger für klaren Himmel. Später ließ auch Wladimir Putin die Feier zum 60. Jahrestag des Sieges von Cloud-Bursting-Bombern trockenlegen.

Die Technik ist also bewährt, nur die Rechtslage in der EU unsicher. Während Sabharwal und Bell über Frankreich schon nach Herzenslust Sonnenschein säen dürfen, tun sich andere Länder schwer. Großbritannien und Italien sollen zwar bald folgen, in Deutschland aber muss weiter auf Sandro Wolf vertrauen, wer sich schönes Wetter wünscht.

Dienstag, 27. Januar 2015

Ello.co: Neues Netzwerk fordert Facebook


Ello will mit Sicherheit und Eleganz zur Konkurrenz werden.

Noch ist der Neuling im Beta-Status und nur auf Einladung zu besuchen. Aber wer hinter die noch verschlossene Tür schaut, findet eine Seite, die sich grundsätzlich von der überladenen, mit Werbung zugemüllten und von allerlei rotblinkenden Benachrichtigungen gekennzeichneten Facebook-Seite unterscheidet.

Ello, im Internet unter der griffigen kolumbianischen Adresse ello.co zu erreichen, ist sauber, klar strukturiert und besteht aus nicht viel mehr als ein paar weißen und ein paar schwarzen Kästchen. Zwei Grundeinstellungen gibt es: "Freunde" und "Lärm" - je nachdem, welche gewählt wird, liest der Nutzer ausschließlich die Eintragungen seiner Bekannten, die ähnlich wie bei Facebook und Twitter ausgewählt und bestätigt werden müssen. Oder alles, was irgendwer gerade irgendwo veröffentlicht.

Das neue Netzwerk, von Paul Budnitz aus dem US-Bundesstaat Vermont als Diskussionsforum für nicht einmal hundert Künstlerfreunde gegründet, verzichtet generell auf eingeblendete Werbung. Für Budnitz, einen 47-Jährigen, der früher Fahrräder designte, ein konsequenter Schritt. Das Internet ersticke an Werbebannern, Facebook etwa, kritisiert er, sei kein soziales Netzwerk, sondern eine reine Werbeplattform. Zur Zeit, so glaubt er, akzeptierten das die Nutzer noch. Und eines Tages, glaubt er, "wird die Frage sein, wie viel Werbung erträgst Du, ehe du abschaltest?"

Dann soll Ello da sein, eine Alternative, die neben dem dauerhaften Verzicht auf Reklame auch erklärt hat, sie werde weder Beiträge zensieren noch die persönlichen Daten von Nutzern sammeln und verkaufen. Finanzieren soll sich die Plattform durch Extra-Angebote wie Apps, die für kleine Beträge von ein, zwei Dollar an Mitglieder verkauft werden. Ello ist zur Zeit im Beta-Status und nur per Einladung zu betreten.

Um eine Einladung zu bekommen,
einfach eine Mail senden

Montag, 26. Januar 2015

Hitchbot: Trampen nach Osten


Der Anhalter-Androide Hitchbot besucht sein Mutterland.

Sechstausend Kilometer hat er im vergangenen Jahr quer durch Kanada zurückgelegt, ohne einen Schritt selbst zu gehen. Das nämlich kann Hitchbot nicht - die aus einem Kübel, Gummistiefeln und einem Tablet-Computer zusammengeschraubte Figur ist ein Tramp-Roboter, zu nichts anderem gedacht, als von Wildfremden mitgenommen zu werden.

Nach dem Trip durch Kanada besucht der Android-Anhalter jetzt das Heimatland seiner Mutter. Frauke Zeller studierte im thüringischen Ilmenau und ging dann an die Ryerson-Uni in Toronto, wo sie Hitchbot mit einem Kollegen zusammen als interaktives Kunstprojekt entwarf, um herauszufinden, wie Menschen im Alltag auf Roboter reagieren. Durchweg positiv, zumindest in Kanada, die Deutschen sind nun ab Mitte Februar für zehn Tage dran.

Der Test-Tramper macht es ihnen leicht: Bis auf Gehen kann Hitchbot fast alles, was ein Tramper braucht: Er hat einen beweglichen Arm, um guten Tag zu sagen, er spricht in ganzen Sätzen und vermag einem Gespräch auch inhaltlich zu folgen. Dazu googelt Hitchbot einfach nach passenden Inhalten.

Das tonnenförmige Wesen, inzwischen von oben bis unten von seinen Fans bemalt und beschrieben, wird hierzulande von einem Fernsehteam begleitet, das täglich von seiner Reise berichten wird, die in München startet. Dabei schießt Hitchbot wie üblich selbst Fotos und lädt sie ins Internet, so dass die Welt seine Reise verfolgen kann. Fast hunderttausend Fans hat der Roboter bei Twitter und Co. bereits, in Deutschland werden sicher etliche neue hinzukommen.

Die ganze Reise live:
hitchbot.me

Donnerstag, 22. Januar 2015

An der Wiege der Kriege

Ein Grund, Krieg zu führen oder Anschläge zu verüben, findet sich immer: Eine unterdrückte Religion wehrt sich, eine benachteiligte Volksgruppe will Freiheit oder die Armen stehen wütend auf gegen Ungerechtigkeit und Unterdrückung. So zumindest erzählt es das gefühlte Wissen über die Geschichte.

Falsch, sagt der Bremer Zivilisationsforscher Gunnar Heinsohn. Er sieht die Ursache für bewaffnete Konflikte und Terrorismus vielmehr in einem Phänomen, das auf Englisch "Youth Bulge", übersetzt also etwa Jugendblase heißt. Heinsohn beschreibt mit diesem Begriff "im Inneren brennende Nationen", die unter einer so gewaltigen Bevölkerungsexplosion leiden, dass zahllose dritt- und viertgeborene Söhne keinerlei Karrierechance innerhalb der Gesellschaft haben.

Den Irak etwa identifiziert der Chef des Bremer Instituts für Genozidforschung in seinem Buch "Söhne und Weltmacht" (Piper) als ein Land, das unter diesem Ohnmachtsdruck von unten leidet. 1950 lebten fünf Millionen Menschen zwischen Euphrat und Tigris, 2050 werden es bereits 55 Millionen sein. Auch im Jemen, in dem die Hälfte der heutigen Bevölkerung unter 15 Jahren alt ist, werden in den kommenden Jahrzehnten Millionen von jungen Männern nach Beschäftigung suchen. Weiteren hundert Ländern vor allem der Dritten Welt steht eine ähnliche Entwicklung bevor - Mitte des Jahrhunderts werden auf je zwei Jungen in Ländern des Westens etwa 25 Jungen in den Entwicklungsländern kommen.

Die suchen nach einem Platz in der Welt, nach Lebenschancen und Entwicklungsmöglichkeiten. Sie wollen Familien gründen und sie ernähren können. Doch die Zahl der auskömmlichen Positionen wächst nicht im gleichen Maße wie die Zahl der nachkommenden Jungen.

Die überzähligen Männer, erläutert Heinsohn anhand von Beispielen aus der Historie, ziehen also aus, sich anderswo Platz zu erobern: Länder mit "Youth Bulges" waren in der Geschichte immer aggressiv. Die jetzt aufbrandende Sohneswelle aber ist größer als alles, was es bisher gab: Während die entwickelte Welt bei der Gesamtbevölkerung noch ein gutes Fünftel der Menschheit umfasst, wird ihr Anteil beim Nachwuchs in wenigen Jahren auf ein Zehntel gefallen sein.

Die Kriege der Zukunft, glaubt der Forscher, werden deshalb keine der Kulturen, sondern Kämpfe um akzeptable Positionen sein, die sich als Konflikte zwischen verschiedenen Kulturen und Religionen tarnen. Einen Grund zu Beruhigung sieht der Experte darin nicht.

Sonntag, 18. Januar 2015

Return to Peeze: Großes Comeback im kleinen Saal

Die hallesche Band Return to Peeze wird im ausverkauften Objekt 5 begeistert gefeiert.

Sie sind die großen Unbekannten unter Halles Rockbands, die vier Jungs von Return to Peeze. Eine einzige Studio-EP haben sie in 16 Jahren Bandexistenz veröffentlicht, Konzerte gibt es nur aller Jubeljahre, auch die vier Musiker treten abseits der Bühne allenfalls mal als Mitmusikanten einer Hardcore-Combo auf. 18 Monate ließ die Band, deren Mitglieder sich in der Öffentlichkeit nur Kretze (git, voc), Nose (git), Rappsen (dr) und Pademmer (bg) nennen, diesmal verstreichen, ehe sie wieder eine Bünhe betraten. Das langerwartete erste Studioalbum hatten sie dann beim Comeback-Auftritt im Objekt 5 zwar immer noch nicht im Gepäck. Aber der Klub in der Seebener Straße war dennoch binnen kürzester Zeit ausverkauft.

Was beim Vorprogramm des halleschen Singer/Songwriters Kahler noch wie ein Klassentreffen der einheimischen Szene wirkt, weil mit Cornelius Ochs von Baby Universal, Christian Sorge und Felix Hecklau von Cocoon Fire alles angetreten ist, was in Halles Rock Rang und Namen hat, wird mit dem ersten Ton von Return to Peeze zu einer echten Rock-Messe. Schwermetallische Gitarrenriffs treffen auf Kretzes Filigrangesang, der an Gruppen wie Muse, Placebo oder auch an Jeff Buckley erinnert. Return to Peeze sind keine Hymnenband, die nach dem einfachsten Weg zu einer einprägsamen Melodie suchen. Stattdessen stricken sie komplexe Soundgebilde zusammen, rhythmisch ist vieles im Fluss, Strukturen verändern sich, ein Song kann als Ballade beginnen und als tobendes Klangmonster endet.

Begleitet von einer beeindruckenden Lichtshow spielen sich die vier Musiker im Objekt in einen Rausch. Sänger Kretze verzichtet durchweg auf Ansagen, ein Song ergibt sich automatisch aus dem vorigen. Zwischen eigenen Dampfhammerstücken wie "Somebody somewhere" und dem Rolling-Stones-Cover "Gimme Shelter" entwickelt sich so ein hochemotionaler Konzertabend mit verschüttetem Bier, verschwitzten Tänzern vor der Bühne und begeistertem Applaus am Ende. Sänger Kretze kommt schließlich noch einmal ganz allein zurück und singt solo zur Gitarre das leise, langsame Lied "Take back the rainy days". Ein perfekter Abschluss.

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Donnerstag, 15. Januar 2015

Tagesschau: Verschwörer am Werk

Am Tag nach dem Auffliegen der Inszenierung der Symbolfotos vom Auftritt der Staatsspitzen beim Trauermarsch in Paris räumten große Nachrichtenagenturen ein, dass die gewählte Bildauswahl zu Missverständnissen einlud. Die Spitzenpolitiker waren nicht etwa an der Spitze der Demonstration gelaufen, sondern allein durch eine Straße weitab vom Platz der Republik. Erst gezielte Bildausschnitte und die Kombination von zu unterschiedlichen Zeiten an verschiedenen Orten angefertigten Videos hatten den Eindruck erweckt, Angela Merkel und die anderen Staatschefs seien Teil der Menschenmenge gewesen.

Die Wogen schlugen hoch. Vom „Independent“ über den „Spiegel“ bis zu MZ und „taz“ mühten sich Zeitungen, den falschen Eindruck geradezurücken. Nicht so Tagesschau-Chef Kai Gniffke. Dessen Redaktion hatte am Sonntagabend eine halbe Minute lang Videomaterial vom vermeintlich gemeinsamen Marsch der Politiker und der Bevölkerung gezeigt, dabei aber nicht erwähnt, dass beide Veranstaltungen getrennt voneinander stattgefunden hatten.
Auf Tagesschau.de nennt Gniffke, der seit 2006 Chef von ARD aktuell ist, den Vorwurf, die Zuschauer damit manipuliert zu haben, eine „wilde Verschwörungstheorie“.

„Wenn sich Politiker vor eine Kamera stellen, ist das immer eine Inszenierung, jede Pressekonferenz ist eine Inszenierung“, schreibt er - ohne zu erwähnen, dass das bei Pressekonferenzen stets erkennbar ist, beim Auftritt der Staatsführer in Paris hingegen nicht. Dafür verweist der oberste ARD-Journalist auf die Live-Übertragung am Nachmittag. Dort sei gezeigt worden, dass die Politiker in einer abgesperrten Straße unterwegs waren.

Pech für alle Zuschauer, die keine Zeit für die Live-Sendung hatten. Und die nicht wissen, dass „die Polizei den Job verfehlt hätte, wenn sie die Leute fröhlich gemischt hätte“. Für Kai Gniffke ist die Szene in Paris einfach „eine gute Geste“ gewesen. Außerdem hätten die Kameramänner eben keinen Hubwagen gehabt. Ohnehin zeige kein Foto die Realität, und so eben auch die hier entstandenen nicht.

Der Medienkritiker Stefan Niggemeier kritisierte Gniffke dafür scharf. Der Tagesschau-Chef werfe „Nebelkerzen“, um zu verbergen, dass seine Redaktion die Menschen „eben nicht in einer Weise informiert hat, die verhindert hätte, dass eine erhebliche Zahl von ihnen sich in die Irre geführt fühlte“. Wichtig sei nicht, dieses Versagen damit zu entschuldigen, dass ohnehin alles Inszenierung sei. Sondern das Gegenteil: „Je häufiger Medien diese Inszenierungen kenntlich machen, umso größer ist ihre Chance, auch in Zukunft noch als glaubwürdig zu gelten.“ Gestern ruderte Kai Gniffke daraufhin zurück. „Viele User haben sich an meinem bellenden Ton gestoßen“, schrieb er nun, „ich fürchte, mit Recht.“ Doch in der Sache bleibt er hart: Die Staatsmänner seien dem großen Zug schließlich wirklich vorangegangen. „In dem Bericht in der Tagesschau um 20 Uhr war der Sicherheitsabstand nicht zu sehen, weil er normal ist."

Montag, 12. Januar 2015

Frank Mylius: Der Paul Potts von Halle


Er heißt Frank Mylius, ist schon mal fast bei Dieter Bohlen gewesen, wurde aber nicht zur Endrunde eingeladen. Deutschland ist so die Gelegenheit entgangen, seinen eigenen Paul Potts zu entdecken. Spaß am Singen hat Frank Mylius allerdings immer noch - und so zieht der Hallenser gelegentlich abends durch die Kneipen und singt.

Das gibt es nur in Halle, denn Frank Mylius ist kein Gitarrenschrammler und kein bärtiger Neo-Folkie, sondern ein genauso unscheinbarer Kerl wie der Brite Paul Potts, der mit einer ähnlichen Stimme singt und Millionen damit rührt. Plötzlich und ohne Ansage pflegt der kleine Mann seinen Tenor zu erheben, er singt dann klassische Oper-Arien, aber auch Sinatras "My Way" oder "You raise me up", im Original eine Baukasten-Ballade der Teenie-Band Westlife.

Bei Frank Mylius wird das alles zu großer Oper, leicht geknödelt und am späteren Abend auch mal ein bisschen verhustet. Spaß aber hat er, der Tenor, der am Biertisch sitzt, aber selbst nur selten Bier trinkt. Lieber singt er, lieber genießt er den Applaus, den es reichlich gibt. Denn Spaß hat auch sein Zufallspublikum, zumindest ab dem Augenblick, in dem sich herausstellt, dass die Befürchtung, Mylius' Gesang sei eine neue Variante von "Wolle Blume kaufen", grundlos ist. Der kleine Mann mit der großen Stimme will kein Geld. Er freut sich einfach nur, wenn sich alle um ihn sich mit ihm freuen.

Zum Youtube-Kanal von Frank Mylius

Mittwoch, 7. Januar 2015

Neil Young präsentiert den Pono-Player

Über Jahre hat Altrocker Neil Young davon geträumt, davon geschwärmt und daran getüftelt. Jetzt wird sein über die Crowdfunding-Plattform Kickstarter finanzierter Pono-Player wirklich gebaut - und ab kommender Woche auch verkauft. Das Gerät soll die nach Ansicht von Young miserable Klangqualität von herkömmlichen mobilen Musikabspielgeräten in die Mottenkiste der Musikgeschichte verbannen und echten Fans wieder Gelegenheit geben, Musik so zu hören, wie sie früher klang.

Anfangs hatte Neil Young noch auf Einsicht bei Apple und Co. gehofft. Doch als die Hightech-Konzerne begannen, lieber mit Hilfe teurer Kopfhörer nachträglich am Klang zu bauen als die Ausgangsdateien so aufzubohren, dass Klanggenießer nicht weinen davonlaufen, griff Young zur Selbsthilfe. Im März startete er eine Geldsammel-Kampagne, um ein Abspielgerät mit hoher Audio-Qualität zu entwickeln.

Zusammen mit einem eigenen Download-Dienst will er damit die Musikbranche revolutionieren. Der Prototyp des Pono-Players ist dreieckig, er hat nur drei Tasten, aber 64 GB Speicherplatz, die mit Musik im reduktionsfreien flac-Format gefüllt werden können. Die Nachfrage scheint riesig, denn Young erreichte das Finanzierungsziel binnen eines einzigen Tages. Mit den inzwischen gesammelten sechs Millionen soll der kleine Klanggigant in die Serienproduktion gehen.

Inzwischen kann der Walkman 5.0 vorbestellt werden - Kostenpunkt: stolze 399 US-Dollar.

Neil Youngs Ausritt auf E-Gitarren
Neil Youngs Flirt mit dem großen Orchester
Neil Youngs Besuch in der Telefonzelle